11.

[105] Vom Zorne hab' ich bereits gesagt, daß die Veranlassung dazu, so wie bey allen heftigen Leidenschaften, wichtig scheinen müsse, wenn die heftigen Ausbrüche desselben in uns das Gefühl des Erhabenen erzeugen sollen. Der alte Lear hat seinen beyden Töchtern sein Königreich eingetheilet, und sie an die Herzoge von Albanien und Kornwall verheyrathet. Er hat seinen Töchtern alles gegeben, und die älteste, Gonerill, will ihm nicht einmal gestatten, daß er seine ausbedungene hundert Ritter in ihrem Hause behalten solle; er soll die Hälfte abdanken;[105] sie klagt über die Leute, und über den alten Vater selber; – er sucht seines Zornes und seines Jammers Meister zu werden; – kurze Ausbrüche entwischen ihm; – aber er faßt sich immer noch wieder; – er will es nicht denken, daß es seine Tochter ist, die ihn so beleidigen kann; – man sieht aber das Ungewitter mit jedem Worte näher kommen; – endlich faßt er den Entschluß, zu seiner andern Tochter zu reisen. – Gonerill schmäht noch fort, – und nun bricht er aber nur auf einen Augenblick, in eine schreckliche Verwünschung dieser Gonerill aus, die aber lange den Ungestüm nicht hat, den seine nachherigen Ausbrüche haben, wie dies, nach der ganzen Situation, auch sehr natürlich war, und vom Shakespear ganz vortreflich behandelt ist:


Hear, Nature, hear; dear Goddess, hear a father!

Suspend thy purpose, if thou didst intend

To make this creature fruitful:

Into her womb convey sterility,

Dry up in her the organs of increase,

And from her derogate body never spring

A babe to honour her. If she must teem,

Create her child of spleen, that it may live,

And be a thwart disnatur'd torment to her;

Let it stamp wrinkles in her brow of youth,

With candent tears fret channels in her checks;

Turn all her mothers pains and benefits

To laughter and contempt; that she may feel,[106]

How sharper than a serpent's tooth it is

To have a thankless child.


Act. I.


»Höre mich, Natur! höre einen Vater! hemme deinen Vorsatz, wenn er war, dies Geschöpf fruchtbar zu machen. Banne Unfruchtbarkeit in ihren Schoos! – Muß sie aber gebähren, so erschaff' ihr Kind aus Galle, und laß es leben, sie ohne Rast mit unnatürlicher Bosheit zu peinigen; laß es Runzeln in ihre junge Stirne graben, und mit glühenden Thränen Kanäle in ihre Wangen ätzen; laß es alle ihre Mutterschmerzen mit Hohngelächter, all' ihre Wohlthaten mit Verachtung erwiedern, damit sie fühle, wie viel schärfer als einer Schlange Biß es ist, ein undankbares Kind zu haben.« –

Wiel. Uebersetzung.


Nach einigen Augenblicken legt sich dieser Zorn; – er schämt sich dessen; – sein volles Herz bricht in Thränen aus; – aber Gonerills Undankbarkeit erregt seine Wuth bald wieder; – er reiset ab, und kömmt zu seiner zweyten Tochter, Regan.

Es ist natürlich, daß diese ganze Begebenheit den, von Natur empfindlichen Mann noch empfindlicher machen mußte, als er es vorher war; er bricht jetzt weit leichter in Zorn aus, wenn er einmal dazu gebracht worden ist. Wie er bey[107] seiner zweyten Tochter ankömmt, läßt sich diese, eben so undankbar, wie die älteste, für krank angeben; er kann weder sie, noch ihren Mann so gleich sprechen, und wie er eine bessere Antwort, als diese Entschuldigung haben will, so sagt Gloster etwas von der feurigen Gemüthsart des Herzogs der unbeweglich ...


LEAR:

Vengeance! plague! death! confusion! –

Fiery? what fiery quality, why, Gloster

I'd speak with the Duke of Cornwal, and his wife.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

The King would speak with Cornwal. The dear father

Would with his daughter speak, commands her service.

Are they inform'd of this? my breath an blood!

Fiery? the fiery duke? tell the hot duke, that –


Act. II. Sc. 10.


»Rache! Pest! Tod! Verderben! feurig? was feurige Gemüthsart? Wie? Gloster, ich will mit dem Herzog von Kornwal reden, und seinem Weibe.« –


Man bemerke, daß hier die Heftigkeit schon wieder etwas gesunken ist, die so schnell und so hoch mit einemmale stieg; es fallen noch einige Worte zwischen ihm und dem Gloster vor; und dann erfolgt das übrige:


»Der König will mit Kornwal reden; der Vater will mit seiner Tochter reden; befiehlt ihr,[108] ihm aufzuwarten. Sind sie dessen berichtet? – Mein Athem! mein Blut! feurig? der feurige Herzog? Sagt dem heißen Herzoge, daß –«


Wiel. Uebersetzung.


In diesem zweyten Theil der Rede steigt der Zorn allmählig wieder bis zu der Heftigkeit, mit welcher er vorher so gleich ausbrach. Man sieht, daß der alte Mann mit jedem Augenblick weniger Meister seiner selbst ist. Und wenn man den ganzen Charakter des Lear studiren wollte: so würde man finden, wie bewundernswürdig der Dichter ihn behandelt hat. Dies Trauerspiel ist gewiß eins von denjenigen, die den tiefsten und rührendsten Eindruck machen. Mit all' seiner Heftigkeit bleibt uns Lear verehrungswürdig; der Dichter hat es so angelegt, daß er in diesen Zorn ausbrechen muß; aber seine Mühe, sich zu fassen, – seine Rückfälle zur Sanftmuth machen ihn uns schätzbar; und sein Unglück höchst mitleidswürdig. Wenn ich einen Kommentar über den Shakespear schriebe: so müßte ich hier noch viel sagen. Jetzt will ich es alles darinn zusammenfassen, daß ich jedem jungen Dichter rathe, uns den Zorn eines Mannes so zu schildern, wie der Engländer es hier im Lear gethan hat, wenn dieser Zorn das Gefühl des Erhabenen erzeugen soll. –[109]

Was ich von den Ursachen gesagt habe, die den Zorn veranlassen müssen, gilt eben so sehr von der Raserey. Die vorhergehende Zustände der Person müssen uns diese als eine nothwendige Folge aus ihnen zeigen; sie müssen so beschaffen seyn, daß aus ihnen nichts, als dieser schreckliche Zustand erfolgen konnte. Je außerordentlicher, je wichtiger die Sache, je wichtiger müssen die Veranlassungen seyn! Es versteht sich von selbst, daß eine so heftige Bewegung kleinere vorhergehende Bewegungen haben muß; und daß also diese vorhergehenden Zustände keine ruhige Situationen gewesen seyn können. Ich weis dies nicht anschauender zu zeigen, als wenn ich die Beispiele aus dem Charakter eben des Lear nehme, dessen Gemüthsverfassung wir nun schon kennen. –

Der alte Mann versucht es nun mit Güte und mit Schmeicheleyen, und mit Bitten bey seiner zweyten Tochter, um sich bey ihr zu erhalten; er klagt über Gonerill; aber Regan giebt ihr Recht; – Gonerill kömmt selber; – Regan weißt ihm die Thür, und heißt ihm sein Gefolge abdanken; – er soll mit Gonerill zurückkehren; – der alte Mann wird schwach; er bittet seine Tochter, ihn nicht wahnwitzig zu machen; – er macht beyden die rührendsten Vorwürfe; aber sie bestehen auf ihrem Sinn, daß er alles Gefolge verabdanken,[110] und sich von ihren Leuten bedienen lassen soll. – Man sieht den Wahnsinn kommen; der alte Mann fleht alle Himmel und Geduld an; und verläßt in voller Ungeduld seine beyden Töchter und das Haus; – die Nacht bricht an; alle Winde stürmen, der Himmel ist voll Feuer, und die Erde erbebt vom Donner, kein Mensch wohnt da herum Meilenweit auf der Heyde – man schließt die Thüre des Schlosses ab. – Nun bedenke jeder selber, ob ihm irgend etwas unwahrscheinlich noch ist, wenn er den alten Lear auf freyem Felde, bey dauerndem Ungewitter, höret34:
[111]

Spit fire, spout rain!

