7.

[336] Wenn, nach all' den vorhergehenden Bemerkungen, in einem Roman, von einem gewissen Umfange, die Begebenheiten dem Charakter[336] untergeordnet seyn müssen, so daß sie nämlich nur der Wirkungen wegen, die sie auf ihn machen, der Form wegen, die sie ihm geben, gewählt werden dürfen; wenn der Dichter sie nur als Mittel gebrauchen kann, so bald nämlich der Dichter, der Natur der Sachen gemäß, verfahren, und seinen Endzweck erreichen will: so folgert hieraus sehr natürlich, daß unter den beyden zuerst gedachten Anordnungen, deren die Materialien des Romanendichters fähig sind, diejenige, in der die Begebenheiten des Hauptwerks und nur die Charaktere der Vollendung derselben wegen, gewählt sind, nicht die natürlichere, nicht die eigenthümliche und bessere, sondern daß sie geradeswegs dem Endzweck des Dichters, und der Natur der Sachen zuwider sey. – Es läßt sich nämlich in ihr nicht Rechenschaft geben, (wie schon bemerkt ist) warum der Dichter ehe diese, als jene Personen zu Ausführung seines Plans und seiner Begebenheiten gebraucht habe? Jedes liebenswürdige, tugendhafte Mägdchen kann so gut, als Clarisse, mit Clarissens Schicksalen verbunden werden. Und ist dies: so ist das wahre Vergnügen, der wahre Nutzen, – das Eigenthümliche eines Gedichts verloren. –

Wenn also die Begebenheiten einer Person nur dadurch unter einander verbunden werden können, daß wir am Ende, an der Gestalt, an der ganzen[337] Denkungsart und dem ganzen Seyn der Person erkennen, daß sie durch diese oder jene Schicksale, durch diese oder jene Begebenheiten, so zu sagen, gegangen ist: so ist natürlich die äußere Veränderung, die Veränderung in den bloßen Schicksalen der Person, die Verschiedenheit ihrer letztern von ihrer erstern Lage, nicht das, womit sich ein Werk schließen kann, so bald nämlich der Dichter den Ruhm haben will, zweckmäßig gedichtet zu haben.

Die mehrsten Romane endigen sich aber auf diese Art. Die letztere Situation ist unglücklich, wenn der Anfang glücklich, oder sie ist glücklich, wenn der Anfang unglücklich gewesen ist. Das Mägdchen fängt den Roman an, und mit der Frau endigt er sich gewöhnlich; oder das Mägdchen glaubt sich im Anfange eine Braut, ist allgemein beliebt; und am Ende verlassen, verachtet, gar nichts, ohne daß sie was anders ist, als sie war. Die, durch die ihnen zugestoßenen Begegnisse, veränderte, umgeschmolzene, verbesserte, geformte Denkungsart sehen wir fast nirgends.

Und wenn wir sie finden: so erscheint sie als ein Deus ex machina vor uns. Wir wissen nicht, wir sehen nicht, wie die Sache zugegangen ist? das, was in dem Werke uns gezeigt worden ist, hat die Sache entweder gar nicht bewirken, oder doch so, wie sie erfolgt, nicht bewirken[338] konnen. Und wenns auch möglich gewesen wäre: so hat uns doch der Dichter nicht gezeigt, wie es eigentlich dabey zugegangen ist? Der Dichter hat, mit einem Wort, seine Begebenheiten nicht, ihrer Natur und der Wahrheit gemäß, zu nutzen gewußt. –

Darf ich Beyspiele anführen? – Wem fallen sie nicht selbst Dutzendweise ein? – Man erlaube mir an dessen statt, die Eigenthümlichkeiten dieser Behandlung zu entwickeln, damit man sie desto ehe vermeiden könne.

