6.

[61] Ich habe vorher gesagt, daß aus ächter Tugend handeln nichts heiße, als nach Grundsätzen handeln, die nach der Bestimmung des Menschen geformt sind. Ich bin sehr fest mit dem Weltweisen überzeugt, daß die Tugend als eine Wissenschaft angesehen werden muß, und daß besonders ächte Tugend, zum Unterschiede von Gleichgültigkeit oder Mildigkeit des Herzens, den großen Verstand voraus setze, um wirklich zu werden: mit einem Wort, daß beyde in einem Charakter vereint seyn müssen, wenn nicht die Tugend unwahrscheinlich, und der Verstand ungeschätzt bleiben soll. Wenigstens muß wahrer Verstand in einem gewissen Sinne mit ihr verbunden seyn. Denn den Grundsatz auszumitteln, nach welchem der Tugendhafte handeln soll, wird ein Geist erfodert, der das Ganze zu übersehen vermag; und die richtige Anwendung, und das jedesmalige Maaß beym Thun und Lassen, erfodert eben so viel Verstand. Im Grunde sind eigentlich hierinn Tugend und Verstand so genau mit einander verbunden, daß ich nicht sehe, wie man sie trennen, nicht einmal wie man sie von einander unterscheiden kann. Es scheint das Geschäft des Verstandes zu seyn, alle Dinge nach ihrer Natur und nach ihrem wahren Werth zu schätzen, und nicht bloß in Beziehung auf ihn. Seine gegenwärtige[62] Verfassung, seine heutige Denkungsart soll nicht Einfluß auf sein Urtheil haben. Er soll nicht heute das Gold schätzen, weil ers bedarf, das er gestern verachtete, weil ers nicht nöthig hatte; er soll nicht heute eine unschuldige Freude verdammen, weil er Kopfschmerzen hat, die er gestern lobte, weil er sie mitmachen konnte. – Er soll sich edle Endzwecke erwählen, nach dem Maaß der Handlungen, die er in seiner Lage verrichten kann. Wenn er nicht, ein neuer Lycurg, einem Staate Gesetze geben, oder, ein andrer Pelopidas, sein Vaterland von der Unterdrückung befreyen kann: so wird er doch die Menschen, die von ihm abhangen, so glücklich zu machen suchen, als sie es werden und durch ihn werden können. Auch alsdenn, wenn sie es nicht werden wollen, wird er sich nicht abweisen lassen; seine Langmuth wird seiner Thätigkeit gleichen. – Zur Erreichung seiner Absichten wird er jedesmal die besten, sichersten, kürzesten Mittel wählen; und da er nie andre als edle oder unschuldige Vorsätze hat: so wird er auch, nach Maaßgabe ihres Werths, standhaft bey allen Hindernissen seyn. – Wer sieht nicht, daß hierinn Tugend und Verstand in einander fließen? Aber, – man sehe das folgende immer als einen Auswuchs an! – wie sehr wünschte ich dies jedem Vater, jedem Lehrmeister recht begreiflich zu machen,[63] der für sein armes Kind, oder seinen unschuldigen Lehrling genug gethan zu haben glaubt, wenn er ihn nur mit frommen Lehren versieht, in den Kopf mag übrigens Grütze oder Gold kommen. Dies unselige Vorurtheil ist nur noch zu allgemein in Deutschland; und ich liebe mein Land zu sehr, als daß ich nicht, vielleicht an einem sehr unschicklichen Orte, davon reden sollte. Und wodurch dies Vorurtheil so besonders traurig für den Patrioten werden muß, ist, daß es sich gerade noch bey denen Vätern am mehrsten findet, die ihren Kindern eine menschliche Erziehung geben können, und sie ihnen auch noch geben wollen: eine kleine Zahl im Gegensatz derer, die ihre Kinder zu Franzosen machen, oder als Thiere aufwachsen lassen. –

All' diese Unglückliche können nie das Verdienst erlangen, das den erhaben Tugendhaften charakterisiret, die Grundsätze, wodurch sie in Bewegung gesetzt werden, gleichsam aus sich selbst heraus geholt zu haben. Aechte Tugend verliert einen großen Theil ihrer Erhabenheit, wenn sie auf Treu und Glauben das angenommen hat, wornach sie ihre Handlungen ordnet und einrichtet. Sie muß die Wahrheit, die Nothwendigkeit ihrer Grundsätze in ihrem Innersten fühlen; sie muß, wenn sie auch nicht vor ihrer Zeit gelehrt und gefunden worden wären, sie selbst haben finden und entdecken können,[64] wenn wir sie nicht in einem sehr kleinen Licht und als Nachäfferey ansehen sollen. –

Dies alles zusammen macht, meines Erachtens, ungefähr die Erhabenheit aus, die im Menschen sich finden kann. Ich verlange sie aber nicht, bis auf die kleinsten Züge, hier ausgemalt zu haben. –

