360. Das Leichentuchholen im Kloster Sießen.

[409] Als mein Vater selig im Hundsrucken als Hirtenbube diente, so erzählte Schuhmacher Volk in Wilfertsweiler, starb sein Bauer. Da damals der Hundsrucken noch in die Pfarrei Sießen gehörte, so mußte bei einem jeweiligen Todesfall das Leichentuch in Sießen geholt werden. Mein Vater mußte nun dieses Geschäft besorgen und kam zur späten Abendstunde im Kloster an. Der Beichtvater wollte ihm Abends spät das Tuch nicht verabfolgen lassen; doch auf die Versicherung des Knaben, daß er sich durchaus nicht fürchte, gab er seinen Willen drein. Dem Knaben gab er noch ein Gläschen Wein und vor seinem Abgange das Weihwasser[409] und den Segen, mit der Versicherung, daß ihm nunmehr nichts geschehen könne, es dürfe ihm auf dem Wege begegnen, was da wolle. Frohen Muts trat er nun seinen Weg an. Als er an den Weiher unfern Sießens kam, da watete es im Weiher herum, als ob es ein Regiment Soldaten sei. Als er gar vollends vor das Frankenbuch kam, kam etwas wie ein Reiter auf ihn zu und dann ganz nahe, wie eine Mauer. Nun versuchte er den Eingang besser unten. Hier ging's wieder nicht; denn drei Reiter auf Schwanen mit brennenden Kerzen kamen auf ihn zu und versperrten ihm den Gang. Hierauf ging er zu sei nem Vater nach Wilfertsweiler heim, erzählte Alles und blieb über Nacht. Niemand im Haus hatte aber Ruhe, bis das Leichentuch vor das Haus hinaus geworfen wurde.

Quelle:
Birlinger, Anton: Sitten und Gebräuche. Freiburg im Breisgau 1862, S. 409-410.
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