18.

[206] Ich hab' es sehr oft sagen hören, daß in dem Eigenthümlichen unsrer Nation nichts liegen solle, das der Dichter, und Schriftsteller überhaupt, als sehr anziehend gebrauchen könne. Ich gehöre gewiß nicht zu den Schmeichlern meines Vaterlandes; ich glaube, dem Leser bereits Beweise davon gegeben zu haben; aber wie man dies so gerade zu, ohn' alle Einschränkung hat sagen können, das ist mir von je her unbegreiflich gewesen. Zuvörderst sind wir immer noch Menschen; und, wenn der Verfasser der Schrift, über die moralische Schönheit, Recht hätte, so sind wir mehr Mensch, als alle andre Nationen. – Und aus dem Herzen des Menschen haben die guten Dichter vorzüglich, noch immer diejenigen Züge hergeholt, die in ihren Werken so höchst anziehend sind. Und sollten diese Züge nicht mit dem Nationellen Aeußern unsers Volks zu verbinden seyn? Oder sind wir, durch unsre äußere Form so sehr aller Empfindungen unfähig geworden, daß der Dichter alle Wahrscheinlichkeit beleidigen würde, der uns ein fühlbar, menschlich Herz gäbe? – Schwerlich würde solch[206] eine Meynung im Ernst durchgängig behauptet werden können; wenigstens würde das, was von uns, in gewissen Fällen hierinn gilt, auch von andern Nationen, und vielleicht von einigen noch mehr gelten müssen. – Doch hier ist nicht eigentlich die Rede von unsrer mehr oder wenigern Empfindsamkeit, von den Eigenschaften unsers Herzens, und dem Zustande unsers innern Seyns: es ist die Frage, ob die Eigenthümlichkeiten der Sitten unsers Volks so beschaffen sind, daß der Dichter sie gar nicht nützen könne? –

Es sey, für einen Augenblick, daß sich darinn so wenig Hervorstehendes, so wenig Anziehendes, und dagegen so viel Allgemeines, Alltägliches und Kahles findet, als man nur immer will. Wir wollen uns nur erst über das, was ich unter Eigenthümlichkeit der Sitten verstehe, und über den Vortheil, den der Dichter davon ziehen kann, und über die Nothwendigkeit, worinn er ist, sie zu gebrauchen; – darüber, sag ich, wollen wir nur erst uns mit einander vergleichen.

Der Dichter muß bey jeder Person seines Werks gewisse Verbindungen voraussetzen, unter welchen sie in der wirklichen Welt das geworden ist, was sie ist. Und hat er sie in seiner kleinen Welt geboren und erzogen werden lassen: so ist sie unter denen Verbindungen, die sich in seinem Werke befinden,[207] und deren Grundlage immer aus der wirklichen Welt genommen ist, das geworden, was sie ist. Durch diese Verbindungen nun, das heißt, mit andern Worten, durch die Erziehung, die sie erhalten, durch den Stand, den sie bekleidet, durch die Personen, mit denen sie gelebt, durch die Geschäfte, welchen sie vorgestanden, wird sie gewisse Eigenthümlichkeiten erhalten; und diese Eigenthümlichkeiten in ihren Sitten, in ihrem ganzen Betragen, werden einen Einfluß auf ihre Art zu denken, und ihre Art zu handeln, auf die Aeußerung ihrer Leidenschaften, u.s.w. haben; so daß all' diese kleinen Züge aus ihrem Leben und aus ihrem ganzen Seyn, mit dem Ganzen dieser Person, in der genauesten Verbindung als Wirkung und Ursache stehen, – und wir folglich auch viel von diesen kleinern Zügen sehen müssen, so viel nämlich, als mit dem Hauptgeschäft der Personen bestehen kann, wenn wir nicht ein Skelet vom Charakter vor uns haben, sondern die völlige, runde Gestalt derselben erkennen, und uns Rechenschaft von ihrem ganzen Thun und Lassen geben sollen. Denn die bloße Aeußerung der Leidenschaften einer Person, ihr bloßes Thun der Sache, so wie es ohngefehr aus dem Temperament und der jetzigen Lage der Person erfolgen kann, ist dem guten Dichter so wenig genug, – obgleich bey den mehrsten so sehr gewöhnlich –[208] daß er lieber von der Person gar nichts, als nur diese flache Oberseite zeigen wird. Es ist unmöglich, daß ohne diese kleinen Züge, das Gemälde aus dem Grunde hervortreten, und die Ründung erhalten könne, vermöge deren wir es nur als lebend, als wirklich erkennen. Ohne sie ist, wie gedacht, jeder Charakter ein dürres Skelet. Er läßt sich alsdenn eben so wenig sinnlich gedenken, als das Quadrat des Mathematikers. – Diese Züge in den Sitten finden sich nun, nicht sowohl in der Nation, als, um eigentlicher zu reden, in den verschiedenen Ständen und Einrichtungen eines Volks; und sie müssen daher auch unter uns seyn. Freylich finden sie sich auch in fremden Sitten; aber ich glaube nur, daß der Dichter, da er seine Nation immer vor Augen hat, ehe bey den Charaktern seiner Personen, wenn er sie aus seinem Volk nimmt, auf diese Eigenthümlichkeiten, auf diese Kleinigkeiten, wenn er seine Personen nun handeln läßt, aufmerksam seyn, und sie, nach Maaßgabe derselben, ihre Handlungen und Leidenschaften äußern lassen könne, als wenn er seine Charaktere von Fremden herholt. – Zugegeben auch also, daß das Ganze deutscher Sitten, Gebräuche u.s.w. nichts Anziehendes und Hervorstechendes habe, – zugegeben, daß sie nun so kalt, so einförmig, so strotzend oder so nachgeahmt sind, wie sie es wirklich sind: so kann der[209] Dichter doch in ihnen, mit leichtrer Mühe, und mit größrer Gewißheit, all' die tausend Kleinigkeiten finden, wodurch alle Begebenheiten seines Werks und alle Personen das Eigenthümliche erhalten, das sie individualisiret, und ihnen Leben und Wahrheit giebt.

Ein Mann, dessen Ansehn, so bald die Rede vom menschlichen Herzen ist, nicht von wenig Gewicht seyn kann, sagt von diesen kleinen Zügen: I think I can see the precise and distinguishing marks of national characters more in these – minutiae, than in the most important matters of state. – Und es ist doch unser Vorsatz, unser Wunsch, diese, einen Menschen vom andern unterscheidende Kennzeichen, und die Verschiedenheiten desselben, aus dem Dichter kennen zu lernen? – Man wende, was Sterne von ganzen Nationen sagt, nur auf einzelne Menschen an!