Nor rain, wind, thunder, fire are my daughters;

I tax you not, you elements, with unkindness,

I never gave you Kingdoms, call'd you childern.

You owe me no submission. Then let fall

Your horrible pleasure; here I stand your slave,

A poor, infirm, weak, and despis'd old man!

And yet I call you servile ministers,

That have with two pernicious daughters join'd

Your high engender'd battles, 'gainst a head

So old and white as this. – Oh! Oh! 't is soul! –


»Spey Feuer! ströme Regen! weder Regen noch Wind, Donner noch Blitze sind meine Töchter; ich beschuldige euch keiner Unfreundlichkeit, ihr Elemente; ich gab euch keine Königreiche, ich nannte euch nie meine Kinder, ihr[112] seyd mir keinen Gehorsam schuldig. So laßt denn euer entsetzliches Vergnügen fallen; hier steh' ich, eu'r Sclave, ein armer, entkräfteter, schwacher, und verachteter alter Mann! Und doch seyd ihr nur knechtische Diener, die, in Verständniß mit zwo verderblichen Töchtern, eure donnernden Schlachten gegen einen so alten und weißen Kopf richtet. – oh! das ist niederträchtig!« –


Noch raset der alte Mann hier nicht wirklich; aber wir nähern uns mit jedem Schritte dem völligen Ausbruch der Raserey immer mehr. Man sieht, wie heftig sein Unglück ihm in seinem Marke naget; und dies Unglück ist unaufheblich. Die Folge von so einem Zustande ist natürlich Raserey. Ich folge daher dem Dichter Schritt vor Schritt, um alle vorhergehende Zustände des alten Lear den Lesern vorzuhalten, damit sie sich überzeugen, wie höchst wahrscheinlich diese Raserey endlich erfolgt. Ich muß noch erinnern, daß der Dichter, der Natur gemäß, im Anfange, heftigere mit ruhigern Stellen abwechseln läßt. In einem Ende, und in einem Tone fort geht keine Leidenschaft. So ist, z.B. die Rede des Lear, die dieser vorhergeht, und welche die erste ist, die wir von ihm, in seinem jetzigen hülflosen Zustande hören, weit heftiger als diese:
[113]

Blow winds, – rage, blow!

You cataracts and hurricanes, spout

Till you have drencht our steeples –

You sulph'rous and thought-executing fires,

Singe my white head. And thou all shaking thunder,

Strike flat the thick rotundity o 'th' world;

Crack nature's mould, all germins spill at once

That make ingrateful man.


»Blaset, ihr Winde! wüthet! blaset! Ihr Wolkenbrüche und Orkane, speyet Wasser aus, bis ihr unsre Glockenthürme überschwemmt. – Ihr schwefelichten, meine Gedanken ausrichtenden Blitze, senget mein weißes Haupt, und du allerschütternder Donner – zerbrich die Form der Natur, und zerstücke auf einmal all' die ursprünglichen Keime, woraus der undankbare Mensch entsteht.«


Auf dieser Höhe konnte sich die Leidenschaft nicht erhalten. So wie der alte Lear mit seinem Zustande bekannter wird, sinkt sie hinunter; der erste Ausbruch ist immer lebhafter; aber so wie er etwas mäßiger nach dem ersten Anfall wird: so steigt er so gleich, da sein Zustand eben derselbe bleibt, und die Ueberlegung ihm nichts bessers zeigt, zu der vorigen Höhe sehr schnell.

Ich weis, daß die Empfindung, die durch diese und die erstere Stelle in uns erregt wird, zugleich sehr viel Rührendes enthält, das ihr so wohl[114] die ganze Situation des alten Lear, und sein unüberschwenglich Unglück, als auch die Kunst des Shakespear giebt, der alles so geordnet, und die Rede so eingerichtet hat, daß man den mächtigen Einfluß aller Leiden des Lear auf seinen Geist siehet; aber ich getrau' es mich zu sagen, daß ohne diesen Zusatz zu unserer Empfindung, welche aus der größern Empfindlichkeit des Leidenden entsteht, die ganze Situation des Lear gar nichts Anziehendes mehr behalten haben würde. Um sich hiervon zu überzeugen, darf man nur den rasenden Herkules des Seneka gegen den Lear halten; und mit den vorgehenden könnte man das Poltern manches französischen Helden vergleichen, wenn sich nicht eine Stelle aus einem Classischen Dichter anführen ließe, die die obige Bemerkung bestätigen wird. Prometheus, in dem Trauerspiele des Aeschylus, das seinen Namen führt, ist bereits an den Kaukasus angeschmiedet; Merkur hat ihm noch härtere Strafen vom Jupiter gedroht, um sein hartes Herz zu erweichen, und Prometheus sagt:


– – ἐπ᾽ ἐμοι ῥιπτεϑω μεν

Πυρος ἀμφηκης βοςρυχος, ἀιϑηρ

Δ᾽ ἐρεϑιζεϑω βροντη, σφακελω

Τ᾽ ἀγριων χϑονα δ᾽ἐκ πυϑμενων

Αυταις ριζαις πνευμα κραδαινοι,

Κυμα δε ποντυ τρακει ῤοϑιω[115]

Συγχωσειεν, των τ᾽ἐρανιων

Αςρων διοδυς, ἐε τε᾽ κελαινον

Ταρταρον ἀρδην ῤιψειε δεμας

Τε᾽ μον, ἀναγκης ςεῤῤαις διναις

Παντως ἐμε γ᾽ ἐ ϑανατωσει.


Aeschyl. Prom. 1042. s.


»Laß den Donnerer seine zackigten Blitze auf mich herabschleudern, und den Aether mit rasenden Ungewittern durchstürmen; laß die Erde durch den Sturm bis auf den Grund erschüttern, und die sausenden Wogen des Meeres und die himmlischen Gestirne untereinander mischen; laß ihn meinen Leib, mit den Stricken des Verhängnisses gebunden, in den schwarzen Schlund des Tartarus hinunter stürzen: mich soll er nicht tödten.«


Ohne daß ich hier die Situation des Prometheus mit der Verfassung des Lear vergleichen, und den Shakespear auf Kosten des Aeschylus erheben will, sag' ich nur, daß die letztere Stelle für uns lange nicht so anziehend ist, als die Rede des Lear. In dem Charakter des Prometheus, als Halbgott, und als ein empfindend Wesen betrachtet, ferner in der Denkungsart des damaligen Zeitalters, und in den Uebeln selbst, die ihn treffen, mit einem Wort, in der ganzen Lage der Sachen, können Bewegungsgründe[116] liegen, warum Aeschylus ihn vielmehr so, als anders sprechen laßt; diese Rede selbst aber wirkt nicht so mächtig auf uns, als die mehr jammernde des Lear. Mehr als ein Gefühl entsteht in uns, wenn wir diesen hören. –

Mitten in dem schrecklichen Ungewitter kommt nun sein treuer Kent zu ihm, (den er aber nicht kennt) – er sucht sich zu fassen, – »er will das Muster aller Geduld seyn, er will nichts sagen;« aber kaum gedenkt Kent der Schrecklichkeit dieser Nacht: so bricht der alte Mann wieder los:


Let the great Gods,

That keep this dreadful pow'r o'er our heads,

Find out their ennemies now. Tremble thou wretch,

That hast within thee undivulged crimes

Unwhipt of justice! Hide thee thou bloody hand;

Thou perjur'd, and thou simular of virtue,

That art incestuous. Caitist shake to pieces,

That under covert, and convenient seeming

Has practis'd on man's life. Close pent up guilts,

Rive your concealing continents, and ask

The dread full summoners grace! – I am a man

More sinn'd against than sinning.


