Eine Erinnerung

[160] Frühling wars; ich war auf einem Kirchhof.

Saß auf einem Grab ein blondes Mädchen,

Hatte blaue träumerische Augen;

Einen Fliederzweig hielt sie in Händen,

Ihre Augen gingen in den Himmel,

Und es leuchteten die blauen Augen.


Irgendwo einmal schon sah ich diese

Wunderschönen träumerischen Augen,

Und ich sinne: wo?

Da hör ichs klingen

Wie Klavier in einem Tingeltangel.

Und ich sehe auf dem Gauklerbrette,

Seh im kurzen Kleid ein Mädchen tanzen,

Und sie singt dazu mit dünnem Stimmchen

Schrill ein Lied: Nur einmal blüht im Jahr der

Mai.
[160]

War so blond, blauäugig jene Tänzerin

Wie das Mädchen mit dem Fliederzweige

Aber ihre Wangen trugen Schminke,

Und es lagen wie geduckte Schlangen

Schwarze Ringe um die blauen Augen.


Jenes Mädchen starb in meinen Armen,

Krank und elend, aller Lüste müde,

Ihre Lippen preßten sich im Schmerze,

Die so heiß geküßt und süß gelächelt.


Aber als sie starb, da gingen ihre

Blauen Augen leuchtend in den Himmel,

Und ich dankte tief in meinem Herzen

Ihrem Heiland Tod, daß er sie löste.

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .


Sieh, das Mädchen mit dem Fliederzweige

Ist gegangen.

Dank für die Erinnerung,

Die mir deiner blauen Augen Leuchten

Gütig schenkte!

Durch die Trauerweide

Geht ein Wehn: Nur einmal blüht im Jahr der

Mai.


Quelle:
Otto Julius Bierbaum: Irrgarten der Liebe. Berlin/Leipzig 1901, S. 160-161.
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Der Neubestellte Irrgarten Der Liebe: Um Etliche Gaenge Und Lauben Vermehrt, Verliebte Launenhafte, Moralische Und Andere Lieder, Gedichte U. Sprueche . Bis 1905. 1 Bis 6 Tausend. (German Edition)