Ich habe schon gesagt, daß solch ein Mann nicht ganz ohne Mangel, oder ganz ideal, ganz vollkommen seyn könne. Der Dichter wird in der Zusammensetzung seines Charakters, Rücksicht auf seine Zeit, seine Erziehung, sein Alter, sein Land, seine Religion, seinen Stand im bürgerlichen Leben, auf die Eigenschaften selbst, die er ihm giebt: mit einem Wort, auf seine ganze Verfassung Rücksicht nehmen müssen, damit diese ächte Tugend und dieser wahre Verstand diesen sämtlichen Umständen angemessen, und seine Eigenschaften nach dem Endzweck, den er mit ihm hat, und nach dem Zirkel, in dem er ihn wirken lassen will, geordnet seyn mögen. Er wird so gar auf körperliche Umstände, auf Temperament und andere Dinge mehr sehen, und den Einfluß derselben nie aus den Augen lassen. Dadurch werden nun Einschränkungen von allen Seiten entstehen; eine Eigenschaft wird etwas nachgeben oder etwas verlieren müssen, damit sich die andre hinanfügen könne. Das Uebergewicht, das[65] eine Eigenschaft sehr leicht erhalten kann, wird, wenn ich mich so ausdrücken darf, eine andre in die Höhe ziehen; der Handelnde wird sich, in dem Gewicht, das er dieser zulegen sollte, um die Probe zu halten, sehr leicht vergreifen, oder es gar jetzt nicht haben konnen: er wird sich selbst zuerst zu leicht finden. Alles dies liegt in der Natur und der Einrichtung des menschlichen Geschlechts. Den Menschen ganz vollkommen zeigen, ist vielleicht falscher noch als undichterisch. – Aber solch ein Charakter, wie er vorhin entworfen und gezeichnet ist, wird auch weder übertrieben noch überladen heißen können. Mit diesen Beywörtern bezeichnet man gewöhnlich diejenigen Charaktere, die man für undichterisch erklärt; und man braucht sie vorzüglich von den so genannten vollkommenen Charakteren. Aber wenn vollkommen nichts mehr bedeutet, als was ich vorher es habe gelten lassen: so sieht man sehr leicht, daß nicht dieser Vollkommenheit diese Wörter zukommen. Hier heißt vollkommen nichts, als diejenige moralische Eigenschaft, die der Mensch vorzüglich haben sollte, und die er, als Mensch, auch haben kann. Sie ist nichts mehr oder weniger, als im Helden der Muth, im Rathgeber die Weisheit. Und da der Romanendichter sich auf das, was den Menschen angeht, vorzüglich einschränkt; da, nach[66] meinen Begriffen überhaupt, und nach der jetzigen Einrichtung der Welt besonders, kein anderes wahres Verdienst unsre Aufmerksamkeit mit Recht an sich ziehen sollte und an sich ziehen kann, als das Verdienst des Menschen: so wird man sich nicht wundern, warum ich so vorzüglich lange mich bey dieser Erhabenheit, bey diesen so genannten vollkommenen Charakteren aufgehalten habe. Das Uebertriebene scheint nur von denjenigen wahr seyn zu können, die irgend eine oder die andre Eigenschaft, – und dies kann Tugend so gut wie Muth oder Klugheit seyn – in einem Grade besitzen, der Menschen nicht zukommen kann. Und überladen können wohl nur diejenigen heißen, die alle mögliche Vollkommenheiten in sich vereinen. Von beyden gesteh' ich, daß ich sie gleich sehr für undichterisch und ununterrichtend halte. Alle Eigenschaften des Geistes und des Herzens in einer Person zusammen zu verbinden, oder ihr eine und die andre in einem Maaße zu geben, das Menschen nicht zukömmt, ist eine Erfindung, die nicht der Mühe werth ist, beurtheilt zu werden.

Ich behalt' es mir vor, über die Kunst der Zusammensetzung eines Charakters am gehörigen Orte noch mehr zu sagen. Der Roman hat, seiner Gattung nach, Vorzüge und Eigenthümlichkeiten, wodurch uns der vorher entworfene vollkommene[67] Charakter so wahrscheinlich und so lehrreich gemacht werden kann, daß vollends alle Einwürfe, die man vielleicht im Drama mit Recht gegen ihn machen kann, hier schweigen müssen. Der Charakter des Grandison z.B. würde, auf mich wenigstens, ganz andre Eindrücke machen, als er jetzt macht, wenn uns Richardson alle die Umstände gezeigt hätte, wodurch, und wie Grandison das geworden ist, was er ist. Dies kann der Romanendichter; und vielleicht ist dies so gar, wie wir in der Folge sehen werden, das Eigenthümliche des Romans, wodurch er sich von den übrigen Dichtungsarten allein unterscheiden; oder vielmehr wodurch er sich einen Platz unter ihnen verdienen kann. – Richardson versucht es einmal, uns dies Werdende seines Helden zu zeichnen; aber ich sehe nicht, daß er es ausgeführet habe. Die erste Frage, wenn man einen so außerordentlichen Mann sieht, ist bey dem Prüfer so wohl, als bey dem Nachahmungseifrigen: Kann der Mensch auch das werden, was der Mann ist? – daher fehlt uns gewiß noch ein werdender Grandison, der besonders unsern deutschen Sitten, unserm Vaterlande entspricht. Ich fühle die ganze Schwierigkeit eines solchen Werks; und doch kann ich mich von dem Einfall nicht losmachen, es in künftigen Jahren selbst zu versuchen. – Wird es willkommen seyn? –

Quelle:
Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman, Leipzig und Liegnitz 1774. , S. 61-68.
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