Freylich wird der größere Werth dieser kleinen Züge noch immer von der Stelle abhangen, die der Dichter ihnen giebt, und von dem Gebrauch, den er eigentlich von ihnen macht. Ich glaube nämlich, daß in einem Werke, dessen Innhalt einen gewissen Zeitraum zur Wirklichkeit erfodert, und in welchem also, von einem Ende zum andern, nicht lauter heftige Leidenschaften seyn können, wir von diesen kleinen Zügen mehrere sehen müssen, als[210] in den kürzern und wärmern Werken. Nicht, daß ohne diese Züge die wahre Aeußerung irgend einer Leidenschaft bestehen könnte, sondern daß, wenn das Herz heftig ausbricht, diese, durch menschliche Einrichtungen, dem Charakter gegebene Einschränkungen weniger sichtbar sind, und weniger ihren Einfluß auf diese heftige Aeußerung zeigen können, weil sie gleichsam als Werke der Kunst, der Erziehung, der Lebensart zu schwach sind, den Strom des Herzens zu lenken. Sie werden aber noch immer bey den Ursachen dieser Wirkung in Betracht kommen und genützt werden müssen. Der Unwille des Prinzen, in Lessings Emilia Galotti, über den Marinelli (Dritter Aufzug, Erster Auftritt) da der Prinz glaubt, daß dieser zu nachläßig oder zu sorglos für ihn, Emiliens wegen, gearbeitet habe, äußert sich zwar nicht mit der Heftigkeit, die die Einschränkungen des Standes niederreißen könnte; aber er äußert sich deßwegen nur desto richtiger. Der Prinz hat ein sehr lebhaft Temperament; und die Lebhaftigkeit, die sein Unwille dadurch erhalten müßte, würde noch vermehrt werden, weil er aufs heftigste verliebt ist; aber, diesem allen ohngeachtet, hat es Lessing ganz vortreflich zu zeigen gewußt, daß es der Herr ist, der mit seinem Unterthanen, mit seinem Diener spricht. In der fünften Scene des ersten Aufzugs[211] geht dieser Unwille nur weiter, weil die ganze Situation des Prinzen heftiger, unruhiger, dringender ist. Aber hier, an statt, daß ein andrer vielleicht eben deßwegen den Prinzen desto heftiger würde haben poltern lassen, und uns dadurch eine sehr niedrige Idee von seinem Fürsten gegeben hätte, (indem der Anlaß noch immer nicht höchst wichtig ist, und weil er dem Prinzen noch immer nichts kostet,) fertigt dieser hier den Marinelli mit einer Wendung ab, die ganz den Stand des Fürsten charakterisirt: (»Kalt und befehlend) Nun wissen Sie, was sie wissen wollen; – und können gehn!« Ich gesteh' es gern, daß ich aus einem solchen Zuge mehr lerne, als aus ganzen Trauerspielen. Ich weis gewiß, daß ein gewöhnlicher Dichter höchstens auf die Gemüthsfassung und das Temperament des Fürsten alleine gesehen, und, weil es der Unterthan ist, mit dem er redet, ihn desto mehr würde haben lermen lassen; an statt daß Lessing eben deßwegen ihn vielleicht kälter bleiben läßt, weil der Unterthan für den Fürsten sehr wichtig scheinen, oder der Fürst selbst wenig Fürstliches und sehr wenig Kluges haben muß, wenn er so gleich in Feuer und Flammen ist. – Wir sehen eben daselbst den Prinzen noch einmal unwillig über seinen Vertrauten. (Vierter Aufzug, Erster Auftritt.) Man erlaube mir einige Bemerkungen über[212] diese Scene. Erstlich ist die Neigung des Prinzen noch immer nicht befriedigt; – zweytens hat Marinelli, auf Rechnung des Prinzen, Dinge gethan, die der Prinz nicht billigen kann, und hat sie ohne Nutzen gethan; – der Prinz ist in seinen Hoffnungen nur noch mehr hintergangen; ferner, ist Marinelli selbst, entweder, weil er glaubt, jetzt mehr Verdienste um die Liebe des Prinzen zu haben; oder weil er von dem Grasen befreyt ist, (der natürlich seine Eigenliebe ein bisgen unterdrückt halten mußte,) sehr viel dreuster und naseweiser gegen seinen Herrn; – und endlich ist der Fürst schon heute öfter unwillig uber den Vertrauten gewesen: eine Sache, die den folgenden Unwillen gewiß befördert und vermehrt: – als daß hier nicht der Unwille des Prinzen sehr natürlich dauernder und anhaltender, und in einigen Augenblicken lebhafter seyn mußte, als er es in der vorigen Scene war. Die eigentliche Aeußerung dieses Unwillens aber ist eben so vortreflich, als vorher, behandelt. So wie der Prinz nämlich dort aufhört, das zu seyn, was er sonst für den Marinelli ist, sein Freund; so wie dort das, was er durch Umstände und Kunst geworden war, verschwand, und der Prinz eben durch seine Leidenschaft dazu wurde, wozu ihn die Natur machte – (und dahin führen uns unsre Leidenschaften alle) – zum Fürsten[213] nämlich, weil der Unwille nicht mächtig genug seyn konnte, ihn zum bloßen Menschen zu machen: – eben so wird er nun auch hier, (die Augenblicke abgerechnet, wo er alles vergißt, und nichts als Mensch ist; die Augenblicke, wo er drohend: Marinelli! sagt) – so gleich wieder zum Fürsten: »Ich will Rede! – Rede will ich!« – Der Ton, in welchem er alle die Entschuldigungen, alle die Rechthabereyen des Marinelli beantwortet, charakterisirt den Fürsten. So gleichgültig, mit einem »Nun gut, Nun gut« – konnte nur er die Prahlereyen des Günstlings abfertigen; der, wenn er nicht Günstling und Vertrauter aller Schwachheiten gewesen wäre, gegen einen Fürsten nicht hätte so reden können, wie er jetzt mit der größten Wahrscheinlichkeit redet, und reden mußte, wenn wir von dem Dichter nicht ein kahles, flaches Abbild eines Hofschranzen erhalten sollten. – –

So vortreflich hat Lessing den eigentlichen Stand des Prinzen, in so ferne er auf die Aeußerung der Leidenschaften seinen Einfluß hat, und die Eigenthümlichkeiten desselben, in diesen kleinen Zügen zu nützen gewußt. – Ein andrer würde nur die Leidenschaften, das Temperament, die gegenwärtige Situation der Person zu Rath gezogen; und alsdenn natürlich sie weit heftiger haben sprechen lassen, als es hier der Dichter so weislich gethan hat.[214] Es giebt Gelegenheiten, wo der Dichter diese Eigenthümlichkeiten noch besser nützen kann. Diese Gelegenheiten sind nämlich solche, wo keine größere Kraft da ist, die sich in die Handlungen der Personen mische, und sie dazu antreibe, so, daß alsdenn diese Eigenthümlichkeiten als Ursachen gebraucht werden, gewisse Wirkungen hervor zu bringen. Dies ist natürlich in ruhigern Gelegenheiten, bey kältern Begebenheiten, wo mehr der Mensch unter seinen Einschränkungen und erworbenen Gestalten, als unter seiner natürlichen erscheinen muß. Ich wollte fast darauf wetten, daß, wenn ein gewöhnlicher Dichter den Einfall gehabt hätte, welchen Lessing seinem Just, im zwölften Auftritte des ersten Aufzugs in Minna von Barnhelm, haben läßt, nämlich sich am Wirth für die Grobheiten zu rächen, die er seinem Herrn gemacht hat, – er den Werner, der den Anschlag ausführen helfen soll, wenn er ihn durch diesen auch mißbilligen, doch diese Mißbilligung durch ein: Schäme dich! das wäre schlecht! und dergleichen Formelchen mehr, würde haben ausdrücken lassen, an statt daß jetzt Werners Motiven zur Verwerfung der ganzen Justischen Einfälle aus dem Eigenthümlichen des Standes hergenommen sind, in welchem Werner das geworden ist, was er ist. »Des Abends? – aufpaßten? – ihre zwey, einem? – das ist[215] nichts – – Sengen und Brennen? – Kerl, man hörts, daß du Packknecht gewesen bist, und nicht Soldat; – pfuy! « – Das sind alles Ausdrücke, die, eben so wie Justs Vorschläge, den Packknecht, den ehrlichen Soldaten charakterisiren. – Und daß diese besondern Eigenthümlichkeiten des Soldatenstandes sich etwann hier nur finden, weil Lessing den Stand selbst auf die Bühne gebracht: das würde so viel heißen, als daß sie, wo die Rede bloß von Charaktern ist, nicht nöthig wären. Doch, zugeschweige daß dann der Vorschlag des Diderot nur die Stände auf die Bühne zu bringen, was ganz anders sagte, als Palissot56 ihn gesagt haben will, und er auch nur wirklich sagt: so wäre das, was ich oben von Emilia Galotti gesagt habe, die beste Widerlegung dieses[216] Einfalls. – Bekleiden wir nickt alle gewisse Stände? –

Man sieht aus den vorhergehenden Bemerkungen sehr leicht, daß selbst die unbedeutendesten Züge vortreflich genützt werden können, wenn die Wirkungen, die sie hervorbringen, – wie in diesem Falle, Werners Denkungsart, – uns angenehm unterhalten. Freylich müssen sie nicht umsonst und um wieder Nichts da seyn. Der Dichter muß sie in sein Ganzes, in seine Reihe von Ursach und Wirkung, einknüpfen; wir müssen an ihnen sehen, warum sie lieber da, als nicht da; – warum eben diese Personen, diese Individua vom Dichter gewählt sind?

Meine Foderung ist also nichts weniger, als willkührlich; der Gebrauch dieser kleinern Züge, entlehnt aus Stand und Sitten, nichts weniger als gleichgültig. – Ich habe gesagt, daß es Gelegenheiten, daß es Charaktere giebt, die zum Gebrauch dieser Züge überhaupt mehr Anlaß geben, weil sie ruhiger sind, als leidenschaftliche Ausbrüche. Ich finde zum Beweise meiner Meynung in dem Charakter des Marinelli so viel, daß man mir es verzeihen wird, wenn ich ihn hier mehr aus einander setze. Die Sache ist der Mühe werth. – Erst eine kleine Einleitung![217]

Wenn wir uns, so allgemein, als möglich, einen Hofmann gedenken: so ists ein Charakter, der, so lang es immer nur möglich ist, eine gewisse Gleichmüthigkeit, eine und dieselbe Gestalt, die ihm die Kunst und sein Stand gegeben haben, jedoch mit den gehörigen Anwendungen behalten muß. Ein solcher Charakter giebt natürlich mehr Veranlassungen, als irgend ein andrer, der ehe in heftige und sehr lebhafte Aufwallungen gerathen kann, zum Gebrauch dieser kleinern Züge und Eigenthümlichkeiten. Und Marinelli behauptet seinen Charakter so ganz vortreflich; der Dichter läßt ihn nur denn, wenn es seinem ganzen Charakter nach, ganz natürlich erfolgen muß, den eigentlichen Hofmann ablegen, und zur eigenthümlichen Natur des Menschen zurück kommen, daß ich gar kein besser Beyspiel zu finden wüßte, das meine ganze Meynung ins Licht setzen könnte.

Ich glaube wirklich, daß unsre tragischen Dichter deßwegen diese Rotundität ihren Gemälden zu geben vergessen, – wenn sie sie auch sonst zu geben wüßten – weil sie gewöhnlich ihre Personen in einer anhaltenden Wuth der Leidenschaften, ganz wider die Natur derselben, fortrasen lassen. Durch diesen Strom werden sie selbst nun mit hingerissen; und werden ihre Vernachläßigung, im Gebrauch dieser kleinen Züge, nicht gewahr. Wenn sie ihre[218] Personen ruhiger erscheinen ließen: so würd' es ihnen vielleicht weit weniger möglich seyn, diese Eigenthümlichkeiten nicht daran zu vermissen. – Vielleicht glauben sie auch, daß, da ihre Personen, durch die Verschiedenheiten ihrer Leidenschaften, – (aber eine sehr kahle und flache Verschiedenheit!) – von einander abgesondert und unterschieden sind, dies schon genug ist, um sie zu individualisiren. Aber freylich haben unsre Lustspiele, wenn ich sehr wenige ausnehme, das An sehn, als ob unsre Dichter von der ganzen Sache gar nichts wüßten? Dem Lustspiele fehlt alles, – und in jeder ruhigern Situation fehlt alles – wenn der Dichter nicht diese kleinen Abänderungen, diese kleinern eigenthümlichen Züge, wodurch die Person individualisirt wird, zu bemerken weis; die Tragödie ist schon immer Etwas durch die allgemeine Verschiedenheit der Leidenschaften charakterisirt. –

