4.

[42] Ich komme zu einer nähern Betrachtung der Gegenstände, die das Gefühl des Erhabenen in uns erzeugen. Die Bestandtheile des erstern sind, wie gesagt, ächte Tugend und großer Verstand. Aus ächter Tugend handeln, wenn ich nach Grundsätzen handele, die nach der Bestimmung des Menschen geformt sind. Hier würde sich natürlich die Untersuchung darbieten, ob alle Menschen, in allen Zeiten, so über das Quidquid fumus haben denken können, wie der verehrungswürdige Spalding sie darüber denken läßt. Könnte sich hierinnen einige Verschiedenheit[42] finden14: so würde sich nach dieser erst die Frage auflösen lassen, ob die Helden des Alterthums, in den Werken der Dichter, mehr oder minder vollkommen erscheinen? – Für uns ist die Frage von der Bestimmung entschieden. Wer nach den Grundsätzen, die sich aus ihr folgern lassen, handelt, wird sich zu einer rechtschaffenen, edlen That nicht eben entschließen, weil er weichherzig, oder weil er ruhmsüchtig ist: sondern weil er einen richtigen Begriff von der Würde der menschlichen Natur und von seinen Pflichten hat.

Man gestatte es mir, daß ich an einem Beyspiele meinen Begriff von Tugend aus Grundsätzen deutlicher machen darf. Einen Menschen, der unschuldig und sehr viel leidet, von seinen Leiden erretten, dies kann geschehen[43]

1) Weil die Idee von seinen Leiden einen zu tiefen Eindruck auf uns macht. Wir suchen ihn zu befreyen, um unsrer Selbst willen. Wir können die Vorstellung seiner Leiden nicht aushalten.

2) Oder, weil wir einen Ruhm davon zu tragen hofften, wenn wir einen unschuldigen Unglücklichen errettet haben.

3) Oder, – weil wir wissen, daß er unschuldig ist. – Welche von diesen Thaten nun wird die würdigste, die erhabenste seyn?

Es können noch mehrere Umstände hinzukommen, wodurch diese That erhaben wird, ohne daß sie jener Vergleichung bedarf. Es ist sehr leicht zu sehen, daß wir um so gewisser von dem Daseyn ächter Tugend überzeugt seyn werden, um so mehr es ihr kosten wird, sich zu äußern, um so mehr Hindernisse sie überwindet. Diese Hindernisse können nun von uns selber, oder von außen herkommen. Man setze also zu den obigen noch diesen Fall:

4) daß der Unglückliche uns vorher feindselig begegnet sey. – Wird das Verdienst ihn zu erretten nicht noch größer seyn?

Oder 5) daß wir so gar was aufopfern müssen, um ihn zu befreyen, das zwar in Vergleichung mit dem Nutzen, den seine Befreyung fürs Ganze hat, weit geringer, aber sonst nichts unanständiges, und doch uns theuer ist. –[44]

Man mag aus diesem Beyspiele zugleich sehen, daß das Leblose, welches ein großer Theil der Menschen bey erhabner Tugend sich gedenkt, und das zufolge eben dieser Meynung, den Zuschauer so kalt lassen soll, sich gar nicht dabey befinden darf. Und der Situationen und Begebenheiten sind sehr viele, in welche ich die Tugend mir eben so thätig und beunruhigt, wie sie es hier natürlich seyn muß, gedenken kann. Aechte Tugend muß nichts weniger, als Gleichgültigkeit seyn; alsdenn wäre sie eben so gut Temperamentstugend, als es die Tugend im ersten Falle ist. Hier wenigstens soll sie es wissen, und fühlen, daß der leidende Unglückliche ehemals ihr Feind war; es soll ihr kosten, es zu vergessen. Und sie soll das Opfer schätzen, und es lieb haben, das sie bringet. Nur dann wird sie ... »Nicht in der Natur seyn!« – O ja, meine Herrn, dann wird sie ungefähr das seyn, was wir von einem Sokrates, Regulus, Brutus, u.a.m. abstrahieren können.

