13.

[418] Die einzelnen Theile eines Ganzen, die Charaktere, Vorfälle und Begebenheiten können sich auch mit unsern Empfindungen beschäftigen. Aus diesem Gesichtspunkt wollen wir sie jetzt vornehmen. Man sieht leicht, daß hier also bloß von ihrem Innhalt die Rede ist.

Die Zahl dieser Theile ist, wenn wir aus Beyspielen folgern, bey weitem die größeste, verglichen mit den vorhergehenden, in den mehrsten Werken des Witzes. Ich glaube, daß hier der rechte Ort seyn wird, es auszumachen, ob die Dichter Recht oder Unrecht hierinn handeln?

Wir fühlen es alle in uns, – und gewiß fühlen wir es in denen Jahren, in welchen der kluge Dichter sich seine Leser wünscht – daß eine ununterbrochene lange Reihe von Empfindungen, sie mogen auch so abwechselnd seyn, als sie wollen, uns ehe ermüdet, als angenehm unterhält23.[419] Es ist nicht möglich, daß wir immer empfinden können; und, wenn wir es könnten, so thäte der Dichter Unrecht, uns in einem fort anzuspannen, weil die Empfindungen selbst, die er in uns zuletzt würde erzeugen wollen, darunter leiden müßten; wir würden erschlafft, und des Grades von Spannung nicht mehr fähig seyn, den der Ton, den unsre Seele angeben soll, erfodert. Wir würden nur halb noch fühlen können. Es ist vielleicht schon in einem Trauerspiels mißlich, den Leser oder Zuschauer nie zu sich selbst kommen zu lassen; vielweniger in einem Werke von größerm Umfange. – Und je stärker diese Empfindungen sind, die in uns erzeugt werden sollen, je öfter muß uns der Dichter Gelegenheit geben, neue Kräfte zu sammlen. – Wenn diese, auf die Erfahrung und den Nutzen des Dichters sich gründende Bemerkungen einer mehrern Bestätigung bedarf: so erhält sie solche durch die ganze Einrichtung der menschlichen Natur. Wir können unmöglich das werden, was wir werden sollen, wenn wir nichts wollten, als empfinden. Ist nicht billig, daß auch der Dichter das Seinige zur Erreichung des Endzwecks beytrage, der uns festgesetzt ist? –[420]

Freylich wird sich kein Maaß angeben lassen, nach welchem diese Ruheplätze in einem Werke des Witzes abzustechen sind. Es hängt von der Einrichtung des Werks, je nachdem dies überhaupt mehr oder minder heftige Bewegungen erzeugt, und von vielen kleinen Umständen mehr ab, die den Dichter sein Genie allein lehren kann. Wenn aber der Dichter seinen Stoff gehorig durchgedacht, wenn er seinen Plan, als eine aneinander hängende Reihe von Wirkungen und Ursachen geordnet und genau verbunden hat, so werden sich diese Ruheplätze von selbst ergeben, und sehr gewiß eben so nothwendige Theile seines Ganzen seyn, als jene, die nur Empfindungen erzeugen sollen.

Diese letztern erfodern, wie mich dünkt, so manche Behutsamkeit und Vorsicht in ihrer Behandlung, daß ich mich billig verwundere, wie man hierinn gewöhnlich nichts, als Willkühr hören, und es für genug halten kann, uns nur in Bewegung zu setzen, und darinn zu erhalten, es sey auf diese oder jene Art. Zwar alle Kunstrichter sind nicht so gleichgültig in Bestimmung des Maaßes gewesen, das hierinn zu halten ist. Aristoteles und Horaz haben manches davon gesagt; nur Schade! daß dies ein paar Schulbücher sind, die man nicht einmal gern in die Hände nimmt, geschweige denn – versteht. Nur des letztern:
[421]

Pictoribus atque poëtis

Quidlibet audendi semper fuit aequa potestas,

ist die Schutzwehr, hinter welcher man sich so gern verbirgt, wenn man auch über das, was man hierinn versieht, zur Vertheidigung aufgefodert wird.