Ich komme auf den Charakter des Marinelli zurück. – Es ist der Marchese Marinelli, der Mensch Marinelli, der zuerst über seinen Feind, den Grafen Appiani, spottet, indem, im fünften Auftritt des ersten Aufzugs, die Rede auf die Verbindung des Grafen mit der Emilia kommt. Aber kaum hat er seiner mächtigern Empfindung, seinem Gefühle, als Mensch, Genüge gethan: ein Gefühl, das stärker ist, als die, aus unsern Verbindungen[219] entstandenen und angenommenen Gefühle, und daher lebhafter und schneller, und geschwinder, und zuerst sich äußert, wenn es nicht allmählig erst entsteht, sondern schon fertig in uns ist: – kaum, sag' ich, hat er jedoch so, als der Hofmann es mußte, spottend, seinen Haß befriedigt: so ist er so gleich wieder, und so ganz, selbst in seinem Spotte, bloß Hofmann, daß ihn dieser Zug alleine schon charakterisiren würde: »Hier ist es durch das Mißbündniß, welches er (Appiani) trift, mit ihm doch aus. Der Zirkel der ersten Häuser ist ihm von nun an verschlossen.« – – Wer erkennt hier nicht den wahren Kleinmeister, den wahren Hofmann, wie er es nämlich, mit den übrigen Eigenschaften und der Situation des Marinelli, seyn konnte? So wie jeder vernünftige Mensch das Geschäft, welches er treibet, das Leben, welches er führet, für das, ihm am besten zustehende, für das, im Ganzen nicht unwürdige, sondern für ein, in seiner Art verdienstvolles Geschäft hält: so erkennt der Geck, der eingebildete Thor sein Geschäft, seine Lebensart für die allervortreflichste aller Lebensarten. Ihm ist es nicht genug, daß er ein solches Leben führet; andre sollen es auch führen, oder wenigstens für so wichtig erkennen, als er es erkennt, wenn er sie nicht für das halten soll, – was er selbst ist. Wie kann es nun anders seyn,[220] als daß ein Hofmann, mit den übrigen Eigenschaften des H. Marchese, zu solch einem Gecken wird; und daß er es dem Grafen als einen großen Nachtheil anrechnet, wenn dieser nicht so gehandelt hat, wie der Hofmann, wahrscheinlicherweise, gehandelt haben würde? Und wenn die Verbindung des Grafen, in der eigenen Meynung des Marinelli, nicht unedel und erniedrigend wäre: so würde die bloße Erdichtung dieses Umstandes den feindseligen Hofmann zeigen. – Ein Hofmann ist überdem vielleicht mehr als ein ander Geschöpf der Gefahr ausgesetzt, sein Geschäft und seine Lebensart für die edelste zu erkennen. Die mehrsten beneiden diese Lebensart, ehe sie dazu kommen; und hören sie auch von andern beneiden; und wenn sie nun einmal darinn sind: so trägt sehr oft, vom ersten Minister bis zum Holzträger herab, ein jeder das seinige dazu bey, sie in diesen hohen Ideen, von der Wichtigkeit und der Anständigkeit ihres Geschäfts, zu unterhalten.

Eben so sehr wird der Hofmann, von der andern Seite, durch die Neugierde, das heißt, mit andern Worten, durch die Dumdreustigkeit charakterisirt, die der Marchese bey allen Gelegenheiten äußert, – die sich keiner, als der, welcher die Fürsten viel sieht, und sich selbst sehr hoch achtet, erlaubet, – und auch nicht immer bloß[221] deßwegen, sondern eigentlicher noch mehr, wenn er Gelegenheit gehabt hat, dem Fürsten ins Herz zu sehen. Neugierig ist jeder Hofmann. Womit könnt' er sonst sich, womit könnt' er andre unterhalten, – und mit was wichtigerm könnt' er sie sonst unterhalten, – als mit Neuigkeiten, und mit Neuigkeiten von seinem Fürsten? Das giebt allein das wichtige Ansehn, warum sie lieber Hofleute, als was anders geworden sind! Der Prinz selber weis auch dies vom Marchese: Was haben wir Neues, Marinelli? sagt er zum Willkommen. – Es ist also aus den Sitten des Hofmanns ein wahrer und vortreflicher Zug, wenn Marinelli hier den Prinzen, wahrscheinlicherweise zu sehr ungelegener Zeit, fragt: »Kennen Sie denn diese Emilia?« und wenn er hernach die ganze Geschichte von der bevorstehenden Verbindung des Grafen dem Prinzen mittheilt: »Die Trauung geschieht in der Stille« u.s.w. – Wie vortreflich zugleich der Dichter diesen Charakter gewählt und geformt, und gebraucht hat, um die Zuschauer mir dem Aeußerlichen und Vorhergehenden des Stücks, das sonst größtentheils so ungeschickt erzählt wird, bekannt zu machen, da die Zuschauer der Verständigung wegen damit immer bekannt gemacht werden müssen, das will ich, nur im Vorbeygehn, bemerken, und den dramatischen Kunstrichtern zu entwickeln überlassen.[222] – Eden so fährt Marinelli in dieser Scene (S. 26) fort, zu fragen: »Und also wohl noch weniger der Urheberinn Ihrer Qual gestanden haben?« – »Und das erstemal?« – Auch in dem ersten Auftritt des dritten Aufzugs ist so ein Zug noch angebracht. Wenn Marinelli neugierig ist: so muß er's immer seyn. Wenn er es nur da ist, wo uns seine Neugierde das Nothwendige lehrt: so ist er es wohl nur des Dichters wegen; und des Dichters wegen allein soll nun eine Person gar nichts seyn, weder neugierig, noch plapperhaft. Auch nützt dem Zuschauer diese Neugierde diesmal zur Verständniß nichts, weil er die Sache schon weis. – »Und lassen Sie doch hören, gnädiger Herr, sagt er, was Sie für sich selbst gethan haben. – Sie waren so glücklich, sie (Emilien) noch in der Kirche zu sprechen. Was haben Sie mit ihr abgeredet?« Nicht eigenthümlicher, nicht richtiger kann der Hofmann geschildert werden! Der Marchese Marinelli, wenn er nichts, als dies war, mit allen Leidenschaften und Eigenschaften, die er jetzt besitzt, würde doch nie so gehandelt, so gesprochen haben, wie der Kammerherr Marinelli jetzt spricht. Und dieser Kammerherr würde bey einem gewöhnlichen Dichter ein gefällig, höflich – vielleicht niederträchtig schmeichelnd[223] Ding gewesen seyn; ein Ding, das, nach Belieben, zu allem Ja! oder Nein! gesagt, und alles, was der Fürst nur gewünscht, gethan hätte; aber einen eigenthümlichen, individuellen Hofmann, der das ganze Gepräge eines Hofmanns trägt, so redet, – und auch so handelt, konnten wir wohl nur von Lessingen erwarten.