Ich fürchte, daß man mich hier mißverstehen, und den Begriff von ganz vollkommenen Charakteren unterschieben wird. Zwar haben sehr verdienstvolle Kunstrichter15 dem Roman diese zu erlauben[45] geschienen; aber sie haben sie zugleich in den übrigen Dichtungsarten verworfen. Ich dürfte also keinen Tadel befürchten, wenn ich sie auch verlangte; aber da ich lieber den Roman mit unter die übrigen Dichtungsarten gestellt zu werden, und ihm seines bloßen Namens wegen keine Freyheit mehr wünschte, als jede Dichtungsart, ihrer Gattung nach, haben kann: so wird man mir es erlauben, daß ich mich hier über den Gebrauch der so genannten ganz vollkommenen Charakter, erklären mag.

Ich erkenne sie auch im Roman für undichterisch; und ich sollte denken, daß wenn sie, wie man sagt, in jeder Nachahmung einförmig, unfruchtbar und ohne sonderliche Erfindung sind, sie es auch im Roman seyn müßten. Der Titel des Werks wenigstens kann unmöglich das Gegentheil aus ihnen machen; und ich möchte dem Roman gerne alles nehmen, was er nicht mit Recht hat, und ihm einen wichtigern Platz geben, als man ihm jetzt anweist. Jedoch meine schon geäußerten Erklärungen würden mich nicht retten, wenn ich das in der That foderte, was ich Worten ablehne: ich will mich also hierüber umständlicher rechtfertigen. Die schon gedachten Kunstrichter haben die wichtigsten Einwürfe gegen die vollkommenen Charaktere in dem Schaftsbury gefunden; und wenn ich also beweisen kann, daß die Grundsätze des[46] Engländers nicht auf mein Ideal angewandt werden können: so denk ich mich wider alle Einwürfe geschützt zu haben. Ich bin ganz der Meynung des Lords, that in a poem (whether epick or dramatick) a compleat and perfect character is the greatest Monster, and of all poetick fictions not only the least engaging, but the least moral and improving; nur paßt sich dies nicht auf gegenwärtigen Fall. Ich denke mich sehr leicht mit dem Engländer zu vertragen. Den ersten Theil seiner Einwürfe haben bereits die Verfasser der Litteratur-Briefe (Th. 7. S. 116.) beantwortet; ich werde also nur die letzten anführen. »Ein Held ohne Leidenschaft, sagt er, ist in der Dichtkunst eben so ungereimt, als ein Held ohne Leben, oder ohne Handlung.« Der höchst Tugendhafte, dessen Bild wir vorher entworfen haben, ist nicht ohne Leidenschaften; er äußert sie auch, nur unterliegen sie endlich dem stärkern Gefühl seiner Pflicht, und nur dann tritt er auf, und handelt. Er unterscheidet sich nur darinnen von den übrigen Menschenkindern, daß er sich nicht den ersten Eindrücken überläßt; aber fühlen thut er sie. Was verhindert den Dichter, daß er uns den ganzen Kampf zeige, den der Tugendhafte kämpfen muß, ehe er über sich gebieten kann? Man wende ja nicht ein, daß es Gelegenheiten im Leben giebt,[47] wo man sich ohne Besinnen und Ueberdenken entscheiden muß. Ich antworte, daß der wahrhaft Tugendhafte, wenn diese Fälle wichtig sind, gewiß in seiner Seele schon vorher so manchen Kampf mit seinen Feinden gekämpft haben wird, daß er sie nur zu sehen braucht, um sie zu erkennen und sich an seine Pflichten zu erinnern; – daß wichtige Vorfälle immer Zeit zur Entscheidung lassen, und daß es nur in Schriften die Schuld des Autors ist, wenn er sie so rasch sich zutragen läßt; – und daß endlich die erhabenste Tugend der Natur des Menschen getreu bleiben soll, wie wir alle es ihr bleiben. – Wenn man einen, nach obigen Zügen Handelnden nicht für einen wahrhaft Tugendhaften will gelten lassen: so erklär' ich mich, daß auch ich unter ächter Tugend nichts anders verstehe und meyne, als Tugend, die annoch mit sich kämpfen muß. Mein Tugendhafter soll auch ausrufen können16: Wherever thy Providence[48] shall place me for the trials of my virtue – whatever is my danger – whatever is my situation – leet me feel the movements which rise out of it, and which belong to me as a man – and if I govern them as a good one, I will trust the issues to thy justice; for thou hast made us, and not we ourselves. – »Aber vielleicht tragen solche Handlungen nicht mehr den Charakter des Erhabenen?