Es ist wirklich nichts seltsamer, als einen gewöhnlichen, Romanendichter von allen Seiten, ohne Vorbereitung, Uebergang, Verbindung, Zusammenhang auf unser armes Herz losstürmen, und – leibhaftig wie der Knabe, der das Clavier spielen will und nicht kann, bald hoch, bald niedrig, bald in halben, bald in ganzen Tönen aus unsern Empfindungen herum klimpern zu sehen. Und dies ist noch nicht der ärgste Fall. Auf dem Clavier kann man doch noch nicht einzeln falsche Töne angeben; aber der Knabe nimmt auch oft des Vaters Violine und spielt – gerade so wie z.B. die Geschichte des Glücks geschrieben ist. – Ists ein Wunder, wenn, – so wie der Körper aus schnellen und heftigen Abwechselungen von großer Kälte zu grosser Hitze, und von großem Durst zur Trunkenheit, ein natürlich Fieber, und oft noch ärgere Zufälle davon trägt – die Seele eben so fieberhaft, eben so ungesund durch solche Unterhaltungen wird? Und die letztern Krankheiten sind schwerer zu heilen, als die erstern.[422]

Ich will versuchen, aus der Natur des Endzwecks, den jeder Dichter billig mit seinem Werke haben sollte, es ausfindig zu machen, wie er sich billig in Erregung unsrer Empfindungen verhalten solle? Ich habe von diesem Endzweck bereits vorhin gesagt, daß er in nichts anders bestehen könne, als solche Empfindungen und Vorstellungen in uns zu erzeugen, die unsre Vervollkommung befördern, und unsrer Bestimmung uns näher bringen können. Es fragt sich, in welchem Zustande müssen unsre Empfindungen seyn, wenn sie mit unsrer Bestimmung bestehen sollen?

Es giebt Leute, denen zu gefallen ich, eh' ich weiter gehe, von der Erregung unsrer Leidenschaften überhaupt ein Wort sagen muß. »Ists auch erlaubt unsre Leidenschaften zu erregen?« – so fragen noch immer manche Kopfhänger, die eben so gern in Deutschland eine Schule von Verschnittenen am Herzen anlegen möchten, als ein großer Herr ohnlängst irgendwo eine von leiblichen Verschnittenen angelegt hat: eine Ehre, die nicht einmal Italien mit den Söhnen Teuts, und den Nachkommen Hermanns theilen kann. –

Daß uns die Natur, oder vielmehr der weise und gütige Urheber der Natur so geschaffen hat, wie wir sind, das heißt, mit den Anlagen, mit welchen wir auf die Welt kommen, wird wohl keiner[423] läugnen. Wir sind alle geneigt, zu bewundern, zu lieben u.s.w. Der Bauer, der nun eben den Mund aufsperrt, wenn er einen von jenen Kopfhängern sehr stark reden hört, bewundert eben so gut, als der, dem irgend eine große That des Grandisons die Brust in die Hohe treibt. Und ich weis noch nicht, daß aus jener Bewunderung dem Bauern ein Verbrechen gemacht worden ist. – Nicht einmal das ist ihn gelehrt worden, daß er nur Gegenstände, die es werth sind, bewundern, und wie weit er überhaupt in seiner Bewunderung gehen solle: Dinge, die es wohl werth sind, gesagt zu werden, weil der ehrliche Bauer eben so leicht vor dem Gerüste des Taschenspielers seinen Mund aufsperren kann, als an einem andern Orte, – und weil ihm leicht, wenn er es zu weit treibt, eine Ohrfeige eben so nöthig ist, als sie es der Mutter des Bruder Gernndio auf andre Veranlassungen war, wenn der Mund wieder in Ordnung gebracht werden soll. –