Was ein andrer ehrlicher Mann Zuversicht zu sich selber nennt, das wird sehr leicht, wenn das Uebrige der Person dazu nur irgend Anlaß giebt, in einem Hofmann zur Unverschämtheit. So ein Mann ist nun Marinelli! Seine Eitelkeit, genährt durch seinen Stand, kann sich nicht einschränken, nur auf ihn selbst zu sehen; sie treibt ihn weiter; er muß auch Eingriffe auf andre machen. Denn, daß er nicht einen Augenblick verlegen ist, da der Prinz nicht die Nachricht von Emiliens Verheyrathung glauben will, ist sehr natürlich, da er die Sache gewiß weis; und das würde er auch bey jedem andern Dichter vielleicht nicht gewesen seyn. Aber daß er gegen den Prinzen ein: »Sie sind außer sich, Gnädiger Herr!« – braucht; – daß er nicht einen Augenblick ansteht, alles zu erzählen, was er von der bevorstehenden Trauung Emiliens weis, ob der Prinz gleich tobt und wüthet; – dies ist gleich viel Unverschämtheit und Niederträchtigkeit, – oder, wenn man[224] sonst will, hofmännische Gleichmüthigkeit und Fassung, die nicht das Herz hat, böse zu werden, wenn der Prinz gleich ungerecht und grob wird, sondern der herrschenden Leidenschaft des Hofmanns, der Eitelkeit untergeordnet ist, die sich nährt, indem sie von solchen Dingen nicht gerührt wird, und dem Prinzen Sachen sagen kann, die er noch nicht weis.

Keine Scene charakterisirt den wahren Hofmann besser, als der Anfang der zehnten des zweyten Aufzugs, zwischen dem Grafen, und unserm Kammerherrn. Hier vereinigen sich, hohe Einbildungen von höfischen Angelegenheiten und Geschäften, – Freundschaftsgewäsche, so wie es der Mann führen muß, der den Ruf der Höflichkeit über alles schätzt – und hier um desto mehr sucht, da er betrügen will. – Man streiche die Züge von Freundschaftsversicherungen weg; die Scene wird bestehen können! Aber was werden wir vom Hofmann darinn sehen? Nichts! Ein Skelet von einem Charakter werden wir vor uns haben; um desto scheußlicher, da dies Skelet alsdenn der Marchese Marinelli seyn wird. Wir werden durch nichts von der Häßlichkeit, von der Niederträchtigkeit seiner Denkungsart abgezogen; wir sehen diese ohn' alle Hülle, ohn' alle Verschönerung, oder Glasur vielmehr, die sie durch die Sitten, das Eigenthümliche seines Stands erhalten hat, und[225] die freylich nicht dick genug ist, uns am Durchsehn zu verhindern, aber eben dadurch uns desto angenehmer beschäftigt. – Ich habe bey Gelegenheit des andern Theils dieser Scene eine andre Bemerkung bestätigt erhalten, die ich, in der wirklichen Welt zu machen Gelegenheit gehabt. Der Hofmann des kleinern Hofes, wie hier Marinelli, ist immer mehr eitel; und der Hofmann des grössern, des mächtigern Hofes, immer mehr stolz als der andre. Schon Vater Hagedorn erkennt kleiner Herren kleine Diener für schlechtere und elendere Geschöpfe, als die andern; und in der Wirklichkeit haben sie viele Lächerlichkeiten mehr an sich, weil sie gern das Ansehn von Würde und Wichtigkeit haben möchten, das sie selbst am Höflinge des größern und mächtigern Hofes finden. Daher verfallen sie natürlich auf Uebertreibungen, Prahlereyen und Affektationen: Dinge, die jene nicht nöthig haben, weil sie weniger Vergleichungen ausgesetzt, und, ohne ihr Zuthun, schon durch den Hof gehoben sind, dem sie dienen. So ist die Erhebung des, dem Grafen angetragenen Geschäfts, in dem Munde des Marinelli sehr wahr, und ganz vortreflich; wenn er aber Kammerherr eines großen Königs wäre, so würd' er von seinem Auftrag schon weniger hohe Einbildungen unterhalten dürfen, weil er dann glauben müßte, daß[226] der Auftrag schon, durch sich selbst, erhaben genug wäre. –

In der Folge dieser Scene wird der Hofmann in den bloßen Menschen; der Kammerherr in den Marchese verwandelt; und also, so vortreflich auch das Uebrige ist, liegt es außer meinem Wege.