« Darauf weis ich freylich nichts anders zu antworten, als daß ich den – entweder beneide, oder herzlich bedaure, der es nicht darinn findet. Freylich eines Stecknadelkopfes wegen müssen wir nicht kämpfen dürfen; ich führe auch Yoricks Sieg eben nicht, als ein Beyspiel des Erhabenen an. Der Gegenstand, der den Kampf veranlaßt, kann wichtiger; unsre eigene Verfassung kann schwächer seyn, und die Folgen des Sieges können, durch ihren Einfluß auf unser Glück oder Unglück, wichtiger werden, als sie es hier sind; aber ich sehe nicht ab, warum nicht ein mit sich selbst Ringender eben so erhaben seyn solle, als des Seneka17 vir fortis, cum mala fortuna[49] compositus? Was er zu überwinden hat, ist, wenn der Dichter nur seine Kunst versteht, nicht weniger. – Und eben dieser mit seinem Schicksale Kämpfende gehört auch zu den erhabenen Charakteren18. – Und mehr noch, als erhaben, werden beyde seyn; wir werden sie lieben, indem wir sie bewundern, und so werden sie uns dauernd angenehm beschäftigen! – Ich fahre mit den Bemerkungen über den Schaftsbury fort19: »Die Person, die Leidenschaft hat, muß auch leidenschaftliche Handlungen unternehmen. Eben der heroische Geist, eben die Seelengröße, die uns entzücken, wenn wir sie handeln sehen, entzücken uns eben so, wenn man sie uns in dem Leben und in den Sitten der Großen darstellt. Der geschickte Zeichner also,[50] der zum Behuf der Wahrheit dichtet, und seine Charaktere nach den Regeln der Sittenlehre schildert, bemerkt den Hang der Natur, und läßt jeder hohen Gesinnung den ihr eigenen Ueberschwung, oder die Neigung in dem Tone, oder in der Art von Leidenschaften, die den hervorstechenden und scheinbaren Theil eines jeden poetischen Charakters ausmacht, zu weit gehen. Die Leidenschaft des Achilles strebt nach solchem Ruhm, den man durch Waffen und persönliche Tapferkeit erwirbt. Diesem Charakter zu gefallen, verzeihen wir dem edelmüthigen Jünglinge seine allzugroße Hitze auf dem Schlachtfelde, und seinen Jachzorn in dem Rathe, oder gegen seine Bundsgenossen, wenn er beleidigt und aufgebracht wird. Die Leidenschaft des Ulysses strebt nach solchem Ruhm, den man durch Klugheit, Weisheit und geschickte Unterhandlungen erwirbt. Daher verzeihen wir ihm sein feines, listiges und betrügerisches Wesen. Der Intrigengeist, das überkluge Wesen, und die allzufein gekünstelte Politik sind dem versuchten Staatsmanne, der lauter Staatsmann ist, so natürlich, als der Jachzorn, ein unüberlegtes und rasches Betragen, dem offenen Charakter eines kriegerischen Jünglings, der selten weit aussehende Absichten hat. Die riesenmäßige Stärke des Ajax und seine trefliche Kriegsarbeit würde weder so glaublich, noch so einnehmend[51] seyn, wenn ihnen der Dichter nicht zugleich die redlichste Einfalt und etwas plumpe Gemüthsgaben zugesellt hätte. (Denn so wie wir oft sagen, daß körperliche Stärke Geistesstärke ausschließt: so vergeben wir auch dem Dichter alle Uebertreibungen, die er von einer Seite machen kann, wenn wir nur finden, daß er der Natur getreu geblieben ist, und unser etwas boshaftes Urtheil bestätigt hat. Wir erlauben es ihm, daß er seiner Einbildungskraft den Zügel schießen lasse, daß er die herrschende Eigenschaft oder Tugend seines Helden erhöhe und übertreibe; er kann uns nach seinem Belieben Illusion machen und in Erstaunen setzen; wir verzeihen ihm alles, wenn er uns dabey nur rührt und nicht unbewegt läßt. So kann Nestors Zunge Wunder thun, wenn uns der Dichter nur seine Beredsamkeit zeigt, und die vielfältige Erfahrung, die er gehabt hat.) Wir bewundern den Agamemnon als einen weisen und edelmüthigen Heerführer; aber es gefällt uns ungemein, daß der Dichter den fürstlichen Stolz, das steife und herrische Wesen, das diesem Charakter eigen zu seyn pflegt, in seiner Person vorgestellt, und die übeln Folgen desselben nicht unbemerkt gelassen. Und hiedurch wird das Uebertriebene der Charaktere eigentlich wieder zurecht gesetzt. Denn indem das Unglück gezeigt wird, das aus jeder Übertreibung zu entstehen pflegt: so[52] werden unsre heftig erregten Leidenschaften auf die heilsamste und wirksamste Weise, gebessert und gereiniget. Wer sich nach einem einzigen Muster oder Originale bildet, und wenn es auch noch so vollkommen ist, der bleibt doch nichts mehr, als eine bloße Kopey. Wer sich aber Züge aus verschiedenen Mustern wählet, der wird selbst original, natürlich und ungezwungen. Wir bemerken täglich, in Ansehung der äußerlichen Aufführung, wie lächerlich der wird, der einem andern, und wenn es auch der artigste Mann wäre, beständig nachahmt. Das müssen kleine Geister seyn, die nichts als kopiren wollen. Nichts ist angenehm, nichts ist natürlich, als was original ist. Unsre Sitten so wohl als unsre Gesichter müssen, wenn sie noch so schön sind, in der Schönheit selbst eine Verschiedenheit haben. Eine allzugroße Regelmässigkeit kömmt der Häßlichkeit nahe, und in einem Gedichte (es sey episch oder dramatisch) ist ein vollkommener Charakter das größte Ungeheuer; und unter allen poetischen Erdichtungen nicht nur am wenigsten einnehmend, sondern auch am wenigsten moralisch, und am wenigsten bequem, die Sitten zu verbessern.«

