5.

[58] Es giebt noch viele Fälle mehr, in welchen der wahrhaft Tugendhafte auf die anziehendste Art in Handlung gezeigt werden kann. Es steht dem Romanendichter frey, von außen her Gegenstände zu holen, die seinen Held in Bewegung setzen können, so wie die vorhin angeführten aus ihm selbst genommen sind. Man denke sich also, zu den vorher angeführten Hindernissen, noch hinzu:

6) Daß der von seinen Leiden, durch den Tugendhaften Errettete, seinen Befreyer mit Feindseligkeit belohnen, oder daß sich dieser, durch die Befreyung selbst, die Feindschaft eines andern zuziehen könne. Kann nicht die allererhabenste Großmuth, die sanfteste Milde sich Feinde machen? – Soll er dies nicht empfinden? Und

7) Wird nicht der Tugendhafte diesen Uebeln, die ihm drohen, ausweichen wollen? Es ist sehr falscher Prunk, wenn er es nicht soll. Ich weis, daß man die gewöhnlich vollkommenen Charaktere bey solchen Gelegenheiten sich bloß leidend verhalten läßt; aber ich weis auch, daß nichts unnatürlicher, nichts kälter, nichts fader ist, als solch ein Betragen. Der wahrhaft Tugendhafte wird sich aber in der Art, wie er diesen Uebeln ausweicht, in denen Mitteln, die er zu diesem Ende wählt, von uns andern Erdensöhnen unterscheiden. –[59]

Ich verlange nicht etwan, auf die vorangeführten Fälle, den Romanendichter in der Behandlung des wahrhaft Tugendhaften einzuschränken, oder sie als Muster zur Behandlung vorzuschlagen. Ich habe sie bloß angenommen, um meine Meynung an diesen Beyspielen desto besser entwickeln zu können. Aus diesen und aus ähnlichen Situationen können eine Menge Handlungen entstehen, die uns alle auf die anziehendste Art unterhalten, ohne daß sich die mindeste Gleichförmigkeit und ein ewig Einerley in ihnen finden darf. Das jedesmalig' Eigenthümliche einer jeden Situation wird natürlich eine Abänderung in dem Betragen der handelnden Person veranlassen müssen; denn die jedesmaligen Umstände sollen nicht ohne Einwirkung bleiben: wozu wären sie sonst da? – Es kömmt überhaupt, wie schon gedacht, nicht auf die Begebenheiten der handelnden Person, sondern auf ihre Empfindungen an. Der Verfasser der Gedanken, über das Interessirende20, mit dem ich hierinn einerley Meynung zu seyn mich freue, sagt, »wir wollen den Dichter lehren, daß wir nicht an den Vorfällen und Veränderungen selbst, sondern nur an den Gesinnungen oder den Begierden[60] unsrer Nebenmenschen Theil nehmen, die durch solche Vorfälle erregt oder aufgebracht werden: und daß es also mehr von seinen Personen, das heißt im Grunde mehr von ihm selbst, von seiner eignen Art zu denken und zu empfinden, als von dem Stoff abhänge, ob er interessant seyn soll oder nicht.« Und an einer andern Stelle: »wir sehen, daß wir den Mann, an dessen Begebenheiten wir Theil nehmen sollen, lieben oder achten müssen, und daß sich diese Liebe oder Achtung auf irgend eine, in seinem Charakter hervorleuchtende Tugend gründet; wir sehen, daß verwickelte Unglücksfälle bloß dadurch interessiren, weil wir eines weisen Mannes Entschlüsse dabey sehen wollen; wir sehen, daß nicht die Begebenheit interessirt, sondern der Charakter, und zwar gewisse Vollkommenheiten des Charakters, die durch die Begebenheit, so zu sagen, aufgefodert und in volle Wirksamkeit gesetzt worden.« – Ich setze zu allen diesen hinzu, daß deutsche Biedertreu, deutsche Rechtschaffenheit nach denen Begriffen, die wir aus den Zeiten, wo wir noch Deutsche waren, uns davon machen können, so viel eigenthümlich Großes und Erhabenes haben, daß der Dichter sehr unrecht thut, der sie nicht nützt.

20

Neue Bibl. der sch. Wissensch. 13ten B. 1tes St. S. 38. ebend. S. 47.

Quelle:
Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman, Leipzig und Liegnitz 1774. , S. 58-61.
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