Die hohen Einbildungen von der Macht und dem Ansehn des Fürsten in allen Fällen, von der Unfehlbarkeit und Untrüglichkeit der prinzlichen Vorzüge und Eigenschaften, – sind dem Höflinge und nur dem Höflinge – so eigenthümlich, daß Marinelli den Prinzen in dem dritten Auftritt des dritten Aufzugs daran erinnert: »Die Kunst zu gefallen, zu überreden, – die einem Prinzen, welcher liebt, so eigen ist« läßt ihn Lessing dem Prinzen zum Troste sagen. Obgleich Marinelli dadurch hier in den Verdacht eines eben nicht weit sehenden Geistes verfällt: so ist doch dieser Zug des eitlen Hofschranzen so wahr, so vortreflich, daß wir, ohne diesen Zug, eine Seite weniger von ihm erblicken würden. Wie könnte auch der gute Mann weiter und anders sehen lernen, da er nie Gelegenheit dazu hat? – Und eben dieser Zug findet sich auch im sechsten Auftritte: »So etwas von einer Schwiegermutter eines Prinzen zu seyn, schmeichelt die meisten.«[227] – Noch mehr aber sehn wir von dieser Seite des Hofmanns in dem ersten Auftritt des vierten Aufzuges. Seine Einbildungen gehn so weit, sie haben so feste Wurzel bey ihm geschlagen; oder sie machen ihn vielmehr, selbst wider allen Augenschein, so blind, daß er da, wo gerade das Gegentheil seiner Vermuthungen zutrift, sich an dem äußern Schein der Sache hält, (weil er ähnliches mit seinen Einbildungen haben konnte) und, indem die Mutter nichts weniger als aus Achtung für den Prinzen stille geworden ist, den Prinzen überreden will, daß sie eben nicht viel wider seine Liebe einzuwenden habe. Wenn dieser Zug Schmeicheley seyn sollte, wie er es doch, nach Anleitung der vorigen Züge ähnlicher Art, nicht seyn kann: so würde er weit weniger den wahren Hofmann charakterisiren. Wer dreust und unverschämt genug ist, anders zu reden, als er gesehen hat, ist nur ein Schmeichler; der aber weder sich, noch den Hof sehr lieben muß, weil er nicht seine Einbildungen für Wahrheiten hält. Aber dieser Zug ist nicht Schmeicheley. Und, indem der Hofmann von der einen Seite, als unfähig von seinen hohen Einbildungen abgebracht zu werden, charakterisirt wird: so zeigt uns der Dichter darinn zugleich das natürliche Maaß des Verstandes, das ein Höfling, wie Marinelli, haben kann, und berichtigt auf die[228] vortreflichste Art unsre Ideen von dem Manne. – Ich weis es gewiß, daß, wenn viele Dichter, Gebrauch von diesen letztern Zügen gemacht hätten, sie solche den Marinelli, als Schmeicheleyen, als Dinge, die er innerlich nicht glaubte, aber als Hofmann sagen müsse, – würden haben sagen lassen. Aber wie weit wären sie da unter der Idee des Höflings geblieben! Es ist nur ein sehr schaaler Höfling, ein Mann, der gewiß nicht lang' am Hofe gelebt hat, oder sein Glück daran machen, und noch weniger Günstling seines Prinzen werden kann, der nur, des Prinzen wegen, hohe Einbildungen vom Ansehn und dem Werth eines Prinzen in allen Fällen hat. Sein selbst willen hat er diese Ideen; sie sind mit ihm, so zu sagen, zusammen gewachsen; und es kann nicht anders seyn, wenn er nämlich bis zum Günstlinge oder Vertrauten eines Prinzen es schon gebracht hat. – Ich weis nicht einmal, ob der Charakter dieses Prinzen selbst einen Unterschied hierinn macht; ich wenigstens glaub' es nicht. – Man thut daher dem Hofmann auch im wirklichen Leben ein gewaltiges Unrecht, wenn man ihn der Schmeicheley gegen seinen Fürsten bezüchtigt, im Fall nämlich, schmeicheln so viel heißt, als Dinge sagen, die man selbst nicht glaubt. Der Hofmann, wenn er nur irgend den Beyfall des Fürsten hat, ist fast immer[229] sehr aufrichtig in jedem Lobe, in jeder Erhebung seines Herrn. Wir nüchternen Leute, würden Schmeicheleyen sagen, wenn wir das sagten, was ein Marinelli vorbringt. Daß wir sie ihm zuschreiben, entsteht aus einem Irrthum. Wir Menschen alle nämlich sind, in unsern Urtheilen von denen Gründen, nach welchen andre Menschen handeln können, zu geneigt, ihnen eben das Innre zuzuschreiben, das wir haben, nur zu geneigt, uns ihre Denkungsart eben so vorzustellen, wie es die unsrige ist, als daß wir uns nicht sehr oft über den wahren Werth der Thaten, die sie thun, und der Worte, die sie reden, irren sollten, wenn wir uns nicht ganz zu entkleiden wissen. – –

Ich endige hier die Reihe der Züge, die ich aus dem Charakter des Marinelli heraus gehoben, und durch welche ich gezeigt zu haben glaube, wie nothwendig, wie wichtig der Gebrauch aller Eigenthümlichkeiten der Sitten einer Person sey, wenn uns der Dichter ein wahres Individuum geben will. Ich habe nicht den ganzen Charakter des Marinelli aus einander legen, sondern nur bloß die Züge, die ihn, meines Dünkens, als Hofmann charakterisiren, bemerken wollen: Züge, die dem Charakter die eigentliche Ründung geben, – die vielleicht mancher Dichter weggelassen hätte, weil, wenn die Person nur ein Skelet[230] seyn sollte, sie ohne diese Züge auszubilden war, – und die jetzt die vortreflichsten Dienste in der Zeichnung gethan haben. Ich behaupte nicht, daß dies alle diejenigen sind, die den Hofmann im Marinelli vorzüglich und allein bezeichnen; es können sich deren leicht noch mehr in einem so vortreflichen Werke finden; zumal, da ich nur bis in den Anfang des vierten Aufzugs gegangen bin. Ich überlasse gern die fernere Zergliederung einem dramatischen Kunstrichter. Mir ist es nur darum zu thun, das Eigenthümliche dieser Züge und ihren Vortheil zu bestimmen. Diese Züge sind alle, wenn wir sie bloß als Worte, als Rede, betrachten wollen, eigentlich das, was wir Handlung im Ausdruck nennen. Sie öfnen uns das ganze Herz dessen, der sie sagt; wir sehen ihn gleichsam durch und durch. Alles was Marinelli thut, sind Handlungen des Hofmanns. Ihn bloß, als Hofmann, ohne diese Eigenthümlichkeiten schwatzen zu lassen, das haben schon mehr Dichter bey mehr Hofleuten gethan; es sind aber auch Charaktere darnach geworden, so flach, so einseitig; so platte und plumpe Schmeichler, das nichts drüber ist. Wer würde ohn' alle diese Kleinigkeiten von dem Marchese so viel sehen, als er jetzt, vermöge ihrer, von ihm sieht? – Laßt diese Eigenthümlichkeiten in andern Personen so unbedeutend, so schaal euch dünken,[231] wie ihr wollt: sie werden schon Werth genug für den delicatesten Witzling erhalten, wenn der Dichter sie zu solch' einem Gebrauch zu verwenden, ihnen solch eine Stelle zu geben weis. – Es braucht kein Hofmann zu seyn, der so gezeigt wird. Ich kenne einen Mann, dessen Geschmack freylich etwas eigensinnig ist, welcher in Herrn Brandes Grafen Olsbach keinen Zug eigenthümlicher, wahrer, und anziehender findet, als wo Frau Wandeln das Geld aufsammelt, (das ein Betrüger in der Angst fallen läßt) indem die andern Personen alle, ohn' Unterscheid diesem fliehenden Betrüger nachlaufen. Er behauptet, daß dies Zurückbleiben und Aufsammeln der Wandeln die Wirkung einer Ursache sey, die uns ganz bestimmt die Sitten und die Lebensart, und den ganzen Charakter derselben auf einmal erkläre; an statt, daß wir von den Aeußerungen der übrigen Personen, nicht auf so viel Individuelles und Bestimmtes, davon diese Aeußerungen nur allein die Wirkungen waren, – zurückschließen könnten. Ich muß es wohl, zur Verständigung dieses seltsamen Urtheils sagen, daß mein Freund nicht etwan dies Zurückbleiben und Aufsammeln als eine Wirkung des Geizes ansieht. –

