Farben

[118] Auf dem Moose mein Kopf,

In den Himmel mein Blick,

In die Himmelsbläue durch Blättergrün,

In die klare, stille, unendliche Welt

Der leuchtenden Luft.[118]

Wie im Märchen, gebannt

Zu schweigendem Schlaf,

Starr stehen die Bäume.

Kein Wipfel rauscht,

Es schaukelt kein Blatt,

Kein Vogel hüpft

Von Zweig zu Zweig,

Von keinem Zweige

Klingt Vogelgesang.


Dem schönheitsoffenen Auge allein

Gehört diese stumme, lebendige Welt.

Des Himmels Blau,

Der Blätter Grün,

Der Stämme und Aeste Schwarz-Grau-Braun:

Sie leuchten ein Lied in den lauschenden Blick,

Wohl lautlos, still, doch voll Harmonie

Und lebenden Glückes voll, das fest

Im Herzen haftet, wie ein Gesang,

Der leise später aus Herzensgrund

Erinnerungsmelodien herauf

In flatterndem Schwellen erklingen läßt.


Du sinnst und fragst: Wo kamen sie her?

Wo klangen sie einst sich

Ins Herz mir ein?

Und lauschst dem Lied aus der eigenen Brust,

Und tauchst hinab in des Glückes Tiefen,

Aus denen geheimnisdämmerweich

Der süßen Töne Erinnerung quillt ...[119]

Wo klang so voll und zart in Eins

Das Himmelsblau,

Das Blättergrün,

Von wechselndem Grau dumpf untertönt?


Die stumme, leuchtende Melodie

Drängt tief ins Herz:

Ich fühle, einst

Klingt sie herauf

In farbenleerer, dunkler Zeit.


Mein Auge, trinke, trinke die tönende, leuchtende Flut,

Sauge, sauge sie ein, oh Herz,

Waffne, rüste mit Schönheit dich

Gegen die Finsternis!

Quelle:
Otto Julius Bierbaum: Irrgarten der Liebe. Berlin/Leipzig 1901, S. 118-120.
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Der Neubestellte Irrgarten Der Liebe: Um Etliche Gaenge Und Lauben Vermehrt, Verliebte Launenhafte, Moralische Und Andere Lieder, Gedichte U. Sprueche . Bis 1905. 1 Bis 6 Tausend. (German Edition)