Nach dieser, den Lesern vielleicht zu langen, aber sehr nützlichen Stelle, sollen nun, erstlich, die vorhandenen Ursachen ihre gehörigen Wirkungen[53] hervorbringen. Achillis Ehrgeiz soll in Hitze und Heftigkeit ausbrechen, denn aus Ehrgeiz können so gut und so leicht rühmliche Thaten, als Jachzorn entspringen. Ich bin ganz der Meynung des Lords, daß keine Ursach ohne Wirkung bleiben müsse. Das Gefühl von der Würde der menschlichen Natur soll alle Wirkungen hervorbringen, die es hervorbringen kann. Richardson scheint seinen Grandison nach diesen Grundsätzen gebildet zu haben, und kannte die menschliche Natur zu gut, um seinem Helden nicht Stolz (die Wirkung, die aus jenem Gefühl zuerst entstehen muß) zu geben; und um ihm die Heftigkeit zu nehmen, ohne welche er, nach der übrigen Anlage des Richardson, nicht wirklich werden konnte; – ob ich gleich sonst bekennen muß, daß Richardson immer noch, selbst nach meinen Ideen, weit zu sehr ideal zusammengesetzt, und seinem Helden ein zu übertriebenes, feyerliches Ansehn gegeben hat.

Zweytens will der Engländer, daß überhaupt keine Wirkung, ohne hinlängliche Ursache in einem Gedicht sich finden, daß, wenn Nestors Zunge Wunder thun, der Dichter uns seine Beredsamkeit zeigen solle. Kein Mensch kann dies Gesetz lieber unterschreiben, als ich. Das von mir entworfene Ideal hat auch eine Leidenschaft, wodurch es in Bewegung gesetzt wird, und woraus sich seine Thaten[54] herleiten lassen: das lebendige Gefühl von dem, was es billig seyn sollte. »Aber wer weis, ob im Menschen solch ein Gefühl sich finden könne?« – dann wäre die Vorsicht ... doch wer wird solche Einfälle beantworten? –

Unter diesen beyden Bedingungen, gewähren, nach des Lords Meynung, nun die Charaktere dem Leser Vergnügen; das heißt, sie sind fähig, ihn in Bewegung zu setzen, weil sie selbst darinn sind. Wer kann noch zweifeln, daß dies also auch von dem entworfenen erhabenen Charakter gilt?

