2.

[24] Es ist nichts so sehr billig, als die Foderung, daß der Romanendichter uns vorzüglich diejenigen Empfindungen und Handlungen des Menschen, und überhaupt diejenigen Gegenstände darlege, die uns auf die angenehmste Art unterhalten. Welche sind dies? Die Beantwortung dieser Frage kann nicht, ohne Kenntniß der menschlichen Natur, und ohne mancherley Beobachtungen, ertheilt werden. Zur Nachricht aller künftigen jungen Romanendichter sey es also gesagt, daß wir gleich bey dem ersten Schritt an diese beyden Sachen verwiesen worden sind! Sie mögen hieraus folgern, daß man den Menschen ehe studieren müsse, als man ihn vergnügen und unterrichten könne. – Ich will das Nöthige hier ganz kurz fassen. –

Der Mensch ist so geschaffen, daß er bey Erblickung gewisser Handlungen, Empfindungen und Gegenstände in eine ergetzende oder verdrüßliche Bewegung geräth. Wir werden durch alles in[24] Bewegung gesetzt, was selbst in Bewegung ist. Auch leblose Dinge, ein großer Pallast, ein tiefer Abgrund erzeugen Bewegungen in uns; nur daß diese nicht so anhaltend sind, als diejenigen, die durch bewegliche Dinge in uns erzeugt werden können. – Alle Bewegungen, die in uns entstehen, sind den Ursachen ähnlich, woraus sie herkommen; angenehme Handlungen, Empfindungen und Gegenstände erwecken ergetzende; unangenehme Handlungen, Empfindungen und Gegenstände erwecken verdrüßliche Bewegungen.

Diese unangenehmen Gegenstände können nun auf unser eigenes Selbst wirken; oder sich auf andre beziehen. Das letzte ist der Fall bey den Werken der Nachahmung. Und in diesem Fall sind auch diejenigen Bewegungen, die aus unangenehmen Gegenständen entstehen, ergetzend für uns. Im Grunde beschäftigt uns daher jede Bewegung, die durch Nachahmung erzeugt wird, auf eine ergetzende Art. Denn da die geradeswegs und durchaus verdrüßliche Bewegung nur dann in uns entsteht, und unvermischt gefühlt wird, wann die vorhandenen verdrüßlichen Gegenstände die Seele zunächst treffen9, und in ihr, oder ihrem[25] Gefährten, dem Körper, einen Mangel erzeugen: so folgt natürlich, daß (weil ein Theil der Vergnügen unsrer Seele aus der Uebung und Beschäftigung ihrer denkenden Kraft entspringt, und diese Uebung nie ganz aufhört, als bey eignen Uebeln) die, für die Lieblinge unsers Herzens, eine Clementina, Clarisse, Emilia Galotti unangenehmen Gegenstände, für uns selbst, so nahe unserm Herzen die Personen liegen, nicht schlechterdings unangenehm werden, weil sie unsre denkende Kraft aufs äußerste beschäftigen, und uns nie das Unterscheiden unser selbst von den leidenden Personen nehmen können. Nur vielleicht, wenn diese Personen wirklich wären, so daß wir uns ganz an ihre Stelle setzen könnten, würde das Schrecken ihrer Leiden uns einen Augenblick aus uns selbst herausscheuchen, und uns unsrer vergessen machen. Aber auch dieser Zustand würde nur von gar sehr kurzer Dauer seyn, weil unsre Zuneigung für diese Personen, ihn so gleich in einen Zustand vermischter Empfindungen verwandeln würde. –

Auch so gar diejenigen Gegenstände, die, in der Nachahmung für sich allein betrachtet, verdrüßliche Bewegungen erzeugen, wie die ekelhaften z.B.[26] können vom Dichter, verbunden mit andern, gebraucht werden. Im Roman besonders kann nie die Illusion so weit gehen, (wie auf dem Theater vielleicht) daß wir das wirklich sehen, was uns der Dichter vorhält, und also darf der Dichter von dem Eindruck solcher Gegenstände, auf die gehörige Art gebraucht, nichts fürchten. –

Und so bleibt es denn gewiß, daß alle Gegenstände in der Nachahmung etwas angenehmes behalten, oder behalten können, weil sie noch immer unsrer Seele die Uebung ihrer Kräfte gestatten. –

Freylich ist aber von denen, durch die Nachahmung in uns erzeugten Bewegungen, die eine mehr ergetzender als die andre. Denn, wofern der Gegenstand, der sie erzeugt, seiner Natur nach, unangenehm ist, das heißt, wenn wir mehr Mängel als Realitäten in ihm entdecken: so ist die ergetzende Bewegung, die die Seele durch ihn erhält, nur sehr klein. Dieser Gegenstände giebt es nun genug, die auch in der Nachahmung mehr unangenehm, als angenehm sind. Habsucht, Grausamkeit, Untreue, Prahlsucht erzeugen mehr verdrüßliche, als ergetzende Bewegungen. –

