Einem schönen Mädchen unter sein Bildnis

[100] Wo sah ich das doch schon einmal?

Dies zart und liebliche Oval,

Die großen Augen tief und klar,

Dies bogenfeine Lippenpaar

Und diesen Strudel Lockenhaar?


Wo, wo? Und plötzlich seh ichs licht:

In Form und Farben ein Gedicht,

Das Botticellis teure Hand

Gedichtet auf die Leinewand.


Stand lange in Florenz davor,

Mich ganz in Schauens Lust verlor,

Andächtig zu der klaren Kraft,

Die uns in Schönheit Tröstung schafft.
[100]

Denn aller Schönheit höchste Huld

Ist Trost und Stille und Geduld.

Wer recht zu sehen weiß, der spürt

Sein Herz von Schwingen angerührt,

Die himmelher und heilig sind.

Ihr Wehen ist so lieb und lind

Wie Mutteratem über der Wiegen;

Du fühlst dich eingebettet liegen,

Liebeingefriedet wie ein Kind.


Dem Meister, der so hohes gab,

Legt Dankbarkeit den Kranz aufs Grab;

Der Schönheit, die ins Leben blüht,

Naht sich mit Wünschen das Gemüt:


Sei nicht bloß Schenkerin –: Beschenkte auch!

Im eignen Innern wohne dir der Hauch,

Den Schönheit atmet: Friede sei dein Teil!

Du lieb Gesicht, halt deine Seele heil!


Quelle:
Otto Julius Bierbaum: Irrgarten der Liebe. Berlin/Leipzig 1901, S. 100-101.
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Der Neubestellte Irrgarten Der Liebe: Um Etliche Gaenge Und Lauben Vermehrt, Verliebte Launenhafte, Moralische Und Andere Lieder, Gedichte U. Sprueche . Bis 1905. 1 Bis 6 Tausend. (German Edition)