Dem Romanendichter ist der Gebrauch dieser Züge eben so zuträglich, eben so verdienstlich; die[232] Rücksicht auf Sitten und Stand, und Eigenthümlichkeiten der Personen eben so nothwendig; und vielleicht noch weit nothwendiger, als dem tragischen Dichter. Und, ich wiederhol' es, er wird sich an das Daseyn derselben ehe erinnern, er wird sie ehe auffinden können, wenn er die Sitten, die Personen aus seinem Volke nimmt, – zu geschweigen, daß in verschiedenen Ländern leicht diese, aus dem Stande und der Lebensart der Person entstandenen Eigenthümlichkeiten sehr verschieden seyn, und viel Nationelles haben können. – »Aber die Scene eben des Stücks, woraus ich meine Beyspiele genommen habe, liegt in Italien, und der Dichter« ....? Ich könnte antworten, daß der Dichter Lessing heißt; und dann würde mein Einwurf gehoben seyn. – Und dies ist auch wirklich das Einzige, was sich hierauf antworten läßt. Denn so vortreflich hat Lessing das Land seiner Personen zu nützen gewußt, daß dies Trauerspiel gar nicht wirklich werden, daß es gar nicht so erfolgen konnte, wie es erfolgt, ohne daß die Scene in Italien war. Nur vermöge Italienischer, nationeller Sitten wird es das, was es ist. Sie sind ein großer Theil der Ursachen mit, deren Wirkung der Ausgang, das Ende des Trauerspiels ist. So innerlich und äußerlich national haben wir schlechterdings noch nicht ein Gedicht aufzuweisen.[233] Es kommt dem dramatischen Kunstrichter zu, die genaue Verbindung des Innhalts dieses Trauerspiels mit den Sitten des Landes, aus dem es genommen ist, zu entwickeln; mir sey es genug, dem Romanendichter zu sagen, daß, wenn er die Sitten eines Volks, so genau mit den Begebenheiten seines Plans verweben kann, als es Lessing zu thun gewußt hat: so ist's ihm sehr vergönnt, uns mit fremden Sitten zu unterhalten; er wird uns dadurch ein Vergnügen mehr geben. – – Aber, so wie die Sache sich insgemein verhält: so sind unsre Romane um nichts besser, weil die Scene in fremden Landen liegt; und es ist ein kahler Vorwand, daß der Romanendichter zu fremden seine Zuflucht nehmen muß, weil unsre Sitten nichts Brauchbares haben. Denn wir sehen von fremden Sitten gewöhnlich eben auch nichts in ihnen. England ist besonders der Schau- und Tummelplatz, den unsre junger Dichter sich wählen. Aber ist deßwegen eine Person individueller und genauer gezeichnet? Und warum ist die Scene lieber nach England gelegt worden, als sonst wohin? Ist in den Begebenheiten, in den Personen etwas, warum diese nun nicht in Deutschland, sondern in England nur wirklich werden konnten? Der Dichter soll in seinem Werke nichts vorgehen lassen, überhaupt gar nichts anlegen, von dem es nicht der Erfolg des[234] Werks zeige, daß es für sein Ganzes gerade am schicklichsten Orte, und auf die beste Art vor sich gehe, und, an keinem andern Orte, so habe vorgehn können. Die Mittel, die er zur Erreichung seiner Absichten gebraucht, müssen im genauesten Verhältniß mit diesen stehen, so daß jene unausbleiblich nothwendig sind, um diese zu erreichen. Aber findet sich dies in den Romanen gewöhnlicher Art? Sind sie so, daß sie nur auf Engländischem Boden haben zur Reife kommen können? Gewöhnlich sind sie so eingerichtet und angeordnet, daß sie in keinem Lande dieser Erde, – oder in allen gleich sehr zu Hause gehören. Wenigstens sind die Kennzeichen, die sie von ihrem angegebenen Vaterlande tragen, sehr zweydeutig. – Im Grunde ist es Unwissenheit, Unbekanntschaft mit einheimischen Sitten, die unsere Romanendichter aus dem Lande treibet; in der Hoffnung, daß wir eben so wenig von fremden Sitten kennen werden, um sie beurtheilen zu können; oder daß wir gar nicht diese Züge aus den Sitten und dem Leben, diese individuellen Kennzeichen der Menschen, in ihnen suchen sollen. Denn was haben nun wohl unsre Romane, die in England wirklich werden sollen, anders, als Engländische Namen? Und wenns ja etwas mehr ist: so ists übertriebener, unnatürlicher Humor, der so wenig in England, als sonst wo, wirklich ist; –[235] oder so genannte brittische Großmuth, das heißt, der Dichter hat seine Personen reich gemacht, (eine wichtige Erfindung, eine große Anstrengung für ein Genie!) und läßt sie das Geld nun oft sehr albern und unnütz verspenden; – oder, sie müssen einander brav morden und würgen, weils – Engländer sind. Was findet sich wohl, damit ich Beyspiele gebe, in dem Schauspiel Clary (Frankfurth 1770) anders, als einige dieser Ingredienzien? Ist etwas eigenthümlich Engländisches darinn? Was hat die Geschichte der ... anders, als Engländische Namen? Und wie viel mehr könnt' ich nicht nennen! Eben so sehr haben sich die Franzosen in das Mylord und Mylady verliebt. Die Scene der mehrsten Romane von Md. Ricoboni liegt in England. Arnaud hat in seinem Roman moraux eben so oft engländische Namen. Und wer mehr wissen will, braucht nur das erste beste Verzeichniß neuerer französischen Schriften aufzuschlagen. Wenn man nun dagegen, bloß in Rücksicht auf Eigenthümlichkeit und Gebrauch der Sitten, einen Fielding, Sterne, Smollet, Goldsmith u.a.m. in die Hände nimmt, so – wirft man natürlich jene so gleich ins Feuer. – Es mag überhaupt eine sehr mißliche Sache seyn, Sitten und Personen fremder Länder in Werken der Nachahmung aufzuführen. Was die Engländer sagen würden,[236] wenn sie verschiedene deutsche Romane, deren Scene in England ist, lesen sollten, weis ich nicht. Aber so viel weis ich, daß sie über den alten Voltaire, – nicht über sein Werk, – herzlich lachten, als sie eines seiner Lustspiele (die Schottländerinn) ins Engländische übersetzen: ein Stück, in welchem die Scene, wie bekannt, in England liegt, und dessen Sitten Engländische Sitten seyn sollten. Und der Mann ist doch selbst einige Jahre in England gewesen, – und ist Voltaire.