Es ist das Geschäft des Dichters, durch die Erregung der Leidenschaften seiner Leser, ihnen Gelegenheit zu geben, ihre Empfindungen in dem gehörigen Maaß, und für solche Gegenstände auszubilden, die es werth sind, uns in Bewegung zu setzen. Der Dichter, der entweder bey Erregung unsrer Leidenschaften gar keinen Vorsatz hat, als die[424] Erregung selbst, oder einen andern – vielleicht weniger edlen, wird es mir erlauben, daß ich von seiner Dichtkunst nicht eben gar zu hohe Ideen haben mag. – Wir finden im wirklichen Leben Versuchungen genug, unsre Leidenschaften auf unrichtige Gegenstände anzuwenden, und uns dadurch in Gefahr, Schande und Elend zu stürzen. Soll der Dichter diese Versuchungen vermehren helfen? Gewiß nicht! –

Die Erregung unsrer Empfindungen auf die rechte Art, hat den Nutzen, den jede Uebung des Guten hat. Denn unsre Empfindungen erregen, ist nichts, als sie üben. Uebung macht stark.

Unsre Empfindungen werden also, bey Gelegenheit in keinem, als dem gehörigen Grade entstehen. Und je öfter unsre Menschenliebe, unser Mitleiden, all' unsre geselligen Leidenschaften geübt worden sind, je leichter werden sie, bey Veranlassungen im wirklichen Leben, erwachen. Der Mann, den der Dichter das Unglück und Elend hat bemitleiden lehren, wird ehe dem Hülfsbedürftigen beyspringen, als der harte Kopf, oder das zähe Herz, die von solchen Uebungen ihrer Gefühle nichts haben wissen wollen. –

Und endlich, wenn es gewiß ist, daß wir im wirklichen Leben eben so leicht auf eine ergetzende als verdrüßliche Art in Bewegung gesetzt werden[425] können: so laßt uns der Vorsicht danken, die uns durch die Werke der Nachahmung Anlaß und Gelegenheit giebt, unsre ergetzenden Bewegungen zu vervielfältigen, indem solche zugleich zu unsrer Vervollkommung, und zum Nutzen des Ganzen angewandt werden können.

Eine Stelle aus dem Sterne, der auch ein Geistlicher war, würde die Widerlegung dieser verschrumpften Herzen und schiefen Köpfe vollenden, wenn sie nicht zu lang wäre in den Text eingerückt zu werden. Sie mag in der Note stehen24!

23

»Man kann es unsern Dichtern nicht oft genug wiederholen, sagt einer unsrer besten Kunstrichter, daß es nicht bloß durch Leidenschaften möglich ist, zu interessiren, daß sie durch diese nur selten und immer um Augenblicke lang interessiren; daß es nur allein der Reichthum der Vorstellung, die Wichtigkeit und die Menge dessen, was sie uns zu denken geben, seyn kann, was uns bey einem größern Werke von Anfang bis zu Ende geschäftig, aufmerksam und befriedigt erhalte.« Man lese das Uebrige in den Gedanken über das Interessirende (N. Bibl. der sch. Wissensch. 12. B. S. 8.) selbst nach; und mache dann die Anwendung!

24

Sweet pliability of man's spirit, that can at once surrender itself to illusions, which cheat expectation and sorrow of their weary moments! – Long – long since had ye numberd out my days, had I not trod so great a part of them upon this enchanted ground: when my way is too rough for my feet, or too steep for my strength, I get of it, to some smooth velvet path which fancy has scatter'd over with rosebuds of delight; and having taken a few turns in it, come back strengthen'd and refresh'd. When evils press sore upon me, and there is no retreat from them in this world, then I take a new course – I leave it – and as I have a clearer idea of the elysian fields than I have of heaven, I force myself, like Eneas, into them – I see him meet the pensive shade of his forsaken Dido and wish to recognize it – I see the injured spirit wave her head, and turn of silent from the author of her miseries and dishonours – I loose the feelings for myself in hers – –

Surely this is not walking in a vain shadow – nor does man disquiet himself invain by it – he oftener does so in trusting the issue of his commotions to reasons only. – I can safely say for myself, I was never able to conquer any one single bad sensation in my heart so decisively, as by beating up as fast as I could, for some kindly and gentle sensation to fight it upon its own ground. Sent. Tourn. Vol. sec.

Quelle:
Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman, Leipzig und Liegnitz 1774. , S. 418-426.
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