6.

[365] (Zwischen Macon und Pontarevant la Chapelle, 28. Oktober 1900.)


Was wär ich, hätt ich nicht die hohe Kunst

Des schön gesetzten Wortes und die Kraft,

Mit einem Strom von Strophen mir den Schmerz

Und alles Dumpfe aus der Brust zu schwemmen.


Wieviel versäumt ich! Wieviel Früchte ließ

Ich auf der Lebenstafel unberührt!

Wieviel versah ich! Wieviel Böses sann

Mein Herz, und wieviel sündigte die Hand!

Doch einen schönen Reim zu ründen war

Ich nie zu träge, und ich frevelte

Nie bösen Sinnes gegen dich, oh Gut

Der Güter, das mir in der Wiege lag,[365]

Als ich der Mutter Wort zum ersten Mal

Vernahm: Oh deutsche Sprache, allerherrlichste!

Kein Kind wird einst von mir im Leben stehn,

Wenn ich ins Nichts zurückgegangen bin

Und all mein Leben, all mein Schmerz und Lust

Vorüber und verschwunden wie die Wolke ist,

Die eben noch, durchglüht von Sonnengold,

Wie eine ganze Welt voll Licht und Saft

Am hohen Himmel stand. – Dann wird vielleicht

Ein kleiner Vers von mir lebendig noch

In eines deutschen Mädchens Herzen blühn,

Und meine Worte werden voll und warm

Von ihren Lippen wehen, wie der Duft,

Der aus dem Innersten der Rose kommt.


Quelle:
Otto Julius Bierbaum: Irrgarten der Liebe. Berlin/Leipzig 1901, S. 365-366.
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Der Neubestellte Irrgarten Der Liebe: Um Etliche Gaenge Und Lauben Vermehrt, Verliebte Launenhafte, Moralische Und Andere Lieder, Gedichte U. Sprueche . Bis 1905. 1 Bis 6 Tausend. (German Edition)