Wenn mein Begriff, meine Voraussetzung vom Ganzen richtig ist: so versteht es sich von selbst, daß der Romanendichter seine eigne Absichten, die er mit seinem Werk gehabt hat, so genau mit den, in seinem Werk gebrauchten Mitteln verbunden haben müsse, daß sie aus diesen erfolgen, ohne, daß wir seine Hand weiter im Spiele sehen. Er muß vorher die Materialien, das heißt, seine handelnden Personen und ihre verschiedenen Eigenschaften, aussuchen, zurechtputzen, nach Maaßgabe ihrer entworfenen Einrichtung zusammen setzen, – das Werk aufziehen, – und nun es seinen Weg gehen lassen. Der Dichter selbst gehört gar nicht mit ins Ganze seines Werks; er wäre was außerordentliches, das gleichsam in den Gang desselben hineingriffe. Der Künstler, der all' Augenblicke über[339] seiner Uhr stellen muß, hat wahrlich keine gute Uhr gemacht. Es hat mich daher nicht wenig gewundert, wenn ich Dichter sagen hörte: ich hatte dieser Situation nöthig, ich brauchte diese Wendung u.s.w. Was Diderot vom dramatischen Dichter sagt, gilt gewiß auch vom Romanendichter. Er führt so gut, wie jener, lebende, handelnde Personen auf. Wenn er sein Werk nicht so zu ordnen gewußt hat, daß diese Situation, diese Wendung aus den, seinen Personen gegebenen Eigenschaften erfolgt, und so erfolgt, daß sie uns eine natürliche Wirkung derselben zu seyn scheint; – sondern, wenn er diese Situation bloß nach seiner Willkühr, von seinem Witz, oder seiner Phantasie anlegen läßt, ohne, daß er aufs Ganze seines Werks, und seiner Personen zurück sieht: – so hat er wahrlich nur ein mittelmäßig Werk gemacht.

Ich will mich bemühen, an einigen Beyspielen zu zeigen, wie der Dichter seine Notwendigkeit mit der Nothwendigkeit der handelnden Personen zu verbinden suchen müsse.

Erstlich von der Nothwendigkeit und der Wahrscheinlichkeit der handelnden Personen selbst ein Wort. Ich glaube, daß eine That nothwendig heiße, wenn zufolge des eigenthümlichen Charakters, und der ganzen jetzigen Lage der Person, nichts anders erfolgen könne, als was wirklich erfolgt.[340] Es konnte nach dem, dem Agathon gegebnen Charakter, aus der Situation, in welcher er das erstemal ins Haus der Danae kam, nichts anders erfolgen, – als daß er Danaen anfieng, zu lieben. Seine Liebe war gleichsam das Resultat von dem, was er selbst war, und von dem, was er von Danaen hörte und sahe. Bey einer solchen Nothwendigkeit wird uns nichts im Werke eines Dichters einen Augenblick aufhalten, oder anstößig werden können. Es ist nichts da, das bedenklich wäre; das Gewicht ist gerade so schwer, als die Last, die es in die Höhe ziehen soll. Und nur um desto besser lernen wir das bey der Sache, was wir, nach den vorher festgesetzten Begriffen dabey lernen sollen. – Bey der Wahrscheinlichkeit12 verhält sich die Sache ganz anders. Es ist wahrscheinlich, daß Lord Bomston in Rousseaus Julie sich so eifrig des St. Preux annimmt; aber es ist[341] nichts weniger, als nothwendig. Der Engländer konnte es thun, oder auch nicht; in seinem Charakter, in seiner Situation liegt nichts, das ihn verband, so zu handeln. Es ist ferner, aber kaum nur wahrscheinlich, daß Clarissa sich in einem unerlaubten Briefwechsel mit dem Loveless einläßt, und ihn auch fortsetzt. In ihrem Charakter, in ihrer eigenthümlichen Denkungsart ist nichts, das sie dazu vermöchte, ist nichts, das uns befremden würde, wenn die Sache anders erfolgte. – Wenn der Dichter nicht den höhern Grad von Nothwendigkeit zur Grundlage der Handlungen seiner Personen machen kann: so soll er es dem Leser wenigstens nie an diesem geringern Grade der Wahrscheinlichkeit fehlen lassen. Es ist aber sehr gewiß, daß der Leser bey dieser bloßen Wahrscheinlichkeit lange das nicht an Charakter und Begebenheit lernen kann, was er bey der Nothwendigkeit lernt. Bey wichtigen und entscheidenden Vorfällen verlangen wir schlechterdings mehr zur Rechtfertigung dessen, was geschieht, als Wahrscheinlichkeit. Nur bey geringern Begebenheiten, das ist, bey solchen, die nicht entscheidende Wirkungen und Eindrücke hervorbringen, begnügen wir uns mit Wahrscheinlichkeit. – Und diese Nothwendigkeit, oder im andern Fall diese Wahrscheinlichkeit seiner Personen muß nun der Dichter sowohl in Herbeyholung der Situationen[342] seiner Personen, als in ihrem Betragen darinn, vor allem andern beobachten, und unter ihr seine Nothwendigkeit verbergen.