Act. III. Sc. 3


»Jetzt mogen die großen Götter, die dieses entsetzliche Getöse über unsern Häuptern machen, ihre Feinde aufsuchen. Zittre du Unglückseliger, dessen unentdeckte Verbrechen der Ruthe der[117] Gerechtigkeit entgangen sind! Verbirg dich, du blutige Hand, du Meyneidiger, du blutschänderischer Heuchler der Tugend; zerfall in Asche, Bösewicht, der unter dem Schein der Freundschaft nach dem Leben eines Menschen getrachtet hat. Ihr geheimen verschlossenen Sünder, öffnet eure verbergenden Kammern, und bittet diese fürchterlichen Aufforderer um Gnade! – Ich bin ein Mensch, gegen den mehr gesündigt worden, als er selbst gesündigt hat.«

Wiel. Uebersetzung.


Der letzte Zug dieser Rede besonders zeigt schon seine Auflehnung gegen sein Geschick. So lange wir uns noch unsern Schicksalen unterwerfen, so lange wir uns noch strafbar fühlen, können wir uns nicht bis zu dem Gemüthszustande erheben, der so leicht in Raserey ausartet. Es gehöret eine gewisse Anstrengung des Geistes dazu, wüthend zu werden; und daher ist nichts der Raserey so sehr nahe, als Stolz, wenn er sehr unglücklich ist: eine Bemerkung, die ich durch Richardsons Bildung und Behandlung der Clementine bestätigen kann. – Doch zu dieser Erhebung und Anstrengung des Geistes, kann ein alter Mann, der von Natur nicht stolz ist, nicht mit einemmale kommen; ein zu großes Unglück schlägt diesen Mann[118] im Anfange ganz nieder; wenn es aber fortdauert, wenn dieser Unglückliche näher mit ihm bekannt wird, wenn er Zeit gewinnt, sein Geschick mit seinen Verdiensten zu vergleichen; wenn seine Ueberlegung, und das Zeugniß anderer, (wie hier das Zeugniß des Kent) sein unüberschwinglich Leiden bestätigt: so muß das erfolgen, was Shakespear hier erfolgen läßt. –

Kaum hat Lear seine Rede geendigt: so entdeckt Kent, – daß der alte König mit entblößtem Haupte da steht: ein neuer Zusatz des Shakespear, um die ganze Situation des alten Mannes schrecklicher und mitleidswürdiger zu machen, und uns von der Verfassung seines Geistes, da er entweder den ganzen Umstand nicht weis, und also nicht mehr fühlet, oder in der Raserey selbst sich, bey so schrecklichem Wetter, entblößt hat, eine desto lebhaftere Abbildung zu geben. Solche kleine Züge, so verächtlich auch unsre französischen Witzlinge auf sie herabsehen, wirken auf den gesunden Kopf, der nicht mit jenen Possen sich krank gemacht hat, kräftiger, als Seitenlange Declamationen. Was wir darinn, in viel Worten, hören müssen, sehen wir hier mit einem Blick; und gewiß weit nachdrücklicher, weil dort das erste schon wieder vergessen ist, wenn das letzte erzehlt wird. –[119]

Nun bittet ihn Kent ernstlich, in eine Hütte mit ihm zu kehren, die dort auf der Heyde liegt, – und sagt ihm, daß der Eingang in das Schloß des Gloster ihm versagt worden, weil er dort nach dem Könige gefragt habe. –


My wits begin to run.


»Mein Kopf fängt an zu schwärmen,« antwortet Lear, – und er verfällt zugleich in einen beynahe scherzhaften Ton, der aber nur einige Worte hindurch dauert. Lessing läßt eben so richtig seinen Tellheim lachen, da alles für ihn verloren ist; und Tellheim scheint hierinn deßwegen nur weiter zu gehen, weil er überhaupt stärkeren Geists ist, als der alte Lear. Er kann sich wieder bis zu der Anstrengung erheben, oder länger darinn erhalten, in die seine Leiden seinen Geist gesetzt. Auch im Titus Andronicus des Shakespear lacht Titus, (Akt. 3. Sc. 1.) nachdem er all seine Kinder verloren, über seine Leiden. – Dies Lachen, oder diesen Scherz vielmehr, im Lear, möcht' ich gern mit der Meerstille vergleichen, die vor dem Orkan hergeht, wenn dadurch nur die Verfassung der Seele begreiflich gemacht würde, welche diesen Scherz hervorbringen kann. Mich dünkt, daß er Maschinenmäßig beynahe, und so erfolgt, daß die Seele im allerhöchsten Grade angespannt, sich auf dieser Höhe nun nicht mehr erhalten kann,[120] daß sie, selbst wider ihren Willen, nun hinuntersinket, – und zu schwach jetzt, sich ihres Zustandes zu erinnern, und, wenn ich so sagen darf, im Fall zu ihrer Vernichtung, Worte und Töne äußert, die zwar noch Sinn haben, aber die nicht mehr mit ihrer Verfassung zusammenhängen. –


Come on, my boy. How dost my boy? art cold?

I'm cold my self. Where is the straw, my fellow?

The art of our necessities is strange,

That can make vile things precious. Come, your hovel!


»Komm mit, Junge!« sagt Lear zum Kent. »Was machst du, Junge? Frierst du? Ich friere selbst. Wo ist Stroh, guter Freund? die Kunst der Nothwendigkeit ist wunderbar, daß sie die schlechtesten Dinge kostbar machen kann. Kommt! in eure Hütte« ...


Wenn die Verfassung sich zur Besserung abändert, wenn ein tröstender Gegenstand sich findet, oder das Herz noch etwas in sich hat, das es liebt: so sind die folgenden Zustände des Lachens oder des Scherzes natürlich nicht geradesweges Raserey; es bleibt uns dann noch etwas übrig; unsere Vernunft kann sich woran noch fest halten: – aber nicht so im Lear. Man wird zwar bemerkt haben, daß die letztern Worte desselben in der vorhergehenden[121] Stelle wieder ernsthaft werden, und daß also, auf den erstern Scherz nicht gerade zu, der Unsinn erfolgt. Aber Shakespear führt ihn durch die allerfeinsten Nüancen seinem schrecklichen Schicksale zu. Jeder andre würde geglaubt haben, nicht frühzeitig genug den alten Mann seiner Vernunft berauben zu können; zumal da es schon so weit ist. Shakespear läßt ihm, der Wahrscheinlichkeit und Natur gemäß, sein Gefühl wieder kommen; aber nun fühlt er nur für andre zuerst. Er endigt obige Rede mit diesen Worten:


Poor fool and knave, I've one part in my heart,

That's sorry yet for thee.


