Des Musterknaben kläglich Lied

Manchen Wein hab ich getrunken,

Manchem schönen Kinde bin

Ich verliebt ans Herz gesunken;

Jetzt geht alles nüchtern hin,

Abgezirkelt, abgemessen,

Und das ist des Liedes Sinn:

Ach, vergossen, ach, vergessen!


Dunkelroter Wein im Becher

Und ein weißer Busen bloß, –

Ein Verliebter und ein Zecher

War ich selig, war ich groß,

Ritt auf Rausches roten Rossen

Mitten in der Götter Schooß, –

Ach, vergessen, ach, vergossen!


Einsam geh ich nachts nach Hause,

Und mein Keller steht mir leer,

Das verworrene Gebrause,

Ach, mein Herz kennt es nicht mehr;[3]

Tugend hat sich eingesessen,

Exemplarisch, würdig, schwer, –

Ach, vergossen, ach, vergessen!


Soll mich gar nichts mehr entzücken?

Soll ich ewig nüchtern sein?

Wehe Tugend, deinen Tücken,

Denn sie machen mir nur Pein;

Sauertöpfisch und verdrossen

Trag ich meinen Heiligenschein, –

Ach, vergessen, ach, vergossen!


Quelle:
Otto Julius Bierbaum: Irrgarten der Liebe. Berlin/Leipzig 1901, S. 1-4.
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Der Neubestellte Irrgarten Der Liebe: Um Etliche Gaenge Und Lauben Vermehrt, Verliebte Launenhafte, Moralische Und Andere Lieder, Gedichte U. Sprueche . Bis 1905. 1 Bis 6 Tausend. (German Edition)