Ich verstehe unter der Nothwendigkeit des Dichters eine Begebenheit, die er nothig hat, damit er den Endzweck erreiche, den er mit seinem Werke sich vorgesetzt hat. Wenn Agathon das werden sollte, was er am Ende des Werks ist: so mußte ihn der Dichter in Situationen bringen, in welchen er die Menschen von der Seite kennen lernen konnte, von welcher sie sich gegen Oberherrn, Befehlshaber, Könige; und von der andern Seite, wie sie sich gegen Sclaven, gegen Anbeter, – mit einem Worte, wie die Menschen sich am Hofe zeigen? Dies war der Zweck, die Absicht des Dichters; wie wußte er solche in den Zweck seines Helden zu verwandeln? Erstlich wars die Denkungsart und der Charakter des Agathon, der ihn aus dem Hause der Danae ziehen mußte, so bald er alles erfuhr, was sie war; – eben diese Erfahrung mußte seine vorigen Neigungen, seinen ersten Geiz nach rechtschaffenen und guten Thaten in dem Grade wieder erwecken, worinn er, nach seinen Begebenheiten mit der Danae, exweckt werden konnte. Der Dichter hatte dies schon vorbereitet; die geheimen Nachrichten von der Danae bliesen nur den glimmenden Tocht in volle Flamme; –[343] vermöge seiner vorigen Begebenheiten, und der, durch sie geformten Art zu denken, konnte er nicht – nach Athen zurück kehren; – in Jonien konnte er, mit seinem jetzigen Abscheu vor Danaen, und mit seinem Unwillen über sich selbst, nicht bleiben; – Agathon war ein Grieche, in dem ächten Sinn, den dies Wort bey wahren Griechen hatte, das heißt, außer seinen Landsleuten mußten ihm alle andre Völker Barbaren dünken; – in Sicilien herrschte Dionys, und Agathons Freunde waren an diesem Hofe (der Dichter hatte vorher die Geschichte in diesen Zeitpunkt verlegt) – ein Schiffer war da; – Agathon konnte, nach seinem ganzen Charakter und seiner ganzen Situation, nicht lange unschlüßig seyn; – er ist in Sicilien. – Ist es möglich, nur zu vermuthen, daß der Dichter in diese Sachen sich gemischt habe? Es geht so zu, wie es, nach allen Gesetzen der Natur zugehen mußte. Das ganze innre und äußre System des Agathon ist verbunden, um diese Wirkung hervorzubringen. Agathon mußte so denken, wie er dachte, und in solchen Umständen seyn, wie er war, damit diese Reise erfolgen konnte. Ich möchte den Dichter sehen, der mit dem Agathon, wie er mit Ausgang des zweyten Kapitels im achten Buche vor uns aufspringt, und den Sophisten verläßt, mit all' seinen Eigenschaften, seinem Charakter,[344] seinen gehabten Begebenheiten, seinen Neigungen und Eigenthümlichkeiten, – was anders anfangen könnte, als der Dichter mit ihm anfängt? –

