14.

[426] Ehe ich weiter gehe, glaub' ich eine schon gemachte Bemerkung wiederhohlen zu müssen, daß nämlich nicht der Leser gerade all' diejenigen Leidenschaften empfindet, die die Personen eines Werks empfinden. Denen Personen, die wir zu unsern Lieblingen in den Werken der Nachahmung machen, Personen, deren Empfindungen und Vorstellungen mit den unsrigen übereinstimmen, denen empfinden wir nach. Aber es ist ein großes Vorurtheil, dies allgemein anzunehmen. Und bedarf es Beyspiele hierüber? Wer fühlt nach, was Tquassouw für die Knonmquaiha empfindet25? Würden wir noch einen Socrates bewundern, wenn er selbst oft und viel bewundert hätte? –[427]

Auch nicht die Thaten und Unternehmungen der Personen allein, setzen uns, nach Maaßgabe ihres Innhalts, in Bewegung, wenn wir die Person davon trennen, die sie ausgeführt hat, und ihr eine andre unterschieben; oder wenn wir die geringste Mißhelligkeit zwischen Person und That entdecken. Wer sich hiervon überzeugen will, braucht nur die erste beste Parodie eines französischen Trauerspiels in die Hand zu nehmen. Und einer der Fehler, – und vielleicht der größte – die sich in den bloß historischen Romanen finden, ist der, daß man auch hier Person und That sehr gut trennen kann. Es läßt sich, z.B. denken, daß selbst Sir Hargrave Henrietten so gut aus den Händen ihres Entführers retten konnte, als Grandison. Was würde nun von der Theilnehmung an der ganzen Begebenheit übrig bleiben? So wie diese Trennung der Begebenheiten von ihren Personen in den bessern Romanen nicht statt findet, weil das innre Seyn dieser Personen, die Eigenschaften derselben die wahre wirkende Ursache dieser Begebenheiten gewesen sind: so sind es nun diese Eigenschaften zuerst, die uns, je nachdem sie uns gut oder böse, erhaben oder niedrig dünken, mehr oder weniger, auf die eine, oder auf die andre Art, in Bewegung setzen, und unsre Empfindungen erregen. Es versteht sich, daß diese Eigenschaften sich nicht ohne Thaten denken lassen,[428] es sey, daß sie sich handelnd oder empfindend äußern. Und je großer nur die Uebereinstimmung zwischen diesen Aeußerungen und ihrer wirkenden Ursache ist, je lebhafter wird die Theilnehmung seyn, die wir für die Personen haben werden.

Hiezu kommt natürlich das äußere Geschick dieser Personen. Ihr Glück oder Unglück, die besondre Art desselben, der Contrast, der sich zwischen diesem und ihrer Art zu denken finden kann, mit einem Wort, ihre ganze Lage, hilft den Ton stimmen, den der Dichter in uns angeben kann.

Und so können denn Bewunderung, Liebe, Haß, Abscheu, alle Arten des Mitleids, Zufriedenheit, Lachen u.a.m. mit allen Unterabänderungen, deren sie fähig sind, und mit allen Vermischungen und Zusammensetzungen, die daraus entstehen konnen, in uns erzeugt werden.

Nun fragt es sich:

1) Ist es billig, daß all unsre Leidenschaften und Empfindungen, erregt, gebildet, geübt werden?

2) Wie müssen die Gegenstände beschaffen seyn, für welche es gut ist, daß wir in Bewegung gesetzt werden?

3) Durch welche Mittel wird der Romanendichter am sichersten unsre Empfindungen, unsre Theilnehmung erregen konnen? –[429]

Unter denen Leidenschaften, die der Romanendichter durch die behandelten Gegenstände, in uns erzeugen kann, sind vielleicht einige, die der Erregung und Uebung eben nicht bedürfen.

Gewisse korperliche Bedurfnisse können, zur Entstehung gewisser Leidenschaften so starke, und zu unsrer Vervollkommung so wenig zweckmäßige Veranlassungen geben, daß wir sicher nicht des Dichters bedürfen, um diese Empfindungen erregt und geübt zu haben. Die Natur selbst würde uns schon von selbst auf sie führen. Ich bedaure das Genie, das sich zu den Gedichten im Geschmack des Grecourt herabgelassen hat. Und der großte Schade ist, daß diese Gedichte wirklich, in ihrer Art, vortrefflich sind. –

Einige andre Leidenschaften sind vielleicht der besondern Beobachtung des Dichters werth, der mit Recht Lehrer des menschlichen Geschlechts heißen will. Wenn es gewiß ist, daß alle selbstische Leidenschaften stärker sind, als die geselligen; und die ungeselligen noch stärker als jene: so dünkt mich, daß, – angenommen die Erregung aller stehe dem Dichter zu Gebot – er vorzüglich auf die Anbauung und Ausbildung derjenigen denken soll, die schwerer in uns erweckt werden können, weil sie schwächer in uns sind. Und wenn dies die geselligen sind, so sind dies auch zugleich diejenigen, die zur[430] Vervollkommung unsers Daseyns das mehrste beytragen. Das menschliche Geschlecht würde sich gegenseitig die größte Glückseligkeit versprechen können, wenn die Theilnehmung für andre so lebhaft in den einzeln Gliedern der Gesellschaft sich fande, als dies vielleicht möglich ist.


