582. Der Däumling.

[354] Es war ein Ehepaar, das lange Zeit kinderlos gewesen. Da beteten sie um ein Kind, und wäre es auch nicht größer als eines Daumens Länge. Der Wunsch des frommen Ehepaars wurde erhört und sie bekamen ein daumenlanges Kind, das sie daher Däumling nannten. Damit es nirgends hinunterfalle, stellte es die Mutter oft in ein Glas, und war es unartig, sperrte sie es in einen Krug und that den Deckel darauf. Der Vater nahm den Buben nach einigen Jahren auf's Feld und in den Wald zum Fuhrwerken. Der Kleine hatte eine kräftige Stimme und versah vom Ohre eines Pferdes aus sein Amt. Dort hinein pflegte ihn nämlich der Vater zu setzen. Als einmal Fremde an dem Fuhrwerk vorübergingen, hörten sie einen Burschen die Pferde lenken, ohne ihn zu sehen. Verwundert blieben sie stehen und der Vater erklärte ihnen, wo und wie der Fuhrmann sei. Sie boten nun dem Vater viel Geld, wenn er den Kleinen ihnen verdingen wollte. Der Vater willigte ein und so sezte ihn der Fremde auf die Krämpe seines Hutes und ging fort mit ihm. Als aber die fremden Männer, welche Räuber gewesen, im Walde ausruhten, schlich sich der Däumling vom Hut[354] herab und verkroch sich in ein Mausloch. Das sahen die Räuber und drohten ihn zu erdrücken, wenn er nicht wieder freiwillig käme. Er zog es vor, sich wieder zu stellen und nahmen ihn mit sich in einen Pfarrhof, um daselbst einzubrechen. Die Diebe schickten ihn durch das Schlüsselloch hinein, um dem Pfarrer die Schlüssel abzunehmen und auszukundschaften, wo das Geld sei. Das that er und die Diebe brachen ein und wollten das Geld nehmen. Aber da erwachte der Pfarrer und die Diebe liefen davon. Der Däumling aber konnte nicht nacheilen und verkroch sich in des Herrn Pfarrers Salzfaß. Unglückseliger Weise holte die Magd Salz, um ihre Kühe damit zu füttern, und erwischte auch den Däumling und warf ihn mit dem Salz in die Krippe, daß ihn eine Kuh fraß. Aus Aerger über seinen sprichwörtlich gewordenen finsteren Aufenthalt fing er gleich, als er bemerkte, daß die Magd melke, an zu schreien: schlag die Magd in Dreck, schlag die Magd in Dreck. Entsezt floh die Magd von dannen und sagte es dem Herrn Pfarrer. Der vermuthete den Teufel in der Kuh und beschwor ihn, aber da rief der Däumling: schlag den Pfarr in Dreck! Als alles Benediciren nichts half, ließ der Pfarrer die Kuh schlachten. Den Kuttelsack aber warf man auf die Miste und mit diesem den Däumling. Nun kam ein Wolf daher und fraß den Kuttelsack und mit diesem den Däumling. Jezt fing er an zu schreien: der Wolf kommt, der Wolf kommt, bis dieser anfing davon zu laufen. Die Leute aber hielten den Wolf für den Teufel und getrauten sich nicht recht an ihn. Zulezt aber erlegten sie ihn und ließen ihn im Walde liegen. Da machte sich der Kleine aus dem Wolfe und suchte nach Hause zu seinen Eltern zu wandern. Aber leider, als er in einem Gebüsch über Nacht blieb, fraß ihn ein Reh mit den[355] Knospen und Blättern. Jezt rief er aus Leibeskräften: Reh! Reh! Reh! daß das Thier scheu ward und davon lief. Es sprang aber über einen Felsen hinab und war todt. Der Däumling selbst büßte dabei sein Leben auch ein, und also nahm der Däumling durch sein Schreien ein Ende295.

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Grimm, Märchen Nr. 37. 45. L. Tieck hat das Märchen in ergötzlicher Weise umgearbeitet.

Quelle:
Anton Birlinger/ M. R. Buck: Sagen, Märchen und Aberglauben. Freiburg im Breisgau 1861, S. 354-356.
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