»Armer Tropf! (zum Kent) ich habe nur noch ein Faser von meinem Herzen übrig, und die ist jetzt für dich bekümmert!« – –


Ich weis nicht, was meine Leser hiebey fühlen werden. – Kent führt den König fort, und bringt ihn in die Hütte, wo sie einen – sich aus Noth wahnwitzig stellenden jungen Menschen finden. Aber noch ehe wir in diese Hütte kommen, hören wir ihn auf der Heyde. Mit jedem Augenblick wird nun der alte Mann grämlicher; – »er will allein seyn;« – Kent nöthigt ihn in die Hütte zu gehen, weil es auf dem freyen Felde nicht auszuhalten ist; – er antwortet nur:[122] »Wird es mein Herze brechen?« – man sieht, daß er abwesendes Geistes ist, und sich von der Idee seiner Leiden nicht losmachen kann; er will nur mit diesen zu thun haben, weil er nicht mit andern zu thun haben kann; – aber Kent bringt ihn in einem Augenblick davon ab, – durch die Versicherung, daß er lieber wolle, daß ihm sein eignes Herz brechen solle. Ich gesteh es, daß ich nicht glaube, daß Shakespear so auf das Ohngefähr hin, den alten König, im Anfange bald mehr, bald minder rasend gezeigt habe, eh' er ihn gänzlich fallen läßt. Diese Abwechselungen sind in der Natur zuerst gegründet, und wenn Lear zu sich zurück kömmt: so sind es immer die gegenwärtigen Situationen, die ihn zurückbringen; wenigstens ist, nach Anlage der menschlichen Natur, und nach dem Charakter, den der Dichter dem Lear gegeben, alles so geordnet, daß das Geschehende solche Wirkungen hervor bringen muß, als es hervorbringt; und da, durch alles dies, der Charakter des Lear mit jedem Zuge, anziehender und verehrungswürdiger wird: so darf ich mir wohl, von Seiten des Dichters, Absicht dabey gedenken. Bey dem höchst empfindlichen Herzen des alten Mannes war es sehr natürlich, daß jede Versicherung, so lang er nur noch fühlen konnte, von Ehrlichkeit, Treue, Anhänglichkeit, zumal in seiner jetzigen trostlosen[123] Lage, den tiefsten Eindruck auf ihn machen mußte. Er fand in den paar Worten des Kent etwas, woran er sich festhalten konnte; und so gleich sehen wir ihn auch wieder stehen:


Thou think'st, 't is much, that this contentious storm

Invades us to the skin; so 't is to thee;

But where the greater malady is fixt,

The lesser is scarce felt. Thou 'dst shun a bear;

But if thy flight lay towards the roaring sea,

Thou 'dst meet the bear i 'th' mouth. When the mind's free,

The body's delicate; the tempest in my mind

Doth from my senses take all feeling else,

Save what beats there. Filial ingratitude!

Is it not, as this mouth should tear his hand

For lifting food to 't? – But I'll punish home;

No, I will weep no more – In such a night,

To shut me out? – pour on, I will endure –

In such a night as this? O Regan, Gonerill,

Your old kind father, whose frank heart gave all –

O, that way madness lies; let me shun that –

No more of that.


Act. III.


»Du denkst, es sey zu viel, daß dieser wüthende Sturm uns bis auf die Haut anfällt; für dich ist es so; aber wenn ein größerer Schmerz tobet, wird der geringere kaum gefühlt. Du würdest dich vor einem Bären entsetzen; wenn aber deine Flucht gegen das heulende Meer läge, würdest[124] du dem Bären in den Rachen laufen. Wenn das Gemüth frey ist, so ist der Leib zärtlich; der Sturm in meinem Gemüth nimmt meinen Sinnen alles andre Gefühl, als was hier schlägt, (indem er aufs Herz zeigt) Kindliche Undankbarkeit! Ist es nicht, als ob dieser Mund diese Hand zerreißen wollte, weil sie ihm Speise gereicht habe? – Doch, ich will sie abstrafen; nein, ich will nicht mehr weinen. – In einer solchen Nacht mich auszustoßen – Schütte nur zu, ich will es leiden. – In einer Nacht, wie diese? O Regan, Gonerill, euern alten guten Vater, dessen ehrliches Herz alles gab! – O auf diesem Wege liegt Wahnwitz; ich muß ihm ausweichen.« –


Aber vergebens bemüht er sich hierum; indem er daran denkt, wie er ihm ausweichen will, geht er hierdurch eben gerade auf ihn zu. Dies alles liegt in der Natur unsrer Leidenschaften. Wenn wir sie bekämpfen wollen mit Betrachtungen, ohn' ihnen andre Leidenschaften dabey entgegen zu stellen: so kämpfen wir sie nur noch stärker. – – Kent fährt fort zu bitten, daß der König doch hineingehen solle:

»Ich bitte dich, (antwortet Lear) geh du selbst hinein; sieh, wie du dir helfen kannst. – Dieser[125] Sturm ist gut; er erlaubt mir nicht an Dinge zu denken, die mich noch stärker angreifen würden.« – Es hat das Ansehn, als ob er sich hier von der Idee seiner Leiden losmachen wollte. Solche Vorsätze faßt jeder Mensch, so lang' er noch ein Quentchen Vernunft hat; allein hier sind sie schon zu genau mit dem Leidenden zusammengewachsen, als daß er es könnte, oder ernstlich wollte. – »Ich will hinein gehen!« – fährt er fort, und es dünkt mich, als ob ich in diesem Augenblick den Steuermann das Ruder des bestürmten Schiffs verlassen, und das Schiff den Wellen übergeben sähe. Shakespear hat diesen Sturm ganz vortreflich genützt. Indem dadurch die ganze Situation des Lear schrecklicher und bejammernswürdiger gemacht wird, so hat es zugleich das Ansehn, als ob dieser Sturm den alten Mann im Laufe zur Raserey dadurch aufhielte, und ihn über seine innern Leiden zerstreuete. Er dient dem Dichter dazu, den König die verschiedenen Stufen zur Raserey allmählig hinauszuführen; wir sehn sie ihn hierdurch eine nach der andern besteigen; denn dieser Sturm selbst treibt den König in die Hütte des gedachten Wahnsinnigen; und wie sehr, und wie sehr natürlich die Raserey des alten Lear hierdurch befördert wird, werden wir gleich sehen:
[126]

In, boy, go first. You houseless poverty –

Nay, get thee in; I'll pray, and then I'll sleep –

Poor naked wretches, wheresoe'er you are,

That bide the pelting of this pitiless storm!

How shall your houseless heads, and unfed sides,

Your loop'd and window'd raggedness, defend you

From seasons such as these? – O, I have ta'en

Too litlee care of this! take physick, Pomp;

Expose thou may'st shake the superflux to them,

And shew the Heavens more just.


»Hinein, Junge, zuerst! (sagt er zum Kent) – Ihr Dürftigen, die ihr jetzt ohne Dach seyd – – Nun, geh doch – ich will beten, dann will ich schlafen – Arme, nackende Unglückselige, wo ihr auch seyd, der Wuth dieses unbarmherzigen Sturms ausgesetzt! Wie sollen eure unbedeckten Häupter, und ausgehungerten Seiten, eure zerlumpte, durchlöcherte Blöße euch gegen ein Wetter, wie dieses ist, schützen? – O! ich hab zu wenig hieran gedacht! Nimm Arzney ein, Pracht! setze dich in die Umstände, zu fühlen, was diese Elenden fühlen, damit du ihnen deinen Ueberfluß zuwerfest, und die Gerechtigkeit des Himmels gerettet werde!«


Ein neuer Zusatz zu den Leiden des alten Königs entsteht aus der Vorstellung, daß er, in seinen[127] guten Tagen, nicht an die Leiden der Unglücklichen gedacht habe; und diese Vorstellung selbst kann sehr leicht aus der ganzen Verfassung desselben entspringen. In Menschen von mehr empfindlichem als stolzem Herzen entstehen Vorwürfe und Unzufriedenheit über sich selbst, in großen Leiden, sehr natürlich; und wenn die Leiden unüberschwinglich groß sind, entstehen sie in allen Menschen. Man sucht die Ursache des Unglücks, das uns niederdrückt; – und wenn sich nun eine Ursache dazu in uns selbst findet; so wird das Leiden darüber gewiß nicht dadurch vermindert. Auf diese Art wird der Gemüthszustand des Königs dem Punkte immer näher gebracht, auf welchem seine Vernunft endlich seinen Leiden ganz unterliegt. –

Sie kommen in die Hütte, in welcher sie den jungen Edgar, wie gedacht, als einen tollen Menschen verkleidet, finden; das erste, was der König fragt, ist:


Didst thou give all to thy daughters? and art thou come to this?


