594. Das Räuber- und Mörderschloß.

[371] Mündlich.


Eine Rittersfrau lebte mit ihrem Töchterlein einsam auf ihrem Schlosse. Das Töchterlein ging täglich in eine Kapelle, die eine Strecke weit vom Schloß entfernt war. Auf diesem Gang begegnete ihr schon längere Zeit ein junger Ritter, der sie sehr aufmerksam behandelte, bis es endlich zum Gespräch und zulezt zur Einladung zu einem Besuch von Seiten des Fräuleins kam. Der Ritter kam und vergnügte sich mit vielen andern Gästen auf dem Schloß seiner Gönnerin. Diese mußte ihm versprechen, auch ihn, und zwar auf einen bestimmten Tag, in seinem Waldschlosse zu besuchen. Das Ritterfräulein sezte sich's aber in den Kopf, um einen Tag früher den Besuch zu machen. Eine kleine Strecke vor dem Waldschloß ließ sie ihre Dienerschaft zurück und gab derselben den Auftrag, wenn sie nach zwei Stunden noch nicht zurück sei, möchte die Dienerschaft heimfahren. Sie ging zu Fuß in's Schloß; dort angekommen, fand sie Alles offen stehen, aber nirgends einen Menschen. Sie ging in die oberen Gemächer. Alles war prachtvoll eingerichtet, den Ritter aber fand sie nirgends. Da wollte sie auch die untern Zimmer besehen. Als sie eine Thüre aufstieß, fand sie einen großen Saal mit vielen einfachen Betten, blos einen Strohsack und Wolldecke als Inhalt tragend. Sie war im Zweifel, ob das ein Lazareth oder eine Kaserne vorstellen sollte. Sie schritt durch den Saal in ein Zimmer, wo sie die Spuren einer kürzlich stattgefundenen Schlächterei fand, einen Block mit Beil, Alles ringsum blutbesprizt. Die Neugierde und die Angst trieben sie an, eine Fallthüre zu öffnen,[372] welche sich im gleichen Zimmer befand; sie stieg in den Keller hinab und fand da einen weiblichen Leichnam, das schöne Haupt abgeschlagen, ebenso die rechte Hand weggehackt. Da wurde ihr todesangst, und da sie zu gleicher Zeit Männerstimmen oben hörte, verbarg sie sich unter den Leichnam. Sie hörte, wie man oben ein neues Opfer schlachtete und der Ritter zu den Schergen sagte: werft sie in den Keller hinab, jezt brauchen wir nur noch Eine und die kommt morgen. Nach und nach verlor sich der Lärm und als sie die Fallthüre öffnete, um zu horchen, vernahm sie im Saale lautes Schnarchen. Die abgehauene Hand des Leichnams trug einen Ring, den steckte sie sich selbst an den Finger und dachte, sie wolle es wagen aus dem Schloß zu kommen, sie könne schlimmsten Falls immerhin ihr Leben verlieren. Glücklich kam sie aus dem Saal, wo die Schergen schnarchten, und eilte zu Fuß nach Hause, wo sie todesblaß ankam. Die Mutter bat sie um Mittheilung des Erlebten, da sie den Schrecken auf dem Gesichte ihrer Tochter las. Diese sagte, sie möchte sich gedulden bis zu einem Gastmahl, das sie dieser Tage geben werde, und zu dem sie den fremden Ritter einlade. Der Ritter erschien auf die Einladung und die Gesellschaft schien sehr heiter. Da machte das Ritterfräulein den Vorschlag, jede Person sollte erzählen, was es ihr zulezt geträumt habe. Man erzählte nun allerlei. Als die Reihe zulezt an sie kam, erzählte sie, was sie in Wirklichkeit in dem Waldschloß gesehen. Der Ritter lachte Anfangs dazu, indem er sagte: Haha! Träume sind Schäume, das verhält sich ganz anders in meinem Schloß. Als sie aber von der Schlächterei erzählte und was er von ihr selbst gesagt habe, ward der Ritter stutzig und läugnete immer noch; zulezt aber hielt sie ihm den Ring unter die Augen,[373] den sie aus dem Keller mitgenommen, da sank der Ritter vor Schrecken zusammen, entsezt und entrüstet sprangen die übrigen Ritter auf, eine bereit gehaltene Wache führte ihn gefangen ab und der Bösewichter wurde enthauptet302.

302

Vgl. Curtze, Volksüberlief. S. 40. E. Meier, Volksmärchen, S. 224. Etwas verändert bei Grimm, Märchen 443. Nr. 40.

Quelle:
Anton Birlinger/ M. R. Buck: Sagen, Märchen und Aberglauben. Freiburg im Breisgau 1861, S. 371-374.
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