98. Ein Edelfräulein verwünscht.

[71] Von Joh. Dettinger aus Deilingen, Vicar.


Im Hochberg bei Rotweil ist eine Höhle, die geht weit hinein und noch Keiner ist bis an ihr Ende gekommen. Da drinnen soll schon seit Jahrhunderten ein edles Fräulein sitzen, verwünscht von seiner Mutter. Dies ist so gegangen: Die Mutter soll einmal beim »Machen seiner schönen herabwallenden Lockenhaare« zornig geworden sein, weil das Mägdlein mit seinem Hündchen spielte und nicht stille hielt. In ihrer Ungeduld habe sie ausgerufen: Säßest du doch im Lemberg mit deinem Hündchen! Lemberg heißt diejenige Seite des Hochberges, in der die Höhle ist. Der Wunsch sei in Erfüllung gegangen. Das Fräulein soll zu innerst in der Höhle, abgeschlossen durch eine eiserne Thüre, das Hündlein vor sich dasitzen haben. Andere sagen, das Hündchen sitze außerhalb der Eisenthür und bewache den Eingang. Es soll ganz kohlrabenschwarz sein. Hier harrt nun schon seit[71] vielen Jahrhunderten das verwunschene Fräulein der Erlösung. Erlösung ist nur zur Adventzeit möglich durch einen unerschrockenen Menschen. Vor etwa 80 Jahren oder mehr soll sich der Löwenwirt des unten liegenden Ortes Deilingen nach der Höhle aufgemacht haben. Die Goldkiste, auf der das Fräulein sizt, juckte ihn. Diese aber erhält der, welcher sie erlöst. Selbander, er und ein Kapuziner, gehen sie am ersten Adventsonntag hinein; das Fräulein kommt ihnen entgegen und gab ihnen folgende Anweisungen: Für's Erste dürfen sie kein Wort fallen lassen; sodann müssen sie die drei andern Adventsonntage wieder kommen, dabei werden ihnen verschiedene Gestalten begegnen, die sollen sie küssen, und zwar ganz ehrerbietig. Am vierten und lezten Adventsonntag werde sie erlöst sein. Wie ihnen befohlen worden, kamen Beide am nächsten Sonntag wieder in die Höhle. Doch, was mußten sie da sehen? Feurige Schlangen, Drachen und vieles andere abscheuliche Gewürm. Und dieses sollten sie jezt küssen. Diesmal lief alles pünktlich ab. Am dritten Sonntag kamen sie wieder. Da sahen sie noch viel abscheulichere Ungethüme. Doch war auch diesmal bereits alles gut abgelaufen, nur beim Rückweg entfiel dem andächtigen Kapuziner ein halblautes »pater noster« und Alles war verloren. Seit jener Zeit habe Niemand mehr das Fräulein erlösen wollen57.

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Rochholz A.S. I. Nr. 167-182.

Quelle:
Anton Birlinger/ M. R. Buck: Sagen, Märchen und Aberglauben. Freiburg im Breisgau 1861, S. 71-72.
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