»Gabst du deinen Töchtern alles, daß du in diesen Zustand gekommen bist?«


Hier sieht man, wie voll des alten Mannes Herz ist! Er sieht und hört um sich her nichts als Schrecken und Leiden; und dies alles muß von mißrathenen Töchtern kommen. –[128]

So wie Edgar fortfahrt, Unsinn zu reden, eben so wird der König immer heftiger in seinen Ausdrücken, und verwirrter in seinen Gedanken. Die Bemerkung ist traurig; aber sie ist gewiß wahr, daß Raserey so ansteckend ist, als irgend eine Krankheit; es versteht sich, bey Leuten von empfindlichem Herzen, und in welchen der Saame zu diesem Unglück liegt. Wer sich mit der Geschichte der Tollhäuser bekannt gemacht hat, wird durch mehr als einen Umstand diese Bemerkung bestätigt haben. Ich weis mehr als einen Prediger eines solchen Hauses, der sehr vernünftig und gesund dahin berufen wurde; und binnen kurzer Zeit sich unter der Zahl seiner Zuhörer befand; und ich habe zwey unglückliche Personen gekannt, die, unter dem Vorwand von Raserey, in solche Häuser gebracht wurden, weil sie ihren Verwandten Schande gemacht haben sollten; die aber sehr gesund am Verstande waren; allein es nicht lange mehr blieben, nachdem sie die Gesellschaft der Tollen eine Zeitlang gehabt hatten.

Lear fährt fort, alles, was er hört und sieht, auf seine Töchter zu beziehen:


What, have his daughters brought him to this pass?

Coul'dst thou save nothing? did'st thou give 'em all? –

Now all the plagues, that in the pendulous air

Hang fated o'er mens' faults, light on thy daughters!
[129]

»Wie? haben seine Töchter ihn dahin gebracht? Konntest du nichts davon bringen? gabst du ihnen alles? – – Nun alle die rächenden Plagen, die in der schwebenden Luft, über den menschlichen Uebelthaten hangen, blitzen auf deine Töchter!« –


Kent wagt es zu sagen, daß der Unglückliche keine Töchter habe; der Widerspruch setzt den König in Feuer; und von diesem Augenblick an, scheint er auf den Kent nicht mehr so viel zu hören, als zuvor:


Death! traitor, nothing could have subdu'd nature

To such a lowness, but this unkind daughters.

– – – – – – – – – –

Judicious punishment! 'twas this flesh begot

Those pelican daughters.


»Tod! Verräther! nichts könnte die Natur zu einer solchen Erniedrigung herunter gebracht haben, als undankbare Töchter. – Dieses Fleisch war es, das diese Pelikantöchter zeugte.« –


Edgar ist beynahe nakt; der Sturm dauert fort; er klagt über Kälte, und schon hat ihn sein vermeyntes Leiden so genau mit dem Lear verbunden, daß dieser anfängt, sich seine Kleider aufzureißen, um so nakt zu seyn, als Edgar. Es ist nichts gewisser, als daß gleiches Unglück, gleiche Leiden zwey Menschen sehr genau an einander ketten; und Lear kann nicht glauben, daß man durch andre[130] Menschen so gräßlich leiden könne, als durch Töchter: so groß sind seine Leiden! – Diese vermeynte Aehnlichkeit nun, will er in allem vollkommen machen. So wie Alexanders Hofleute, ihrem Herrn zu Ehren, sich krumme Hälse machten: so will Lear, seinem neuen Freunde zu gefallen, auch nakt seyn, wie er. Was aber dort aus Schmeicheley, und mit Vorsatz und Ueberlegung geschah, geschieht hier aus einer sympatetischen Bewegung. Und diese kann gewiß in allen sehr rührenden Situationen statt finden.


Thou wert better in thy grave, than to answer with thy uncover'd body this extremity of the skies. – Is man no more than this? Consider him well. Thou ow'st the worm no silk, the beast no hide, the sheep no wool, the cat no perfume. – – An accommodated man is no more but such a poor bare, forked animal as thou art. – Off, off! you lendings, come, unbutton here! –


»Besser du wärest, sagt Lear dem, über kalten Wind klagenden Edgar, in deinem Grab, als deinen unbedeckten Kopf diesem Ungewitter entgegen zu stellen. – Ist der Mensch nicht mehr, als das? Betracht' ihn recht! Du bist dem Wurm keine Seide schuldig, den wilden Thieren keinen Pelz, dem Schaafe keine Wolle, der Bisamkatze keinen guten Geruch! – – Der unaufgeschmückte Mensch ist nichts mehr, als[131] ein solch armes, naktes, gabelförmiges Thier, wie du bist. Weg, weg, du geborgter Plunder! kommt, knöpft mich auf ....«


Hier will er sich entkleiden; und man sieht ihn nun seinem Mitbruder im Leiden immer mehr ähnlich werden. Kent, und sein Hofnarr halten ihn vom Auskleiden ab; und der alte Gloster kommt, um ihn an einen bessern Ort abzuholen; aber er will hiervon nichts wissen. Er will nur mit dem tollen Edgar sprechen; er macht ihn zu seinem Philosophen; und jedes Wort, das der alte König jetzt sagt, verräth schon Unsinn. Er ist nicht mehr von seinem Mitbruder zu trennen; und der alte Gloster muß auch diesen jungen Menschen mitnehmen, wenn er den König fortbringen will. »Ich will immer bey meinem Philosophen bleiben!« sagt er, eh' er abgeht. Er vergißt seine Töchter, weil er jemand findet, an welchem er sich, in seinem Leiden, der Aehnlichkeit wegen, festzuhalten getraut; dies kann freylich aber kein anderer seyn, als einer, der seiner Raserey immer mehr Nahrung giebt. – Wie wir ihn, gleich darauf, in einem Meyerhofe wieder finden, sehen wir ihn beynahe ganz unsinnig schon. Indem der Hofnarr Possen macht: so stößt er Wahnwitz heraus. Er hat schon mehr von seinem gefundenen Freunde angenommen; hin und wieder sind noch Sonnenblicke:


[132] Then let them anatomize Regan – see what breeds about her heart. – Is there any cause in nature that makes these hard hearts?