Der Mensch hat den geselligen Leidenschaften das mehreste zu danken. Das, was er seyn kann, wird er vorzüglich durch sie. Nicht weil sie ihm seinen Pallast bauen, seine Seide würken, und Tunkins Nest herbey hohlen helfen, (denn dies verschaffen ihm nicht sowohl die geselligen Leidenschaften, als das gesellige Leben überhaupt) – sondern weil er nie, wenn sie nicht wären, seine Fähigkeiten entwickeln, seinen Kopf aufklären, sein Herz bessern, und Tugend erwerben könnte, die er nie zu erwerben vermag, wenn nicht Gegenstände da sind, an welchen er sie ausüben kann, und wenn er nicht eben so gut äußere, als innere Hindernisse zu überwinden hat. Eben so würde er, ohne sie, nicht mehr glücklich seyn, nicht mehr in den Zustand der Behäglichkeit versetzt werden können, in welchem er die Seligkeit, zu der er bestimmt ist, schon zum Voraus in dem Grade kostet, dessen er, als Mensch, fähig ist. Was würde eine Welt ohne Menschenliebe, und Liebe überhaupt[431] (nach allen ihren verschiedenen Bedeutungen) ohne Mitleid u.s.w. seyn?

Wenn es das Werk der weisen Vorsehung ist, daß sie uns, zur Vervollkommung unsrer selbst und ihres Ganzen, diese Leidenschaften gegeben) und zur Entwickelung und Ausbildung derselben, in die Schöpfung Veranlassungen gelegt hat: sollte nicht der Dichter, er, der eigentliche Nachahmer des Schopfers durch die Schöpfung seiner kleinen Welt, die Absichten des höhern Schöpfers befördern, und ihre Erreichung erleichtern helfen? Kann er eine edlere Beschäftigung haben, als diese? Ist es verantwortlich, wenn er sich zu ganz widersprechenden Arbeiten herabläßt? oder ohne Entwurf, ohne Endzweck dichtet, um zu dichten? Der Romanendichter hat, vermöge der Gattung, in welcher er arbeitet, vorzüglich Mittel in Händen, den höhern Endzweck zu erreichen; er kann, auf die anziehendste Art, den Menschen, durchs Vergnügen, zu seiner Vervollkommung ausbilden helfen.

Ich glaube bereits angemerkt zu haben, daß wir die anziehende Unterhaltung, die uns der größte Theil der Charaktere in Minna von Barnhelm gewähret, vorzüglich solchen Grundzügen in denselben schuldig sind, die jene Leidenschaften in uns erregen und ausbilden helfen. Das gute, das Menschenliebende Herz leuchtet aus allen hervor, für[432] die uns der Dichter hat interessiren wollen; aus dem Tellheim so gut, wie aus Wernern und aus Justen; aus der Minna so gut als aus der Franziska. Die Eigenschaften des Geistes in diesen Personen sind es nicht, die uns so unauflößlich an sie heften. – Diese wiederholte Bemerkung mag also bezeugen, einmal, daß wir selbst auf die anziehendste Art durch die Gegenstände unterhalten werden, die die geselligen Leidenschaften in uns erzeugen; und zweytens, daß keine Einförmigkeit zu befürchten ist, wenn der Dichter die Grundlage derjenigen Charactere, für welche er vorzüglich unsre Theilnehmung erregen will, von solchen Eigenschaften macht, die uns den Menschen, den guten Menschen zeigen26. Und hieraus ergiebt sich denn auch zugleich, daß die Erregung der selbstischen Leidenschaften, wenn sie nicht mit dem Mitleid[433] verbunden sind, und der ungeselligen lange nicht dem Leser das Vergnügen gewahret, das die Erregung jener verschaffen kann. –

Es ist noch ein andrer Gesichtspunkt da, aus welchem die Erregung unsrer Leidenschaften angesehen werden kann. Der Dichter wird sich mehr Theilnehmung versprechen, wenn er diejenigen, die ihrer Natur nach die anziehendsten sind, im Leser erregt. Es ist bekannt, daß dies die vermischten, aus Lust und Unlust zusammen gesetzten sind. Alle Arten des Mitleids gehören also hieher; aber diese befinden sich auch unter den vorgenannten geselligen Leidenschaften; und dies ist folglich ein Bewegungsgrund mehr, sie in dem Leser zu erzeugen. Und für mich ist es ein Bewegungsgrund mehr gewesen, mich so lange, vorher, bey dem Charakter des Lear aufzuhalten. –

25

He was struck with the glossy hue of her complexion, which shone like the jetty down on the black hogs of Hessaqua; he was ravishéd with the prest gristle of her nose; and his eys dwelt with admiration on the flaccid beauties of her breast, which descended to her navel. The Connoisseur Vol. I. N. 21.

26

Diese Theilnehmung ist so gewiß, daß, ob wir gleich im wirklichen Leben sehr oft für ein bloßes schönes Gesicht in Bewegung gesetzt werden, der Dichter vergebens uns Schönheit allein zeigen wird, wenn wir die Person lieben sollen. Auch der Eigenschaften des Geistes wegen lieben wir sie nicht. – Bewundern können wir diese; aber Bewunderung allein ist ein herzlich kaltes Gefühl; ein Gefühl, das manche Leute des Nil admirari wegen, lieber gar nicht wollen statt finden lassen. – Die Eigenschaften des Herzens sind es auch, die uns, wenn wir mit Danaen erst bekannt sind, so fest an sie heften.

Quelle:
Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman, Leipzig und Liegnitz 1774. , S. 426-434.
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