Tiefe Stunde

[139] Die Sonne ist gegangen.

Ein letzter roter Schein

Liegt auf den höchsten Gipfeln,

Die glühen wie von Wein.

Die Luft ist voller Bangen.

Auf leicht bewegten Wipfeln

Schlafen die Vögel ein,

Die eben noch aus voller Kehle sangen.
[139]

Wie tief ist diese Stunde!

Aus unsichtbarem Munde

Trifft mich ein seltsam Wort:

Gegeben und genommen,

Gegangen und gekommen,

Wo ist dein Hier, dein Dort?

Ein Schweben in der Runde –

Dein Leben geht zu Grunde

Und lebt doch fort und fort.


Nun in den Wipfeln – Ruhe,

Auf allen Gipfeln – Dunkelheit.

Auf thut sich schwarz und weit

Die ungeheure Truhe:

Nacht und Vergessenheit.

Quelle:
Otto Julius Bierbaum: Irrgarten der Liebe. Berlin/Leipzig 1901, S. 139-140.
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Der Neubestellte Irrgarten Der Liebe: Um Etliche Gaenge Und Lauben Vermehrt, Verliebte Launenhafte, Moralische Und Andere Lieder, Gedichte U. Sprueche . Bis 1905. 1 Bis 6 Tausend. (German Edition)