Ich will es gerne zugestehen, daß, dem Anscheine nach, die Sitten unsrer Nachbarn und andrer Nationen mehr Unterhaltendes und Anziehendes haben, als unsre eignen. Wir sind weniger mit ihnen bekannt. Ich will auch zugeben, daß mehr, als ein Bewegungsgrund da seyn kann, warum wir im Trauerspiele, die Scene ehe nach England verlegen, als sonst wohin. Dieser Grund kann vielleicht gleich sehr seine guten Veranlassungen aus der eigenthümlichen Denkungsart der Engländischen, und aus der Verfassung und Denkungsart unsrer Nation erhalten. Aber daß nun in unsern Sitten, für den Dichter, der sie zu nützen weis, gar nichts Brauchbares, gar nichts Anziehendes zu finden seyn sollte: das werd' ich nie glauben. Lessings Minna und die Wilhelmine mögen das übrige lehren! – Auch dem Verfasser von[237] Sophiens Reise rechne ich das vorzüglich als ein Verdienst an, daß er die deutschen Sitten zu brauchen versucht hat. – Ich verlange übrigens nicht alle die zu nennen, denen Deutschland Dank hiefür schuldig ist. Und wenn die Eigenthümlichkeiten unsers Volks lächerlich und abgeschmackt wären: so brauche der Dichter sie als solche Dinge. Der Dichter kann alle Gegenstände der handelnden Natur nützen, so daß sie dem Leser Unterhaltung gewähren, wenn er sie aus dem rechten Gesichtspunkt zu zeigen weis. Er kann dem Volk, dem er seine Thorheiten vorhält, eben so lehrreich werden, – und vielleicht noch lehrreicher – als dem, welchem er nur seine Liebenswürdigkeiten zeigen kann. – Aber die Eigenthümlichkeiten unsers Volks sind alle nicht so albern, wie sie es zu seyn scheinen. – Es wäre traurig, wenn unsre Sitten für den Dichter gar nicht geformt und gebildet wären. Bis sie es sind, können wir mit unsern Nachahmungen nie dahin kommen, wo Griechen und Engländer gewesen sind. Wer mich anklagt, daß ich hier Römer und Franzosen nicht mit nenne, sieht die Dichtkunst nicht aus dem Gesichtspunkt an, aus dem ich sie betrachte. – Die übrigen Nationen Europens, die hier noch in Betracht kommen, übergeh' ich lieber ganz mit Stillschweigen, als daß[238] ich meine Leser noch mehr beleidigen sollte, wenn ich, z.B. die Spanier höher schätzte, als die Franzosen. Die Italiener hat Meinhard so charakterisirt, daß Jeder selbst urtheilen kann; denn, in den neuern Zeiten sind die Nationen fast alle zu sehr Nachahmer derjenigen Nation geworden, die selbst das wenigste Eigenthümliche hat, als daß nicht all' ihre Früchte beynahe einerley Geschmack – und ganz ähnliche Gestalt haben sollten. – Und diejenige Nation, die es nicht so sehr geworden ist, die Spanische, kennen wir leider aus den neuern Zeiten zu wenig. –

Man lasse den Franzosen, den unsre Wilhelmine langweilig dünkt, wenn er sie übersetzt lesen sollte, sie immer langweilig dünken! Schreiben wir denn nur, um die Franzosen zu unterhalten? Es ist ganz gut, wenn sie uns lesen wollen; aber es ist noch besser, wenn wir es so einrichten, daß uns unsre Landsleute mit Vergnügen, mit Theilnehmung, mit Nutzen lesen können. Das sey unser Stolz! dahin gehe unser Beeifern. Wenn dann der Franzose dabey einschläft: desto schlimmer für ihn! Und er wird, wenn er billig ist, darüber nicht klagen können. Es wäre nur Vergeltungsrecht. Wir sind ja alle so herzlich oft bey seinen witzigen Geschenken eingeschlafen. – Was er nicht versteht, lerne er verstehen; oder lese es nicht! Wie[239] viel ist uns unverständlich, oder dünkt uns sehr unmanierlich, wenn wir z.B. einen Peregrine Pickel57 lesen! – Aber freylich, wir sind gute, geduldige Geschöpfe; wir möchten gar zu gerne allen Alles seyn. Wir sind gar nicht böse, wenn wir was finden, das uns nun eben nicht gar zu gut oder bekannt schmeckt (weil wir vielleicht nicht dazu gewohnt sind); aber wir würden, um alles in der Welt willen nicht, jemanden ein Gericht vorsetzen, auf das er noch oben drein sich selbst zu Gaste gebeten hat, ohne daß wir nicht seinen Geschmack vorher ganz gehorsamst um Rath fragen sollten; – und müßten wir selber auch darüber hungern. –

Wer mir diese kleine Ausschweifung nicht verzeiht, der wird schwerlich bis hierher im Lesen kommen, als daß ich nun Gelegenheit hätte, ihn dieser Ausschweifung wegen um Verzeihung zu bitten.

56

Da ich nicht so ganz sicher voraussetzen kann, daß alle Leser mit dem Diderot- und Palissotschen Streite bekannt sind: so dient zur Nachricht, daß Diderot, weil er glaubt, die komischen Charaktere seyen erschöpft, den Vorschlag that, man solle die Stände auf die Bühne bringen, wie, z.B. den Stand des Richters. Er selbst bewies seine Meynung, indem er den Stand des Hausvaters aufs Theater brachte. Palissot erinnert dagegen, und mit Recht, daß, z.B. der Richter, auch einen eigenthümlichen Charakter haben, und entweder lustig, oder ernsthaft, stürmisch oder leutselig seyn müsse: und daß folglich seine Aeußerungen, als Richter, immer, nach Maaßgabe des Charakters, erfolgen müßten.

57

Man verstünde mich sehr unrecht, wenn man glaubte, ich gäbe den Peregrine Pickel für ein geradeswegs schlechtes Werk aus. Derjenige, der den bloß äußern Lebenslauf, und die Sitten des jungen Engländers aus einer gewissen Classe kennen lernen will, wird dies Werk mit Vergnügen lesen können. Der Zeiger weißt ganz richtig; von dem Uhrwerk aber sehen wir freylich nicht viel. –

Quelle:
Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman, Leipzig und Liegnitz 1774. , S. 206-240.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Kleist, Heinrich von

Die Hermannsschlacht. Ein Drama

Die Hermannsschlacht. Ein Drama

Nach der Niederlage gegen Frankreich rückt Kleist seine 1808 entstandene Bearbeitung des Hermann-Mythos in den Zusammenhang der damals aktuellen politischen Lage. Seine Version der Varusschlacht, die durchaus als Aufforderung zum Widerstand gegen Frankreich verstanden werden konnte, erschien erst 1821, 10 Jahre nach Kleists Tod.

112 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon