7.

[68] Das vorher entworfene Ideal vom vollkomme-nen Charakter ist, nach Maaßgabe, nicht vollkommner, als es die Helden des Homers und der alten Dichter überhaupt sind. Sie sind zwar jenem nicht ganz ähnlich und gleich; aber dies liegt bloß in der Verschiedenheit der Zeit und der Umstände. Ich würde meiner Sache nicht recht viel trauen, wenn ich in den Dichtern der Alten nicht solche Charaktere zu finden glaubte, wie es, nach Maaßgebung der Zeiten, diese sind. Dies scheint auf den ersten Augenblick sehr paradox; aber man erlaube es mir, mich zu erklären.

Erstlich muß in der Moralität der Helden des Alterthums und der unsrigen ein Unterschied sich finden. So wie die Begriffe, die wir jetzt von der Würde der menschlichen Natur haben, eine Folge der Denkungsart, Religion, Gesetzgebung und Kenntniß des jetzigen Zeitalters sind: eben so sind die Begriffe der Alten von dieser Würde, und von der Vollkommenheit des Menschen, nach der Denkungsart, Kenntniß und Religion der damaligen Zeiten gebildet. Und eben so, wie mein Tugendhafter nach denen Begriffen handeln soll, die wir jetzt haben können: eben so haben die Personen der Alten, wenn sie solche zu schildern, oder vielmehr, wenn sie sie nöthig hatten, nach denen Begriffen,[69] die sie haben konnten, gehandelt. Wenn Achill unversöhnlich gegen den Agamemnon ist: so bedenke man nur, daß Unversöhnlichkeit gegen Feinde mit in dem Begriff eines vollkommenen Griechen, selbst noch in den spätern Zeiten, war21. Was uns hierinn widersprechend scheint, war es nicht in dem Zeitalter Homers. Auch der Verfasser vom Leben des Dichters, der in den Litteraturbriefen angeführt wird, mußte schon von der Moralität des Menschen ganz andre Begriffe haben, als Homer selbst sie haben konnte. Und da er die Personen der Iliade nicht mit seinen Begriffen von Vollkommenheit übereinstimmend fand: so konnte er[70] sehr leicht auf den Einfall gerathen, daß sich Vollkommenheit gar nicht mit einer dichterischen Person vertragen könne. Mich dünkt, daß der größte Theil der Helden der Iliade, nach Maaßgebung des Unterschieds, den Temperament, Alter, Volk, Stand, und die besondre Absicht des Dichters mit jedem, unter ihnen machen, nach dem Ideal menschlicher Vollkommenheit gebildet sind, das Homer haben konnte. Alle besitzen Tapferkeit, und verschiedene sehr viel Klugheit: zwey Eigenschaften, die man in dem rohen, und überhaupt in dem ersten, ungebildeten Zeitalter für die größte Vollkommenheit des Menschen hält und halten muß, wie dies der Kenner der frühesten Geschichte des menschlichen Geschlechts gewiß wahr finden wird. Wenn wir also unsre Vollkommenheit nicht in diesen Personen finden: so ists nur, weil Homer sie nicht kennen, weil er sie, als Grieche, nicht gebrauchen konnte, wenn er sie auch kannte. Er schilderte aber eben auch so gut Vollkommenheit, das heißt, die, nach damaligen Zeiten, anziehendsten und vortreflichsten Eigenschaften im Menschen, als ich solche nach Maaßgebung der jetzigen Zeiten vom Romanendichter geschildert wünsche. In der Sache selbst ist kein Unterschied, als den Zeiten und Umstände darinn machen. Wie kann man also dem neuern Dichter es als ein Verbrechen[71] zurechnen, wenn er nur eben so gut, wie jener, seine Personen vollkommen macht? Was im Homer Klugheit und Tapferkeit ist, muß mit Recht in ihm Tugend und Verstand seyn. Es ist bloß ein Wechsel der Eigenschaften. Eigenschaft gegen Eigenschaft sind sich die Personen nur unähnlich, weil Zeiten und Begriffe nicht mehr gleich sind. Und daß der Romanendichter seinen Personen ihre Eigenschaften nicht in einem höhern Grade geben solle, als sie Menschen zukommen können, als Homer selbst die Vollkommenheiten seiner Zeit seinen Personen gegeben hat, das ist vorher bemerkt worden. –

Die Meynungen späterer griechischer Zeit von Vollkommenheit widersprechen meinen Voraussetzungen nicht. Wenn wir in den Schriften der Philosophen vollkommenere oder unsern Begriffen von Voll kommenheit sich mehr nähernde Charaktere finden: so ists einmal, weil man zu ihrer Zeit schon reinere Begriffe von der Vollkommenheit des Menschen hatte, und dann, weil die Philosophen solche, und keine andre Charaktere, zur Erreichung ihres Endzwecks nöthig hatten. Mit ihrem Endzweck vertrugen sich nicht thätige, fürs Vaterland fechtende, und ihre Feinde hassende Helden. Und es ist ein Vorzug der Schriften des Alterthums, daß jedesmal darinn alle Mittel vortreflich zur[72] Erreichung des vorgesetzten Endzwecks gewählt sind. –

Zur Bestätigung des Unterschiedes in den Begriffen von der Vollkommenheit des Menschen, bedenke man nur, daß sich noch jetzt ein großer Abstand zwischen den Begriffen unsrer und dieser letztern Zeit der Griechen über die Sache findet. Griechische Vollkommenheit war weit zusammengesetzter, als es unsre ist. Vaterlandsliebe war mit in ihre Ideen von Vollkommenheit hineingewebet: man konnte nicht für vollkommen gehalten werden, wenn man nicht das Vaterland über alles liebte. Gehört dies zu unsern Zeiten in den Begriff eines vollkommenen Menschen? –

Und noch jetzt ist eine Verschiedenheit in den Begriffen von Vollkommenheit unter den noch existirenden Nationen. Man lasse einen Portugiesen, Spanier, Engländer, Franzosen, Italiener einen so genannten vollkommenen Charakter entwerfen; die Begriffe von Rechtschaffenheit und Tugend werden einen, aus der besondern Denkungsart des Volks hergenommenen Anstrich haben, der ihre vollkommenen Charaktere den unsrigen unähnlich macht. Wenn das Lesen der Romane dieser verschiedenen Nationen mich sonst nichts gelehrt hätte: so ist es gewiß dies. – Oder man vergleiche, was die verschiedenen Glaubensgenossen[73] der christlichen Religion sich bey Vollkommenheit denken? –

Man erinnere sich hierbey, daß Vollkommenheit im Menschen, in allen diesen Fällen, nichts heißt und nichts heißen kann, als die vortreflichste, anziehendste Eigenschaft im Menschen, die der Dichter eben deßwegen seinen Personen zuleget, weil er sich den mehrsten, den besten Eindruck damit zu machen verspricht. Hier kömmt es nun natürlich nicht auf die wenigen, in allen Nationen gleichdenkenden, erleuchteten Köpfe an. Für diese allein, als Philosophen betrachtet, können unmöglich Romane und Heldengedichte geschrieben werden; und sie selbst schreiben auch, als Philosophen, keine Romane.

»Aber warum trift man in den spätern Werken der griechischen Dichtkunst, in einem Aeschylus, Sophocles, Euripides nicht solche vollkommene Charaktere an, wie sie selbige nach den reinern Begriffen ihres Zeitalters haben konnten?« – Dieser Einwurf scheint wichtig; aber seine Beantwortung dünkt mich sehr leicht. Zuerst also nahmen diese Dichter den Innhalt ihrer Trauerspiele zum Theil aus einer Zeit, wo man die Menschen nicht vollkommener haben konnte, als sie sie uns schildern; und es würde unwahrscheinlich für die Griechen gewesen seyn, wenn man ihnen Geschöpfe gezeigt hätte,[74] von denen sie sich nicht überzeugen konnten, wie sie das geworden wären, was der Dichter sie seyn lassen. Wie konnte Oedip, nach der Bildung, die er erhalten hatte, vollkommener seyn, als ihn Sophocles schildert? Für den denkenden Kopf und den feinen Geschmack, den ich in Athen nicht bloß voraussetzen darf, wäre solch ein Widerspruch nicht eben unterhaltend gewesen. – Ferner nahmen die spätern Dichter den Stoff zu ihren Trauerspielen sehr oft aus dem Homer und andern epischen Dichtern; Aeschylus nannte die seinigen Ueberbleibsel von den herrlichen Mahlzeiten Homers; und wie konnte ein Euripides mit dem Achill so umgehen, wie Racine? Wie konnte Sophocles22[75] den Neoptolem so behandeln, wie Chataubrun? – Mit Wirkungen, die nicht hinlängliche Ursachen harren; oder mit Ursachen, die ohne Wirkungen blieben, den Zuschauer zu unterhalten, war damals wirklich noch nicht die Mode. »Aber die tragischen[76] Dichter haben auch Geschichte neuerer Zeiten aufs Theater gebracht? Die Perser des Aeschylus« ... Dies ist gewiß, und die Widerlegung dieses Einwurfs enthält das Wichtigste, das sich wider den ganzen Umstand sagen läßt, und das die ganze Sache entscheidet. Aber es ist auch so bekannt! – Es ist schon gesagt worden, daß in der Wahl der wahren Mittel zur Erreichung des Endzwecks niemand so sorgfältig gewesen, als die Dichter des Alterthums. Die tragischen Dichter konnten mit den vollkommenern Charakteren ihren Endzweck nicht erreichen; die hervorzubringende Wirkung wäre der Ursache nicht angemessen gewesen: dies ist der wahre Grund, warum wir keine solche Charaktere in den Werken des Aeschylus, Sophocles, Euripides finden. Das Drama, meines Erachtens, verträgt überhaupt nicht solche vollkommene Charaktere, wie sie der Roman leidet. Aus dem Unterschiede der beyden Gattungen entspringt diese Verschiedenheit, und sie ist daher so wesentlich als irgend eine. Im Drama würde zuerst der Erhabentugendhafte zu sehr das Ansehn eines Schwätzers haben müssen, wenn wir viel von ihm sehen sollten; und nichts verträgt sich weniger mit der Erhabenheit der Tugend (wie schon erinnert worden) als dies Geschwätz; und dann erfodert die Einrichtung des Drama, daß der Gang der Handlung schnell[77] gehe. Daher muß natürlich, vom Anfang bis zum Ende, alles in voller Bewegung seyn; diese kann nur durch ein unaufhörlich Spiel der Leidenschaften ... Doch was halt' ich mich bey einer Sache auf, die Aristoteles voll all' ihren Seiten betrachtet und behandelt hat? –

Wir haben gesehen, daß der Romanendichter Zeit und Raum hat, seine Personen nach allen ihren Eigenthümlichkeiten behandeln zu können. Thäte er nicht Unrecht, wenn er nicht alles das nützte, was die Dichtungsart, in welcher er arbeitet, ihm darbeut? – Genug hievon!

Ich habe mich lange bey dieser Erhabenheit ächter Tugend im Charakter aufgehalten; aber ich habe geglaubt, daß die Materie es verdiene. Alles das, was ich gesagt habe, soll nichts beweisen, als daß die Charaktere, die ich für den Roman wünsche, nach Maaßgabe der Zeiten und der verschiedenen Gattungen, keine andern sind, als die Charaktere der alten Dichter. – Und bey Anführung, des Schaftsbury sowohl als der Litteraturbriefe habe ich keine andre Absicht gehabt, als meine Meynung daran desto besser entwickeln zu können. Ein Leitfaden nur gewährt diesen Vortheil.

21

Eben so gut, wie der tapfere Krieger, den die Verfasser der Litteraturbriefe anführen, im Homer zittert (Iliad. N. v. 279), eben so gut wird der vorher entworfene Charakter auch die Gefahr fühlen; aber er wird auch eben so, wie der Krieger Homers, Meister seiner Furcht werden. Pope hat, bey seiner Modernisirung dieses Zugs nicht die mindeste Rücksicht auf die menschliche Natur gehabt. Und es ist traurig, daß selbst einem Pope hierinn, Dichten, Lügen und Uebertreiben eins gewesen ist. – Auch Richardson ist, in der Bildung seines Grandisons, an vielen Orten auf ganz gleiche Art zu Werke gegangen. Wer ihn dadurch vertheidigen wollte, daß wir in den Helden Homers selbst wenig oder gar nichts von dieser Furcht gewahr werden, dem könnte man antworten, daß diese Leidenschaft alsdenn von mächtigern Leidenschaften, als Vaterlandsliebe, Ehrgeiz u.s.w. überwältigt wird: Gegensätzen, von welchen wir gar nichts im Grandison gewahr werden.

22

Die Dichter der Alten waren in Beobachtung des Hergebrachten unstreitig weit sorgfältiger, als es die Neuern sind. Woran die Schuld liegt, – mag Kästner an meiner Statt sagen; aber mir erlaube man, die Sache durch einige Bemerkungen zu bestätigen. Man hat verschiedene Ursachen angegeben, warum Virgil seinen Held lieber so, als anders gezeichnet habe. Die wahre Ursache ist, weil er ihn im Homer schon so gezeichnet fand. Die Welt war schon mit dem Charakter des Eneas bekannt; der Dichter glaubte, ihn nicht mehr abändern zu können. Freylich hat Homer nur die Außenlinien von dem Helden der Eneide gezogen; aber er konnte auch nicht mehr thun. Seine Frömmigkeit zeigt sich, so bald wir ihn in der Iliade erscheinen sehen. »Vielleicht ist es ein Gott (sagt er vom Diomed), der Troia für versäumte Opfer züchtiget! – Der Zorn der Götter ist schrecklich.« – Er ist ferner der Erste, der es wagt, dem wüthenden Achill sich entgegen zu stellen; auch einer von denen ist er, die den Hektor aus den Händen des Ajax erretten. (Il. Ξ.) Alle diejenigen, die einen von einem andern Dichter bloß entworfenen Charakter ausbilden und vollenden wollen, mögen, in Rücksicht hierauf, den Virgil studieren. Er hat die geringsten Winke Homers genützt, und ganz genau das aufgefaßt, was er hat sagen wollen. – Und Homer selbst ist in andern Fällen eben so sorgfältig, in Rücksicht auf das Kostume, gewesen, als irgend ein andrer Dichter des Alterthums. Eustathius hat die Bemerkung gemacht, daß Homer nirgends einer kriegerischen Musik in Schlachten bey den verschiedenen Heeren vor Troja gedenkt; obgleich zu seinen (Homers) Zeiten die Trompeten z.B. schon im Gebrauch gewesen. Dies erhellet nämlich daraus, daß Homer sie, aber nur Gleichnißweise (Iliad. C.) anführt. – Das Zeitwort σαλπιζω, wodurch die spätern Griechen den Klang der Trompete ausdrückten, braucht Homer von jedem andern Tone oder Getöse, als in Iliad. φ v. 388. vom Donner: ἀμφὶ δὲ σάλπιγξεν μέγας ουρανός. Und es ist nicht zu glauben, daß, wäre kriegerische Musik zur Zeit des Trojanischen Krieges in den Heeren eingeführt gewesen, Homer solch einen Umstand, der so dichterisch genützt werden kann, vernachläßigt haben sollte. Eben so verhält es sich mit dem Gebrauch der Reuterey in den Heeren. Homers Helden und Krieger streiten zu Fuß, oder zu Wagen; der Reuterey gedenkt Homer auch nur Gleichnißweise. (Iliad. O.)

Quelle:
Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman, Leipzig und Liegnitz 1774. , S. 68-78.
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