»Laßt sie Regan anatomiren – Seht, was in ihrem Herzen ausgebrütet wird. – Ist irgend eine Ursach in der Natur, die solche harte Herzen macht?« – –


Gleich darauf fällt er in Possen; – und ich kann es mir kaum verwehren, zu denken, daß Shakespear so gar dem guten Lear seinen Hofnarren zugesellet habe, (der zwar unter dem Ansehn von Posse oft bittre Wahrheiten sagt, die aber doch immer nur Possen scheinen) um auch durch solch Geschwätz noch eine Ursache mehr zur Raserey des alten Mannes herbey zu bringen; damit ja eine solch außerordentliche und schreckliche Wirkung alle nur mogliche und gehörige Ursachen und Veranlassungen habe. Es kann zwar sehr leicht seyn, daß Shakespear nicht so genau vor her über Ursach und Wirkung philosophirt, und eines gegen das andre so bestimmt abgewogen habe, wie ich es zu finden glaube; aber sein Beobachtungsgeist und sein glückliches Genie, das durch keine Vorurtheile aufgehalten, und durch keine unnütze Speculationen verdorben war, fand alle diese Sachen, ohne daß er sie suchen durfte. –

Wir finden den Lear erst lange nachher wieder auf dem Felde herumirrend, verlassen von allen,[133] auf eine phantastische Art mit Blumen geschmückt, und in dem völligen Zustande der Raserey; wir haben ihn dies allmählig werden sehen, und dürfen uns also nun nicht mehr wundern:


Ha, Gonerill! hah, Regan! they flatter'd me like a dog, and told me I had white hairs in my beard, ere the black ones were there. – To say ay, and no to every thing that I said. – Ay and no, too was no good divinity. When the rain came to wet me once, and the wind to make me chatter; when the thunder would not peace at my bidding; – there I found 'em, there I smelt 'em out. – Go to, they are not men o' their words; they told me I was every thing: 'tis a lie, I am not agueproof.


»Ha, Gonerill! ha, Regan! Sie streichelten mich, wie einen Hund, und sagten mir, ich hätte weiße Haare in meinem Bart, ehe noch die schwarzen da waren! – Ja und Nein zu allem zu sagen, was ich sagte – Ja und Nein, aber es war unächte Münze. Wie der Regen kam und mich durch und durch netzte, wie der Wind mich schaudern machte, und der Donner auf meinen Befehl nicht schweigen wollte, – da fand ich sie, da spürt ich sie aus! – Geht, geht! sie sind keine Leute, die auf ihr Wort halten; Sie sagten mir, ich sey alles; es ist eine Lüge; ich halte die Fieberprobe nicht!« –
[134]

Wie der blinde Gloster fragt, ob dies nicht der König sey: so antwortet er:


Ay, every inch a King.

When I do stare, see, how the subject quakes.

I pardon that man's life –


»Ja! jeden Zolls lang ein König! Wenn ich sauer sehe, seht, wie meine Unterthanen zittern! Ich schenke diesem Manne das Leben ...«


Hier läßt ihn Shakespear einen Ausfall aufs weibliche Geschlecht machen, der eben nicht der anständigste, aber gewiß in seiner Verfassung sehr natürlich ist. Der Dichter hat ihm noch so viel Vernunft gelassen, daß er so ohngefähr auf die Ursach seiner Leiden sich zurück besinnen kann: und was ist natürlicher für einen höchst Elenden, als sich mit seinem Elende zu unterhalten?


Down from the waste they are centaurs, though women all above: but to the girdle do the Gods inherit, beneath is all the fiends. There's hell, there 's darkness, there is the sulphurous pit – fie, fie!


»Von der Hüfte herab sind sie Centauren, obgleich von oben her ganz weiblich; bis zum Gürtel wohnen lauter Götter; weiter unten ist alles mit Teufeln angefüllt. Hier ist die Hölle! hier ist Finsterniß, – hier ist der brennende, siedende Schwefelpfuhl – pfuy, pfuy! –
[135]

– Gloster will ihm hier die Hände küssen«; aber er antwortet:


Let me wipe it first, it smells of mortality!


»Ich will sie vorher abwischen; sie hat einen Todtengeruch!« –


Und dies Bewußtseyn, das der alte Mann von seinem Unglück hat, trägt nicht wenig dazu bey, ihn anziehend für uns zu machen. –

Ich eile über vieles weg, das nichts als lauter Unsinn ist, wie natürlich in dieser Situation, vieles nichts als Unsinn seyn konnte. Aber dieser Unsinn ist immer noch sehr rührend; und es scheinen immer noch Sonnenblicke durch, die ihn aufhellen, und desto rührender machen. Ich muß es besonders anmerken, daß Shakespear hier den Lear, so wie im Hamlet die Ophelia, mit Blumen geschmückt und beschäftigt, auftreten läßt; und daß mich dies ein Zug dünkt, der mit solcher Gemüthsverfassung zusammen stimmen kann. Ich meyne nämlich mit einer zärtlichen, sanftern, vielleicht schwächern Gemüthsverfassung, wenn sie in Raserey verfällt; diese wird ins Kindische ausarten; und ein Geschäft und ganzer Schmuck von Blumen ist ein Zug aus den Kinderjahren. Bey Personen von stärkerm und heftigerm Geist wird freylich die Raserey anders wirken; ob diese Wirkung aber rührender und anziehender[136] ist, als jene, wag ich nicht zu entscheiden? – Indessen ists billig, daß ich hiervon ein Beyspiel gebe. Das Trauerspiel des Seneka, der rasende Herkules, ist bekannt. Ich weis es sehr gewiß, daß Herkules anders rasen muß, als Lear; und daß, bey verschiedenen Personen, Aehnlichkeit in gewissen Situationen verlangen, die allereinfältigste aller Foderungen ist. Ich glaube nur, daß wenn es dem Dichter frey stehet, einen Charakter hiezu sich zu bilden, welchen er will, (voraus gesetzt, daß er eines solchen Charakters nöthig hat, um das Resultat seines Werks hervorzubringen) – er denjenigen wählen solle, der den mehrsten Eindruck in dieser Situation macht. Hierbey können freylich Ausnahmen sich befinden. Der Dichter kann, z.B. nicht die Absicht haben, uns sehr für die wahnwitzige Person interessiren zu wollen; dann muß er freylich einen andern Charakter dazu wählen. Wie vortreflich unter andern Lessing35 dies, in[137] seiner Emilia Galotti, im Charakter der Orsina gethan hat, kann ein jeder sehr leicht sehen, wenn er nur bedenkt, daß es nicht die Absicht des Dichters war, uns für diese Person auf die höchste Art einzunehmen; und daß er dies nicht durfte, wenn er nicht seiner Emilia Galotti dadurch schaden, und die Gräfinn zur Hauptperson machen wollte. – Eben auf diese Art, kann die übrige Situation einer Person den Dichter verhindern, nicht diese dazu zu wählen, die den mehrsten Eindruck in einem so traurigen Zustande machen würde; dieser Zustand kann sich vielleicht nicht mit dem übrigen Ganzen der Person vertragen. In solchen Umständen wär' es freylich Thorheit, Dinge zu fodern, die nur dann, wann solche Person die Hauptperson seyn soll, und wann in der übrigen Situation derselben, der Sache selbst nichts zuwider ist, statt finden können. Ich sage auch nicht, daß geradeswegs leidende Unschuld so weit gebracht werden müsse; vielleicht könnte dies leicht zu scheußlich werden; ich schränke meine Foderung darauf ein, daß, wenn der Dichter alle mögliche Freyheit in der Bildung seiner Charaktere hat, die fühlbarern, sanftern, schwächern, in solchen Situationen den tiefsten Eindruck, – und die Sache selbst wahrscheinlicher machen; und daher, aus der erstern Ursache, zu Hauptpersonen die schicklichsten sind. –[138]

Einige der vorangeführten Hindernisse waren es, ohne Zweifel, die den Seneka vermochten, seinen Herkules zwar rasen, aber nicht dabey leiden zu lassen. Die wichtigste Ursache hiezu lag wohl in dem schon bekannten und angenommenen Charakter des Helden, und in der Denkungsart und in den übrigen Einrichtungen des Römischen Volks; doch es liegt außer meinem Wege, die Veranlassungen des Dichters hier alle zu untersuchen, und den Unterschied zu zeigen, der sich so sehr, zum Vortheil des Euripidischen Herkules, im Ausdrucke, zwischen diesem und dem Herkules seines Nachfolgers befindet: mir ist es hier um den bloßen Ausdruck zu thun, in so fern nämlich wir einen bloß Rasenden darinn erkennen, der nicht von seiner Raserey leidet.