Der wichtigste Einwurf des Engländers gegen die vollkommenen Charaktere ist der, daß sie nicht so unterrichtend sind, als die andern. Der Engländer findet das Unterrichtende dieser in dem Ueberschwunge, den ihre Leidenschaften nehmen; und da der vorher entworfene Charakter Leidenschaften hat, und auch diese übertreiben kann: so ist er gewiß nicht den Grundsätzen des Engländers zuwider gebildet. Ich habe vorher schon an dem Charakter des Grandison bemerkt, wie Richardson diesem die Ueberspannung seiner Leidenschaften gelassen.

Der letzte Einwurf des Engländers ist wider die Einförmigkeit, die in einem Werke entsteht, wann alle Charaktere nach der Regel der Vollkommenheit gebildet sind; und auch hierinn hat er sehr Recht. Es ist nichts langweiliger, als die schon[55] angeführten Schweizerischen Gedichte, deren Charaktere alle nach einerley Maaßstabe gezeichnet zu seyn scheinen. Auch habe ich nie eine ganze Gallerie vollkommener Gestalten vom Romanendichter gefodert.

Dies würde ungefähr das Wichtigste seyn, das wider die so genannten vollkommenen Charaktere gesagt worden ist. Wir haben gesehen, daß es auf das vorher entworfene Ideal nicht paßt. Ein Einwurf dünkt mich noch übrig zu seyn, der sich auch in den Litteraturbriefen findet. »Die poetische Idealschönheit, heißt es, ist diejenige, die mehr Gelegenheit zu Handlungen giebt, die heftigere Leidenschaften erregt, und deren Erdichtung dem Dichter eine größere Anstrengung des Geistes gekostet hat.« Ich weis nicht, ob nicht auch diese poetische Idealschönheit bey dem vorher entworfenen Charakter statt finden könne? Ist Handlung bloß, wie ich glaube, abwechselnder Zustand unsrer Gemüthsfassung, innerliche Bewegung: so ist die Sache schon widerlegt. Heißt Handlung Unternehmung mit Wahl und Absicht, so muß ächte Tugend zu viel Handlungen dieser Art Anlaß geben. Belebt von dem Gefühl der Würde der menschlichen Natur, warum sollte dies Gefühl den Tugendhaften nicht in Handlung setzen? Warum sollte ächte Tugend nicht zu vielen Handlungen für andre, eben aus[56] dem Grundsatz, der sie treibt, aufgelegt seyn? Freylich muß der Dichter den tugendhaften Charakter in Thätigkeit zu setzen wissen, und ihn ja nicht, in diesem Fall, auf bloß tugendhaft Schwatzen einschränken. Eitles Geschwätz von Tugend verträgt sich gar nicht mit der Erhabenheit. Mit dem Erhabenen in der Tugend ist das Stillschweigen ehe verbunden, als sonst mit irgend einer andern Leidenschaft. Tugend schweigt so gut, wie der Stolz im Ajax, oder Verachtung in der Dido; nur freylich aus andern Gründen. Eben da, wo der ächte Tugendhafte seine Bewegungsgründe zu Handlungen herholt, eben da findet er auch Gründe fürs Stillschweigen in vielen Gelegenheiten. Ich darf den einen Grund dazu wohl in diesen Worten ausdrücken: wenn wir auch alles gethan haben, was wir zu thun schuldig sind, so sind wir doch immer noch sehr unverdiente Knechte. Dies Prangen und Prahlen mit Thaten und mit Gesinnungen, mit dem, in den Romanen vom gewöhnlichen Schlage, die so genannten Tugendhaften auftreten, verräth in den Verfassern sehr unberichtigte Kenntnisse von der wahren Beschaffenheit des menschlichen Herzens, und sehr große Armuth in der Kunst, uns den Helden auf die rechte Art von der besten Seite zu zeigen. – Winkelmann redet von der edlen Einfalt, die sich an den Werken der Kunst,[57] aus dem goldnen Zeitalter, neben der schon gedachten stillen Größe finden soll. Diese edle Einfalt, die unstreitig sehr viel zur Erhabenheit jener Werke beyträgt, muß auch der Dichter in sein Werk übertragen; ohne dieselbe darf er nicht hoffen, jene Größe seinen Personen zu geben, die uns beym Anblick jener Werke so sehr über uns selbst erhebt. –

