148. Die Otternlinde bei Wurzach.

[104] Von X. Bernhard.


Auf dem »Siechenberge« oder »Leprosenberge« bei Wurzach steht eine alte Linde. Ein etwa drei Finger breiter, ausgehöhlter, gleichsam eingeschnittener Streifen windet sich an dem Stamme hinauf. In Mitte des Stammes über der Wendung ist eine alte Votivtafel mit Christus am Kreuze, fast in den Baum hineingewachsen. Die Sage geht: Vor alten Zeiten kam, man weiß nicht von welcher Gegend her, ein grausig Thier, halb Schlange, halb Drache, geflogen und ließ sich an dem Baume nieder, und wand sich um ihn herum. Der Athem, den das Thier aushauchte, erzeugte eine tödtliche Seuche in der ganzen Umgegend. Um des Thieres los zu werden und die Pest abzuhalten, nahm man seine Zuflucht zu verschiedenen Mitteln, vor Allem zu Wallfahrten und Gebeten. Alles schien nichts zu helfen; da zog[104] der Geistliche mit dem Allerheiligsten an der Spitze einer Prozession den Riesenberg hinauf und beschwor das Ungeheuer an der Linde, damit es weiche. Unter furchtbaren Zuckungen und Windungen wand das Thier sich nach und nach vom Stamm herab und verschwand plötzlich in der Erde. Am Stamme des Baumes blieb diese Spur zurück, und um dem Thiere den Rückweg abzuschneiden, brachte man das Bild des Gekreuzigten an79.

79

Lonicerus sagt S. 629 von »Trachen«: »Ihre Wohnung ist am meisten in Hölen. – Wo der Lindwurm wohnet, da vergifftet er den Luft. Hat seine Kraft nicht in den Zähnen, sondern im Schwantz. Und beschädiget mehr mit streichen, dann mit beissen. – Aus dem Hirn des Trachen schneidet man einen Stein, Dracontias genannt, wann man ihm den nicht lebendig nimmt, so ist's kein Stein, dann wenn er stirbt, so verschwindet er. Vom Trachenschmalz fliehen alle gifftige Thier.«

Quelle:
Anton Birlinger/ M. R. Buck: Sagen, Märchen und Aberglauben. Freiburg im Breisgau 1861, S. 104-105.
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