Es ist, wie bekannt, Juno, die mit dieser Raserey sich am Herkules rächt, und sie in ihm erzeugt. Diese Art ihrer Entstehung, die der Glaube der damaligen Zeit unterstützte, ist jetzt ganz unbrauchbar; aber ich darf daher auch den Leser nicht durch alle die Stufen bis zur Entstehung dieser Raserey hinaufführen. Sie äußert sich im vierten Akt, indem Herkules den Göttern das Opfer für den Sieg über den Lycus, und den Mord desselben, bringen will, mit einemmal:


– – Sed quid hoc? medium diem

Cinxere tenebrae: Phoebus obscuro meat[139]

Sine nube vultu, quis diem retro fugat,

Agitque in ortus? unde nox atrum caput

Ignota profert? unde tot stellae polum

Implent diurnae? primus en noster labor

Coeli refulget parte non minima Leo

Iraque totus servet et morsus parat;

Iam rapiet aliquod sidus: ingenti minax

Stat ore, et ignes efflat, rutila jubam

Cervice iactat: quidquid autumnus gravis,

Hyemsque gelido frigida spatio refert

Uno impetu transiliet: et verni petet

Frangetque tauri colla.


v. 939 seq.


Und in der Folge:


In alta mundi spatia sublimis ferar;

Petatur aether, altra promittit pater

Quid si negaret? non capit terra Herculem,

Tandemque superis reddit. En ultro vocat

Omnis deorum coetus, et laxat fores,

Una vetante, recipis et referas polum?

An contumacis januam mundi traho?

Dubitatur etiam? vincla Saturno exuam

Contraque patris impii regnum impotens

Avum resolvam, bella Titanes parent

Me duce furentes: saxa cum silvis traham,

Rapiamque dextra plena Centauris juga. etc.


Herc. Fur. (Edit. Farn. p. 248. s.)


»Wie? welche Finsternisse umhüllen den Mittag? Warum schießt Phöbus so finstre Blicke, ohne daß ihn eine Wolke verdunkele? Wer macht aus dem hellen Tage Dämmerung?[140] Woher die Nacht, die ihr schwarzes Gefieder ausbreitet? Woher die zu frühen Sterne, die den Pol erfüllen? Seht, dort flimmert das erste Ungeheuer, das ich bezwang, der Löwe! Er glüht vor Zorn, und droht tödtliche Bisse. Er speyet aus dem offenen Rachen Feuer, und die goldgelbe Mähne sträubt sich empor. Jetzt wird er ein Gestirn herabschleudern; er wird des harten Herbstes und des frostigen Winters Zeichen überspringen, den Stier im Frühling anfallen, u.s.w.«


Ich will es gerne zugeben, daß die Stelle, vor sich betrachtet, sehr schön seyn mag; nur dünkt sie mich nicht so tief ins Herz des Lesers zu gehen, als eben die, den Wahnsinn des Lear ausdrückenden Stellen. –

Lear wird endlich vor seine, ihm aus Frankreich zu Hülf eilende, und ehedem von ihm verstoßene Tochter gebracht. Man mag noch bemerken, daß der Dichter vorher den alten Mann uns nur da (4ter Aufz. 7ter Auftr.) ganz seiner Sinne beraubt, gezeigt hat, wo er ihn, ohn' alle Begleitung, verlassen von seinem Kent, den er sehr künstlich von ihm zu entfernen gewußt hat, und so gar von seinem Hofnarren, erscheinen läßt. Vielleicht hat Shakespear geglaubt, daß ein Mensch von allen Nebenmenschen aufgegeben, und geschieden, – wenigstens[141] ohn' allen Freund und allen Zuspruch seyn müsse, um so ganz Menschen unähnlich zu werden. Er hat, ehe er vor seine Tochter gebracht wird, eine lange Zeit geschlafen; man hat ihm andre Kleider angezogen, als er sie in seiner Raserey trug: beydes Vorbereitungen, um die Wiederkehr seiner Vernunft wahrscheinlich zu machen. Durch das erste wurden seine Sinne beruhigt und gestärkt, indem er von den Vorstellungen an die Grausamkeit seiner Töchter abgezogen wurde; durch das andre sollt' ihm, beym Erwachen, das Andenken an seinen vorigen Zustand entzogen, und er gleichsam mit sich selbst unbekannt, und ihm alle Idee von dem, was er gewesen war, genommen werden. Wie er endlich, in Gegenwart der Cordelia geweckt wird: so zeigen sich alle die, aus den vorher angeführten Ursachen natürlich erfolgenden Wirkungen. Er ist sich nichts bewußt:


You do me wrong to take me out of the grave.


»Ihr handelt nicht recht an mir, mich so aus meinem Grabe zu nehmen!«


Es scheint zwar, als ob er seine, ehemals von ihm beleidigte Tochter erkenne, aber er denkt sie, und sich in ganz andern Zuständen, als sie es sind:


Thou art a soul in bliss; but I am bound

Upon a wheel of fire, that mine own tears

Do scald like molten bad.
[142]

»Du bist ein seliger Geist, und ich bin an ein feuriges Rad gebunden, welches meine eigenen Thränen gleich zerschmolzenem Bley erhitzen.«


Man sieht es sehr leicht, daß der alte Mann noch nicht wieder seiner mächtig ist; und wie sehr hierinn Shakespear nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit zu Werke gegangen, wird jeder Beobachter sehr leicht finden. Auf Anrathen des Arzts läßt man ihn einige Augenblicke ruhig; und nun hebt er an:


Where have I been? where am I? fair day-light!

I'm mightily abus'd; I should even die with Pity,

To see another thus. I know not what to say;

I'll not swear, these are my hands: let's see,

I feel this pin prick: 'would I were assur'd

Of my condition.


»Wo bin ich gewesen? Wer bin ich? Schönes Tagelicht! Ich bin sehr übel zugerichtet! – einen andern so zu sehen, könnte mich vor Mitleid sterben machen. Ich weis nicht, was ich sagen soll; ich wollte nicht schwören, daß dieses meine Hände sind. Laßt sehen, ich fühle diesen Nadelstich. – Ich wollte, ich wäre gewiß, was ich bin.«


Hier sagt die betrübte Tochter: »O – strecket eure Hand zum Segen über mich aus!« und der alte Mann, statt aller Antwort, kniet nieder. Hieraus läßt es sich abnehmen, wie sehr geschwächt,[143] wie sehr heruntergedrückt der Geist des Lear, durch den vorhergehenden Zustand, geworden war; seine Raserey hat das bisgen Kraft, das er noch übrig von Alter und Unglück hatte, ganz vernichtet; er schien nur in den vorigen Scenen bisweilen thätig und stark, weil er rasete; nun diese Raserey anfängt nachzulassen, sieht man die traurigen Wirkungen, die sie auf ihn gehabt hat. Und das Gefühl von dem Unrecht, das er dieser Gestalt (Cordelien) gethan, vereinigt sich mit dieser natürlichen Schwäche. Als seine Tochter ihn aufstehen heißt: so antwortet er:


Pray, do not mock me!

I am a very foolish fond old Man,

Fourscore and upward; and to deal plainly,

I fear, I am not in my perfect mind.

Methinks, I should know you, and know this man;

Yet I am doubtful: for I'm mainly ignorant,

What place this is; and all the skill I have,

Remembers not these garments; nay I know not

Where I dit lodge last night. Do not laugh at me,

For, as I am a man, I think, this lady

To be my child Cordelia.