Es versteht sich von selbst, daß der Zustand unsrer Empfindungen, sehr viel von Temperament, Erziehung und andern Umständen mehr abhängt, und daß das Herz des Menschen dadurch für eine[27] Art von Gegenständen offner, als für andre, und überhaupt mehr oder weniger geschickter wird, sich den Eindrücken derselben zu überlassen. Daher kann denn natürlich ein großer Unterschied zwischen den Empfindungen zweyer verschiedenen Menschen über einen und denselben Gegenstand statt finden. Es lassen sich aber auch noch Gegenstände angeben, die in dem allergrößten Theil des menschlichen Geschlechts ergetzende Bewegungen erzeugen. –

Alle diejenigen Gegenstände dem Romanendichter namhaft zu machen, die er im Roman brauchen kann, um uns damit angenehm zu unterhalten, würde fast unmöglich seyn. Alles, was der Mensch thun, und seyn und empfinden kann, steht ihm zu seinem Gebrauche frey. Und da jeder Dichter in gewissem Maaße auch die Gegenstände der körperlichen Natur nützen darf: so gehören auch natürlich diese mit in seinen Zirkel. Es scheint aber, als wenn sie nur in Verbindung mit selbsthandelnden Wesen, und beziehendlich gebraucht werden könnten, weil sie nicht dauernde und bestimmte Bewegungen in uns erzeugen.

Ich werde über das Anziehende, das einige Eigenschaften und Leidenschaften haben können, zuerst einige Bemerkungen in diesem Versuch mittheilen, und dann zu dem Gebrauch übergehen, den der Romanendichter von denen Materialien[28] machen soll, die ihm der Mensch und die Natur darbeut. Ich gesteh' es, daß es mir hauptsächlich darum zu thun ist, diesen letztern Theil aufzuklären, und über die Kunst, wie der Dichter die Gegenstände seines Werks, – und zu welchem Zwecke er sie untereinander verbinden soll und kann, einige Bemerkungen anzubringen, von welchen ich glaube, daß sie nicht so ganz überflüßig und so ganz bekannt sind, daß sie nicht verdienten, dem Leser dargelegt zu werden. – Die Bemerkungen über das Anziehende der Gegenstände selbst, sind weniger gemacht worden, um dem Leser etwas Neues zu sagen, als um gewisse, bis jetzt noch nicht ganz entschiedene Streitigkeiten (z.B. über den Gebrauch und die Bildung der so genannten vollkommnen Charaktere) wenns möglich wäre, beyzulegen, indem man sie in ihr wahres Licht setzte; – und dann, dem jungen Romanendichter Gelegenheit zu verschaffen, sich zu überzeugen, daß auch mehrere Begegnisse, als Liebe allein, verdienen von ihm genützt zu werden. Ich habe nichts gewollt, als ihn erinnern, daß wir mit Theilnehmung, auch für andre Dinge, als Liebhaber und Liebhaberinnen geschaffen sind. Vorzüglich hab' ich mich bey Gegenständen lange aufgehalten, die, indem sie unsre Leidenschaften der Selbsterhaltung erregen, zugleich unser Mitleid erwecken. Und dazu hab' ich nun, weil wir doch[29] einmal das Shakespearsche Trauerspiel nicht für unser Theater brauchen können, einige Scenen und Charaktere aus diesem Dichter genommen, an welchem man das Entstehen, Fortgehn und ganze Werden der Leidenschaften, gerade so, wie der Dichter es behandeln soll, behandelt sieht; und ich habe alles dies aus den übrigen Theilen des Stücks allein herausgehoben, damit man es desto besser sehen könne. Nicht allein seines Reizes, sondern auch seines Nutzens wegen fürs menschliche Geschlecht, ist das Mitleid mir ein sehr heilig Gefühl. – Der gute Romanendichter hat dies alles freylich längst gewußt; aber ich schreibe nun für die guten gar nicht. –

9

Alles, was ich hievon sage, nehme ich des Zusammenhangs wegen nur mit; und verweise den Leser über das mehrere an die Schriften des H. Mendelssohn, welchen auch das gehört, was ich sage.

Quelle:
Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman, Leipzig und Liegnitz 1774. , S. 24-30.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Gryphius, Andreas

Horribilicribrifax

Horribilicribrifax

Das 1663 erschienene Scherzspiel schildert verwickelte Liebeshändel und Verwechselungen voller Prahlerei und Feigheit um den Helden Don Horribilicribrifax von Donnerkeil auf Wüsthausen. Schließlich finden sich die Paare doch und Diener Florian freut sich: »Hochzeiten über Hochzeiten! Was werde ich Marcepan bekommen!«

74 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon