12.

[402] Ich komme zu dem Innhalt der einzelnen Theile eines Romans. Dieser Innhalt kann entweder so beschaffen seyn, daß er geradeswegs Unterricht und Lehren für uns enthält; oder er kann sich bloß mit unsern Empfindungen beschäftigen. Ueber die Art, wie wir jenen Unterricht erhalten können, über die Gestalt, die diejenigen Gegenstände haben müssen, welche Empfindungen, wie sie Menschen zukommen, in uns erzeugen sollen, ist vielleicht noch allerhand zu sagen nöthig.[402] Zuerst vom Unterricht in diesen einzelnen Stellen. Wer sieht nicht, daß dieser Unterricht, dies Moralisiren, das gerade zu nichts als Moral ist, was ganz anders ist, als jene, aus Begebenheiten gefolgerte Lehren? –

In der vorhin angeführten Scene aus Emilia Galotti findet sich ein Beyspiel, wie sehr vortreflich, und mit aller möglichen Wahrscheinlichkeit der Leser geradeswegs Unterricht erhalten, und mit lehrenden Ideen beschäftigt werden könne. Und eben dort ist auch die genaue Verbindung dieser Scene mit dem Ganzen des Werks, ihre Nothwendigkeit für das Trauerspiel, erwiesen. Eben so könnt' ich aus Musarion ... ich müßte den größten Theil der Musarion herdrucken lassen, wenn ich alle die Stellen anmerken wollte, die geradeswegs Unterricht enthalten. In der Gattung dieses Gedichts, und in dem besondern Innhalt von Musarion lag natürlich mehr Veranlassung dazu, als in einem Trauerspiel liegen kann. Die beyden Philosophen unter andern sind in Umstände gesetzt, in welchen sie ihre Denkungsart und Gesinnungen äußern müssen; und wer aus dieser Aeußerung, auch im eigentlichen Sinne, nichts lernt, hat nur sich die Schuld beyzumessen. Der Auftritt ist zugleich so genau mit dem Ganzen als Wirkung und Ursach verbunden; er erfolgt so eigenthümlich aus der[403] Denkungsart der handelnden Personen; er setzt ihren ganzen innern Zustand in ein so helles Licht, und wird also zugleich ein so glückliches Mittel zur Individualisirung der Personen, – daß er auch, aus diesem Gesichtspunkt betrachtet, gleich wahr, und gleich vortreflich ist. Phanias konnte, ohne diese Scene nicht das werden, was er wird, er konnte nicht von seinen Irrthümern zurück kommen; die beyden Afterweisen konnten nicht den Charakter haben, den sie des Ausgangs wegen haben müssen; wir konnten nicht so innig, aus der Vergleichung zwischen dem, was sie reden, und was sie thun, erkennen, was es eigentlich für Geschöpfe sind, – wenn uns der Dichter nicht mit den Systemen der Stoiker und Pythagoräer unterhalten hätte. Eben so lehrreich, im eigentlichen Sinn, ist die Unterhaltung, – natürlich der Theil der hieher gehört – welche Phanias mit der Musarien im dritten Buche hat, wo jene Systeme geprüft, und des Lesers Vorstellungen berichtigt werden. Und eben so richtig, und so nothwendig, wie die vorhergehende Scene, ist sie mit dem Ganzen, mit dem Zweck des Dichters verbunden.

Nicht so verhält es sich mit dem größten Theil der moralischen und critischen Betrachtungen, von denen einige neuere Romane wimmeln. Oft
[404]

Je saute vingt feuillets pour en trouver la fin.


und es gelingt mir doch nicht. Die Richardsonschen Romane sind es, die zu dieser Einwebung moralischer Sentenzen, und critischer Bemerkungen den Anlaß gegeben; aber der Engländer hat es immer noch mit einer gewissen Sparsamkeit, und mit einer zehnmal großern Schicklichkeit gethan, als seine deutschen Nachahmer.

Und schicklich sind, wie gedacht diese Sentenzen, diese Ausspinnungen moralischer Lehrsätze, diese Beobachtungen über des Menschen Thun und Lassen allein, wenn in dem Gange des Werks dadurch eine Wirkung hervorgebracht wird, so, daß das Ganze dadurch fortrückt, und seinem Ziele näher kommt, oder wenn dadurch ein Licht aufgestecket wird, das uns den Zusammenhang aufkläret. Alsdenn sind diese Betrachtungen nicht mehr Einschiebsel, sondern sind fürs Ganze so nothwendig, als irgend ein andrer Theil. Wir wollen die Sache näher betrachten.

Die mehrere oder wenigere Schicklichkeit und Wahrscheinlichkeit erhalten solche Stellen, je nachdem sie sich entweder vom Autor selbst und von seinen Personen herschreiben. Der Verfasser des Agethon hat sehr viel moralische Betrachtungen in sein Werk hineingeschoben; allein sie sind schlechterdings nothwendig, um die vergangenen Begebenheiten[405] ins hellste Licht zu setzen, dem Leser den rechten Gesichtspunkt zu zeigen, aus dem er Charakter und Vorfall beurtheilen soll, und den Einfluß jeder Begebenheit auf den Charakter des Agathon aus einander zu setzen. Das vierte Kapitel des achten Buchs (Erst. Aufl.) hat die Ueberschrift: eine kleine Abschweifung, und könnte leicht einigen Lesern entbehrlich scheinen. Aber der weisere Dichter hat in ihm die Rechtfertigung gegeben, warum er den Agathon lieben lassen? Der denkende Leser findet darinn die Aufklärung über Agathons ganze Begebenheiten zu Smyrna, – über die Macht der Liebe, – über ihren Einfluß auf das menschliche Herz: Dinge, die alle nothwendig sind, unsre Vorstellungen vollständig zu machen, und die doch mancher Leser nicht aus sich selbst herauszufinden vermag. Ich sehe nicht ab, wie ohne dies Kapitel die innre Geschichte Agathons berichtigt werden könnte?

Auf diese Art nun kann der Dichter in eigner Persen moralisiren. Nicht alltägliche Bemerkungen, die jeder selbst machen kann, wenn er es verdient, daß der Dichter als Leser an ihn denkt, – nicht entbehrliche Zusätze und Digressionen, die man wegschneiden kann, ohne die mindeste Lücke im Werk und in unsern Vorstellungen gewahr zu werden, soll der Dichter einflicken. –[406]

Noch weniger sollen es die Personen. Situation und Charakter sind ihnen gewöhnlich beydes gleich sehr im Wege, nur Bemerkungen ächter Art anzubringen; vielweniger denn moralisches oder kritisches Geschwätz.

Wenn die Bemerkungen der Personen Schicklichkeit haben sollen, so müssen zuvörderst ihre Charaktere so gebildet seyn, daß sie moralisiren können, und daß wir ihr Moralisiren gerne hören. Der Vorzug, den launigte Charaktere hierinn haben, ist bereits bemerkt. Es ist ihnen natürlich über alles eigenthümlich zu denken, und herauszusagen, was sie denken. Man braucht aber auch nicht eben ein Humorist zu seyn, um Betrachtungen anstellen zu können. Wir haben vorhin den Dichter des Agathon selbst gehört; er sagt aber auch im sechsten Kapitel des achten Buchs von seinem Helden, daß er auf der Reise nach Syrakus eine Menge Betrachtungen gemacht habe, und diese lesen wir zum Theil dort. Zuerst war nun Agathon der Mann darnach, daß er Bemerkungen anstellen konnte. Er ist so gebildet, daß er denken muß und kann; aber das, was er denket, trägt sehr viel dazu bey, dies vermeinte Moralisiren vollends in ein sehr vortheilhaft Licht zu setzen. – Er moralisirt nämlich nur über sich. Seine ganzen moralischen Betrachtungen schränken sich darauf ein, sich selbst sein[407] innres Seyn aufzuklären und Rechenschaft davon zu geben; und der Leser genießt dieser Rechenschaft mit. Außer dem nothwendigen Lichte, das dies Moralisiren über den Charakter Agathons verbreitet; außer der Richtigkeit und Wahrscheinlichkeit, die die ganze Sache durch die Denkungsart der Person, seine letztern Begebenheiten, seine ganzen Schicksale erhält; außer der Nothwendigkeit, daß ein Agathon, bey solcher Gelegenheit auf sich selbst zurück kommen muß, wird nun der Leser im Genuß des Vergnügens, das ihm diese Situation, ihrer Wahrheit wegen, gewähren muß, nicht durch den Gedanken gestoret, daß der Moraliste, auf Kosten eines andern, auftritt, und ihn unterhält. – Diese Vorstellung hat gewiß Einfluß auf unser Urtheil über die Betrachtungsreichen Personen in den gewohnlichen Romanen. Im geselligen Leben sind diese Geschöpfe unausstehlich, die bey jedem Anlaß, den eine Person geben kann, bey dem geringsten Vorfall, ihre Weisheit auskramen, um uns zu zeigen, daß sie von einer bessern und höhern Gattung, wie wir, und fähig sind, uns Unterricht zu geben. Daß sie im Roman eben diese Wirkung hervorbringen, ist sehr natürlich. Was ist eine Person hier sonst, als eine Gesellschafterinn, die der Dichter uns zuführet. – Und kaum werden wir im geselligen Leben, wenigstens sichtlich, sie so[408] finden, wie es unter andern Henriette Byron, und Sophie sind. Diese Personen wollen dem Leser das Verdienst wegnehmen, bey irgend einer Begebenheit etwas denken zu können; sie buchstabiren uns gleichsam ein Nichts von moralischen Bemerkungen vor und verlangen, daß wir ihnen nachlallen sollen. – Ists wahrscheinlich, daß wir sie hören werden? Und wenn sie noch so gute Sachen sagten, so sehen wir ihnen zu sehr ins Herz, als daß wir ihnen das Recht, unsre Lehrer zu seyn, eingestehen sollten. –

Dies Ansehn von Würde und Vortreflichkeit, das, nach des Dichters Vorsatz, diese Personen durch ihre Bemerkungen erhalten sollen, und durch dessen Anmaßung sie uns so ekelhaft werden, weil sie es, auf Kosten anderer, gewöhnlich nur suchen, ist nicht das einzige, das in diesen Personen den Leser beleidigt. Die mehrsten dieser geschwätzreichen Charaktere vereinigen in sich Vollkommenheiten und Eigenschaften, – vermöge welcher sie nämlich solche Schwätzer geworden sind – die schlechterdings mit der Wahrscheinlichkeit nicht bestehen können. Ich streite einem Frauenzimmer nicht die Eigenschaften ab, vermöge welcher sie z.B. die Unterhaltung haben könnte, die Richardsons Henriette mit H. Walden hat. Aber, wenn man von eben diesem Frauenzimmer vorgiebt, daß sie zugleich[409] alle mögliche weibliche Vollkommenheiten und Eigenschaften besitzt: so läugne ich schlechterdings die Möglichkeit, daß sie, besonders sehr jung, alle die Kenntnisse sich erwerben könne, die zur Führung einer solchen Unterredung nöthig sind. Es giebt Eigenschaften, die sich geradeswegs einander ausschließen, ohne daß sie, moralisch betrachtet, einander entgegen gesetzt seyn dürfen. Doch hiervon an einem andern Orte! – Wer aber glaubt, daß, wenn man von einer Eigenschaft und Vollkommenheit reden und schwatzen könne, man nun auch das Recht habe, sie sich zuzueignen, oder daß man sie wirklich besitze, und sie in Thätigkeit und Ausübung bringen könne, und auf diese Art all' die Eigenschaften in sich vereinigen, von welchen man zu sprechen weis, würde nichts mehr glauben, als daß der Dichter, der den Julius Cäsar und den Falstaff, den Hamlet und den Othello, Julie und Beatrix reden lassen kann, zugleich Julius Cäsar und Falstaff, Hamlet und Othello, Julie und Beatrix ist. – Wir wollen wirkliche Individua vom Dichter haben.

Und alles, was diese Henriette20 sagt und thut, so wohl in dem vorher angeführten Auftritt, als sonst,[410] sonst, steht verwittwet und verwayst da; und kann, nach Belieben, herausgeschnitten werden, ohne daß wir etwas vermissen, oder irgend etwas dunkler sehen. Beyspiele haben dies bewiesen. Der Mann, der die Romane Richardsons in einen Auszug gebracht, hat die bitterste Satyre, die sich über ein dichterisches Werk machen läßt, gemacht. Aber man versuche einmal und schneide aus dem Agathon heraus! –

Noch öfter ist die Situation der Personen gar nicht so, daß sie nur Zeit hätten, an die allerkleinste Moral zu denken. Es giebt Leute, die in der Heloise des Rousseau gerade das, was nicht dahin gehört, für das beste halten: Rousseaus moralische Betrachtungen. Und freylich, da es Rousseausche Betrachtungen sind: so les' ich sie eben auch gern, wenn ich gleich von ihnen, so wie von jenen sagen muß:


Purpureus, late qui splendeat, vnus et alter

Pannus –

Sed nunc non erat his locus. –


[411] Julie ists, die den sieben und funfzigsten Brief des ersten Bandes über die Duelle schreibt; aber – abgerechnet, daß Rousseau vielleicht allein diesen Brief schreiben konnte, – ist Julie bey der bevorstehenden Gefahr ihres Geliebten, in einer Verfassung philosophiren zu können? Ich frage jeden, der das weibliche Herz kennt; dies Herz, wenns liebt? – Rousseau hat dies gefühlt. Julie endigt den Brief: Je ne t'ai rien dit de ta Julie, und von dieser hätte sie eben mit ihm reden müssen. Denn über der Gefahr, in der sich St. Preux befand, und über der sehr sichtlichen Bekümmerniß, in der sie im Briefe an den Engländer erscheint, hätte sie alle die Verabredungen vergessen müssen, vermöge welcher der Liebhaber ihr das Recht gegeben hatte, seine Gouvernante zu seyn; sie hätte daran, daß St. Preux durch sein eignes Herz an sie schon erinnert werden würde, gar nicht denken können, wenn ihr der Dichter ihr eignes Herz gelassen hätte. Aber dem Rousseau war's um eine Abhandlung über den Zweikampf zu thun, die, so schön sie immer seyn mag, ich doch das erste mal nicht endigen konnte. Und wir Deutschen sind hierinn von einem so seltsamen, und so wenig aufgeklärten Geschmack, daß ich noch neuerlich irgendwo, eine Aufforderung an Romanendichter gelesen habe, die ganze Sache des Zweykampfs[412] zu behandeln. Als ob solche Sachen, wenn sie entschieden werden sollen, fürs Tribunal des Romanendichters und nicht vielmehr des Philosophen gehörten?21 – Und noch würd' ichs gelten lassen, wenn die ganze Sache frauenzimmerlich wäre; denn Frauenzimmer könnten vielleicht einen Romanendichter, statt der Philosophen zu Rathe ziehen; aber Mannspersonen erwarten Entscheidungen über solche Sachen vom Romanendichter! ohne Einschränkungen hinzuzufügen, unter welchen sie etwas darüber erwarten können! und mit einer Art, als ob das, was sie darüber in Romanen gefunden haben, vollkommen gut, und an der rechten Stelle gewesen wäre! Was wird doch aus uns Deutschen noch werden! Oder vielmehr, was sind wir nicht schon! – Wie läßt sich eine Sache gerade zu, und der Wahrheit nach, ausmachen und entscheiden, wenn die Personen, die diese Sache unter Händen haben, unmöglich in dem Gemüthszustand, in der äußern Situation, von solchen Einsichten seyn können, als zur Berichtigung einer Sache nöthig sind. Wer sieht nicht, daß die Personen des Dichters, nach ihrer gegenwärtigen Verfassung des Geists, handeln und entscheiden müssen; und daß sie uns nur die Seite,[413] die sie sehen, von der Sache zeigen können? Wie kann durch parteyische Advokaten eine Sache entschieden werden, die vor den Richterstuhl der kaltblütigen, ruhigen, untersuchenden Vernunft gehört? Oder soll der Dichter erwann seine Personen in solche untersuchende Geschöpfe verwandeln, und aller Eigenthümlichkeit, aller Natur, aller Wahrheit seines Werks, mit samt den Vortheilen, die ihm diese gewähren, entsagen, um sich einer Sache anzumaßen, der er immer, als Dichter betrachtet, nicht gewachsen ist, die man nicht in ihm sucht und in ihm liest? Freylich, wenn sein Held ein Philosoph wäre; und dann nicht einmal; wenigstens nicht zum Vortheil des Dichters. – Genug hievon! –

Wenn gute Betrachtungen und Moralen und Sentenzen in dem Werk des Dichters, nur unter gewissen und sehr, sehr wenigen Bedingungen, statt finden können: so versteht sichs von selbst, daß allgemeine triviale Sprüchelchen und Bemerkungen unter das völlige Unkraut gehören.

Der Romanendichter wählt überhaupt einen unglücklichen Weg, seinen Leser zum Unterricht zu führen, wenn er ihn durch Maximen und Sentenzen dahin bringen will. Das sind Verzäunungen und Schranken auf dem Wege, über die der, durch den Lauf der Begebenheiten angereizte Leser wegsetzt,[414] oder sie niedertritt, und ins blache Feld hinab eilet, wo er sich seiner Einbildungskraft und seinem Herzen überlassen kann. Wenn der Dichter, um seine Moralen an den Mann zu bringen, nun gar bloß dieser Moralen wegen seine Begebenheiten wählet, denn – adieu Illusion, Vergnügen! Unterricht! –

Und wer sieht nicht von selbst, daß überhaupt der buchstäbliche Unterricht höchst selten nur mit den Mitteln zusammen paßt, die der Dichter in Händen hat, um seinen Endzweck zu erreichen? Ist die Moral, die Betrachtung, die Reflection aus dem Innersten, aus dem Eigenthümlichen der vor uns liegenden Situation, oder des Charakters hergehohlt: so enthält sie dadurch natürlich so viel Individuelles, so viel Bestimmtes, daß sie fast nie einer allgemeinen Anwendung fähig ist. Wer kann läugnen, daß die berühmte Monologe des Hamlet


To be or not to be etc.


sehr viel vortrefliche Betrachtungen enthält; aber wer kann sie brauchen, als der, welcher gerade in Hamlets Verfassung ist? Schakespear läßt nämlich den Hamlet das sagen, was er nach seiner Verfassung sagen konnte; der Dichter hat gewiß nicht ans Moralisiren gedacht. Deßwegen aber ist gerade diese Monologe eine der vortreflichsten. Addison hatte schon in dem ersten Auftritt des[415] fünften Aufzugs seines Cato eine andre Absicht; er wollte moralisiren; und die Monologe ist darnach gerathen. Sie dürfte schwerlich eine dichterische Vergleichung mit der Schakespearschen aushalten.

Wir wollen überhaupt alle nicht, daß man uns geradeswegs vordocire; besonders wenn wir auf etwas anders eingeladen worden sind, so daß wir uns zum Unterricht nicht gefaßt machen konnten22. Wer uns noch Lehren der Sittlichkeit[416] geben will, ohne daß wir sie suchen, sagt uns, daß wir noch Mangel daran haben. –

Wenn sich nun zu dieser Denkungsart der Fall gesellet, daß die mitgetheilten Moralen und Betrachtungen nicht eigenthümlich, sondern fein allgemein sind, so daß sie auf alle Personen und auf alle Situationen passen: so können sie natürlich nichts anziehendes behalten. Und solche allgemeine und besondre Absichten haben einige unsrer Dichter; unter dem Vorwande, daß es für eine gewisse Classe von Lesern an moralischen Schriften fehle. Aber, Lieber, haben wir denn nicht Wochen- und Monathsschriften genug? Und sind eure Moralen besser, kräftiger gesagt, wie in diesen? Beyleibe nicht! denn wir haben auch Wochenschriften, an welchen Cramer und Klopstock und Schlegel und Gerstenberg und Kronegk gearbeitet[417] haben. Und diese Schriften haben den Vorzug, daß man Moral in ihnen sucht, und sie nicht so leicht, unter andern. Dingen darinn verlieren kann. Oder glaubt ihr, daß man sie ehe lesen wird, weil sie in Romanen steht? Dies ist wohl nur denn zu vermuthen, wenn eure Romane gut geschrieben sind; und sind sie dies, so wird man gewiß über den Begebenheiten den Moralisten vergessen. – – Es bleibt dabey.


Das einzige Mittel, geradeswegs und buchstäblich im Roman zu moralisiren, oder Unterricht hineinzuweben, findet nur dann statt, wann dieser Unterricht, als Wirkung und Ursach, ins Ganze gehort, oder wenn er die Verbindung unter den Theilen des Ganzen aufhellet. Launigte Charaktere sind natürlich hierunter mit begriffen; so wie alle Personen, deren Denkungsart, Situation und ganze Lage es erfodert, daß sie – über sich selbst moralisiren, natürlich aber unter der vorherausgedrückten Bedingung. Alle übrigen Personen haben nur dann das Recht dazu, wann sie der Dichter lächerlich, eckelhaft, oder verächtlich machen will.

20

Auch der größte Theil der Nation, für die der Grandison geschrieben ist, verdammt die Henriette als eine langweilige ekelhafte Gesellschafterinn. Ohnlängst noch ist dort ein Roman (The Card) von neuem gedruckt, und bey der Gelegenheit, von den Kunstrichtern, der Nation auch deßwegen empfohlen worden, weil er, wie sie sagen, die spun-out superfluities of the female chit-chat, in der Geschichte des Grandisons lächerlich macht.

21

In den natürlichen Dialogen.

22

Ich habe den Romanendichtern das Studium der Philosophen angerathen; aber gewiß nicht, damit sie entweder Sprüchelchen und Sentenzen aus ihnen herhohlen, oder sie gar über die Einrichtung ihrer Werke immer um Rath fragen sollen. Die Nichtigkeit des erstern ist oben gezeigt; und das letztere kann oft mißlich werden, wenn der Philosoph, nichts als Philosoph, seyn will. Wenn Homer und Plato zugleich gelebt und jener diesen über die Anordnung seiner Iliade um Rath gefragt hätte: so würden wir eine andre, – aber sicherlich nicht eine bessere Iliade erhalten haben. Ich gesteh' es, daß mir in dem Philosophen nichts beschwerlicher ist, als sein Tadel des Homer; und wenn seine dichterische Versuche nicht besser waren, als seine Critik: so bin ich gar nicht böse über seine Anwendung des Homerischen Verses:

Ἥφαιστε πρόμολ᾽ ὧδε, Θετις νυ τι σειο χατιζει.

Il. C.

Die Personen sollen ihm so bandeln, wie es im Buche steht; bald heißt ihm Achill unmännlich, wenn er über den Patroclus klagt; bald gottlos, wenn der Krieger den Zevs aus zwey verschiedenen Urnen den Menschen ihre Schicksale zufließen läßt u.s.n. Und wenn ein Plato so urtheilen kann, dann ist wohl die obige Einschränkung nicht überflüßig. – Freylich aber, glücklich der Dichter, der einen Mendelssohn, einen Sulzer um Rath fragen, und den Rath nützen kann! Von ihnen, und von den Philosophen überhaupt, wird er dann das Geschlecht der Menschen besser kennen, und immer zur Erreichung seiner Absicht die sichersten und kürzesten Mittel wählen lernen. Er wird – doch es ist hier nicht darum zu thun, wie der Dichter die Philosophen nutzen solles sondern mir vor denen Abwegen zu warnen, auf die, Philosophie unrecht verstanden, den Dichter verleiten kann.

Quelle:
Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman, Leipzig und Liegnitz 1774. , S. 402-418.
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