»Ich bitte euch, spottet meiner nicht! Ich bin ein sehr thörigter, weichherziger alter Mann, achtzig und drüber, und, aufrichtig zu seyn, ich fürchte, ich bin nicht bey meinem völligen Verstande. Mich dünkt, ich sollte euch und diesen[144] Mann (Kent) kennen, und doch zweifle ich; denn ich weis gar nicht, was für ein Ort dies ist, und so sehr ich auch mich besinne, kenne ich diese Kleider nicht; nein; ich weis nicht, wo ich in der letzten Nacht übernachtete. Lacht nicht über mich; denn, so wahr ich ein Mann bin, ich denke, diese Dame ist mein Kind Cordelia.«


Man sieht hier die allmählige Rückkehr der Vernunft, – und die guten Wirkungen, die das Umwechseln der Kleider so wohl, als der Schlaf, hervorgebracht hat. Er fängt an, sich zu besinnen. –

Als Cordelia, weinend, ihm antwortet: so sagt er:


Be your tears wet? Yes, faith; I pray you, weep not.

If you have poison for me, I will drink it;

I know, you do not love me; for your sisters

Have, as I do remember, done me wrong.

You have some cause, they have not.


»Sind eure Thränen naß? Ja, bey meiner Treue! ich bitte euch, weinet nicht mehr. Wenn ihr Gift für mich habt, so will ichs trinken. Ich weis, ihr liebet mich nicht; denn eure Schwestern haben, wie ich mich erinnere, mir übel begegnet; ihr habt einige Ursache, sie nicht.«
[145]

Man sieht, daß sein erstes Besinnen zugleich das Erinnern, an sein gelittenes, – und auch an sein gethanes Unrecht ist. Er scheint mißtrauisch zu seyn, ob auch eine Tochter wirklich weinen könne? ein Zug, der ganz vortreflich den Zustand seiner Seele ausdrückt. Er ist und bleibt übrigens immer noch unruhig und verwirrt; unbekannt mit seiner ganzen Situation, ists, als wenn er bis jetzt nichts, als geschlafen hätte; und nun erwacht wäre. Er weis nicht, wo er ist; und, um ihn durch mehrere Bewegung und Zerstreuung zu heilen, führt man ihn ab, indem er sagt:


You must bear with me;

Pray you now, forget and forgive;

I am old and foolish.


»Ihr müßt Geduld mit mir haben! Nun, ich bitte euch, vergeßt, und vergebt; ich bin alt und albern.« –


Ich höre hier mit der innern Geschichte des alten Lear auf, ohngeachtet, bis an den Ausgang seines Lebens und des Trauerspiels, noch mancherley Betrachtungen über die Kunst seines Dichters zu machen wären. Vielleicht hab' ich vielen Lesern aber schon jetzt zu viel gesagt? Diejenigen, die da glauben, daß dies wohl deßwegen möglich sey, weil man den Shakespear in sich selbst studiren müsse,[146] haben Recht; und nur um dies Studium zu erleichtern, oder dazu aufzumuntern, hab' ich mir es nicht verwehren wollen, einen Theil der Kunst zu entwickeln, mit welcher der Engländer diesen Charakter behandelt hat. Es bleibt aber immer noch im Dichter selbst viel zu lernen übrig. – Wir haben keine solche Bühne, als die Engländische es ist. Wenn wir also nicht die Shakespearsche Behandlung der Charaktere auf dem Theater nützen können: so ist sie uns doch im Roman erlaubt. Und um hierauf aufmerksam zu machen, hab' ich ehe ein Beyspiel aus diesem Dichter, als vielleicht das Beyspiel der Clementina aus dem Grandison wählen wollen. Ich weis, daß lange nicht alle Züge, die ich hier herausgehoben habe, und vielleicht die mehrsten nicht, geradeswegs das Gefühl des Erhabenen in uns erzeugen; sie wechseln zu sehr mit bloß rührenden ab; und das Leiden des alten Lear ist zu groß, als daß wir nicht dadurch mit heruntergedrückt werden sollten; aber ich habe mehr als eine Ursache gehabt, nur diese Züge, so wie sie da sind, aufzustellen. Einmal hab' ich schon vorhin gesagt, daß eine ganze Reihe von Vorstellungen, die alle das Gefühl des Erhabenen allein in uns erzeugen, uns zu sehr anstrenge, um uns auf die höchste Art zu vergnügen; und daß daher die Einmischung sanfterer und rührenderer Vorstellungen nothwendig[147] sey, um unsre Aufmerksamkeit zu erhalten. Und dann verschaffte mir diese Vereinigung zugleich die Gelegenheit, es zeigen zu können, wie eigentlich Shakespear in der ganzen Zeichnung des Lear zu Werke gegangen; und, wenn ich mich nicht irre, so ist die Entwickelung dieses wie das wichtigste, was bemerkt zu werden verdient.

34

Ein Franzose würde lachen, wenn man ihm sagte, daß Shakespear das Verlegen der Scenen besser verstanden, als all' ihre großen Meister; und daß keiner, so wie er, den rechten Ort zu wählen gewußt habe. Warum ist die Scene im zweyten Akt des Lear lieber auf dem Schlosse des Gloster, als in der Residenz des Herzogs von Albanien? dahin wollte ja Lear: warum mußt' er sich mit seiner Tochter hier treffen? Ich weis nicht, daß ich irgend eine Bemerkung hierüber gelesen hätte. Wenigstens ist die nicht genug, daß die Tochter ihm aus dem Wege reisen wollen; und ihn also hier ehe, als in ihrem Pallast treffen müssen: auch die nicht, daß Gloster der Liebhaber der einen Tochter war, und sie also zu ihm kam; diese Umstände machen nur die ganze Zusammenkunft hier wahrscheinlicher; – aber wenn aus dem alten Lear das werden sollte, was er wirklich wurde: so mußte er nicht Trost und Zerstreuung von Menschen haben können; diese würde er in einer Residenz gefunden haben; aber in einem einzeln gelegenen Schlosse konnt' er sie nicht finden, und daß Meilenlang herum kein Mensch lebte. Man sehe also, wie weislich Shakespear eben diesen Ort gewählt habe, um dem Verstande des alten Lear den letzten Stoß zu geben, und wie er zugleich die Zusammenkunft hier wahrscheinlich zu machen gewußt. Und wars Tradition, die die Scene hierher verlegt hatte: so sehe man, wie der Dichter die Lage des Orts zu nützen verstanden. – Ich schiebe hierinn, wie die Erklärer so gerne thun, dem Dichter nichts unter; Gloster sagt selber, wie der alte Lear: »Auf manche Meilen herum ist hier kein Mensch.« –– Und wenn die Residenz des Herzogs von Albanien, nach damaliger Zeit, auch nichts mehr als ein solches Kastel, wie das vom Gloster war, so ists sehr begreiflich, daß es wenigstens in einer mehr angebauten Gegend gelegen habe.

35

So vortreflich Lessing hierinn zu Werk gegangen ist: so gerecht, dünkt mich, ist Richardson darinn zu tadeln. Die Geschichte der Clementina ist unstreitig vortreflich behandelt; aber vielleicht zu vortreflich. Ich meyne nichts, als daß der Dichter den Charakter der Clementina so sehr anziehend gemacht hat, und als Dichter um so sehr viel besser behandelt hat, daß man seine Hauptperson, die Henriette, sehr gern und ganz und gar bey ihr vergißt; – vielleicht noch mehr als vergißt.

Quelle:
Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman, Leipzig und Liegnitz 1774. , S. 105-148.
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