Diese edle Einfalt, aber sehr unrichtig verstanden, so daß man sie lieber schlechtweg Einfalt nennen möchte, findet sich in den schon angeführten schweizerischen Trauerspielen. Man hat den handelnden Personen eine gewisse Leblosigkeit gegeben, wodurch sie den Leser einschläfern. Hierzu kömmt, in andern Fällen, noch eine gewisse Steife, eine Feyerlichkeit, die die Helden ehe zu Pedanten und zu Schulmeistern macht, als zu erhabnen Geistern. Das Eigenthum des wahrhaft Tugendhaften ist gewiß auch das, daß er nie mehr von seiner Tugend zeigt, als nöthig ist, und nie am unrechten Orte. Ueber den Graben, über den man springen kann, bedarfs keiner Brücke.

Im Grunde thun aber diese Thaten, diese Unternehmungen selbst das wenigste bey der Sache. Das Innre der Personen ist es, das wir in Handlung, in Bewegung sehen wollen, wenn wir bewegt werden sollen. Und davon ist schon vorher die Rede gewesen.

14

Ich sage einige Verschiedenheit. Freylich kann sie nicht groß seyn; aber ich glaube, daß Erziehung, Gesetzgebung, Religion, Clima u.s.w. in der Denkungsart des Menschen auch hierüber einen Unterschied machen müssen. Ich wünschte hierüber belehrt zu werden, und von dem Manne am liebsten, der es mit so vieler Ueberzeugung kann, als Hr. Spalding. Dieser Versuch wird gewiß nicht in seine Hände kommen; aber ich kann es mir doch nicht verwehren, hier zu sagen, daß jene Schrift des Hrn. Svalding, und die über die Nutzbarkeit des Predigtamts, verdienen von jedem Patrioten – auswendig gelernt zu werden.

15

Litt. Br. Th. 7. S. 115.

16

Wohin deine Vorsehung mich stellen mag, meine Tugend zu prüfen, – wie groß meine Gefahr, – wie schlüpfrig die Umstände seyn mögen. – Laß mich die Regungen empfinden, die daraus entspringen, und welche mir zukommen, als einem Manne: und wenn ich solche als ein Rechtschaffner regiere, so will ich den Ausgang deiner Gerechtigkeit überlassen – denn du hast uns gemacht, und nicht wir selbst. Empfinds. Reise Th. 2. S. 84. Der Sieg.

17

Senecae Oper. phil. p. 233. Ecce spectaculum dignum, ad quod respiciat intentus operi suo Deus Ecce par Deo dignum, vir fortis cum mala fortuna compositus. So wie die Dichter überhaupt die Werke der Philosophen alle studiren sollten: so wäre auch aus eben diesem Kapitel des Seneka sehr viel für sie zu erlernen; wozu sie nämlich diese Kämpfe und Siege in ihrem Helden anwenden könnten. Operibus, sagt er, doloribus ac damnis exagitantur (viri boni) vt verum colligant robur. Man mache die Anwendung! –

18

Mendelssohns Schriften 2ter Th. S. 170. verdienen hier nachgelesen zu werden.

19

Schaftesburys characteristicks T. 3. p. 260 u.f.

Ich habe die Übersetzung aus den Litt. Br. genommen, und nur das aus dem Original hinzu übersetzt, was dort fehlte, und hier in () eingeschlossen ist. Die ganze Stelle kann Dichtern und Kunstrichtern so nützlich werden, auch ohne, daß ich sie zur Vergleichung brauche, daß ich nichts habe weglassen wollen.

Quelle:
Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman, Leipzig und Liegnitz 1774. , S. 42-58.
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