Nun dürfte wohl in einem Roman, der die bloße äußere Geschichte eines Menschen enthält, diese Nothwendigkeit der Personen nicht so genau mit der Nothwendigkeit des Dichters verbunden werden können, daß nicht der Dichter durch seine Personen durchgucken sollte. Da für eine Person das nur nothwendig ist, was so wohl vermöge ihrer Situation, als vermöge ihrer Denkungsart, ihres innern Seyns erfolgen muß, so daß diese Situation so wohl, als die Denkungsart der Person die Ursache sind, von welcher diese Nothwendigkeit jetzt die Wirkung ist: so ist die ganze gegenwärtige Summe der Denkungsart einer Person zu allererst in Erwegung zu ziehen, wenn man sie aus einer Lage in die andre bringen will. Denn, wenn sie nicht Maschiene seyn soll; so muß dies Wollen von ihr selbst kommen; und es muß, wie gesagt, so leicht kein anderes, als eben dies Wollen erfolgen können. Und der Dichter also, dem es mehr um die äußern Schicksale seiner Personen zu thun ist, darf nicht zu dieser innern Nothwendigkeit der Personen seine Zuflucht nehmen, weil sonst nach dieser die Sache oft ganz anders gehen müßte, als sie geht. Ich will mich an einem[345] Beyspiele begreiflicher machen. Ich nehme es aus einer bekannten Schrift, über deren Werth ich mich schon zu sehr erklärt habe, als daß man bey der Wahl dieses Beyspiels eine andre Absicht denken könnte, als die, meine Meynung begreiflicher, und für kunftige Romanendichter überzeugender zu machen. Der Verfasser von Sophiens Reise hatte die Begebenheit (Th. 1. S. 61. u.f.) eben so nothwendig, als, nach Maaßgabe der verschiedenen Absicht und der verschiedenen Gattung, Wieland die Reise Agathons nach Sicilien. Die Motiven zu dieser Reise aber hohlte Wieland aus dem Innern des Agathon; und jene Begebenheit wird allein durch die äußern Umstände der Personen eingeleitet. Ich will alle Umstände getreulich anführen, wodurch diese Begebenheit wirklich wird. Sophie muß durstig seyn, wenn sie sich schlafen legt; – sie muß sich einschließen; – sie muß nicht ohne Nachtlicht schlafen, das Kühle der Nacht nicht leiden, und das Schloß der Thüre muß von inwendig nicht geöfnet werden können; – ein Fenster muß offen stehen: dies, mit den Umständen, die aus der Lage des Orts, und der Abwesenheit des H. Less ... erfolgen, ist es, wodurch ein Begebenheit von solcher Wichtigkeit wirklich wird. Es ist, wie wir sehen, alles von außen her geholt; wir sehen nichts von Sophiens Innern, in[346] der ganzen Anlage der Situation. Das Einschließen könnte uns einen Theil ihres Charakters öfnen, wenn das Einschließen übertrieben, und ein Zug ihrer Prüderie wäre; wenn sie vorzuglich durch dies Einschließen in die folgende so sehr unangenehme Lage geriethe. Dann wäre die Sache vortreflich von dieser Seite behandelt; aber jetzt ... man sage mir, was ist in all den angeführten Umständen, die freylich dem Dichter alle nothwendig sind, wenn die Sache so erfolgen soll, wie sie erfolgt; – das aus Sophiens Denkungsart und innern Lage eben so nothwendig erfolgte? Von dem Einschließen Hab' ich schon geredt. Und was war in der vorhergehenden Lage der Personen und in dem Ganzen des Dichters, vermoge dessen Sophie gerade in diese, und in keine andre Situation kommen konnte, vermöge dessen die Sache so erfolgen mußte, wie sie erfolgt? Wo sind die Ursachen in dem Ganzen des Dichters, welche diese Umstände so hervorbringen, daß sie nun gar nicht anders erfolgen könnten, als sie wirklich werden? – so daß wir uns wundern müßten, wenn sie anders erfolgten? – Aus allen dem, was in dem Ganzen des Dichters vorgeht, ist gar nichts da, vermöge dessen die Umstände bey diesem Schlafengehn, und dies Schlafengehn selbst so erfolgten, das nun billig nichts anders erfolgen könnte.[347] Sophie konnte sich allein schlafen legen; aber auch nicht; und wahrscheinlicher nicht allein, als ohne Gesellschafterinn. Ich weis, daß sie nie das werden konnte, was sie wird, wenn die angeführten Umstände nicht alle wirklich wären; aber die Situation wird nichtsweniger, als durch sie so herbeygeführt, daß sie eine Wirkung von ihnen ist; sie sind Veranlassungen dazu, nicht Ursache. Welche ist die wirkende Ursache, die Sophien im Zurückgehen vom Fenster gerade auf H. Less ... s Bett führte? Und diese Sache ist so wichtig, daß wir von dem Dichter mehr als Wahrscheinlichkeit, daß wir mit Recht die innigste Verbindung von Wirkung und Ursache fodern können. – – Wer sieht ferner nicht, daß mit diesen ganzen Umständen und Vorfällen die Sache noch ganz anders erfolgen konnte, als sie erfolgt? Was ist nämlich in all' diesen Umständen, das gerade den H. Less ... nach Hause bringen muß? Was ist darinn, daß den H. Less.. bewegt, sich mit Sophien einzuschließen? Er hätte es, eben dieser Umstände wegen, nicht gesollt. – Und was ist in dem H. Less ... selbst, das ihn gerade in diese Situation führe? Wenn in seiner Denkungsart der Grund dazu liegen kann: so hat ihn uns der Dichter wenigstens nicht sehen lassen. – Agathon mußte das seyn, was er ist, wenn die Sache so erfolgen[348] sollte, wie sie erfolgt, er mußte so denken, und so empfinden, wie er empfindet, und denket, – aber der Anlage in Sophiens Reise zufolge, konnte H. Less ... immer noch was anders seyn, als er ist, und die Begebenheit konnte doch auf dieselbe Art wirklich werden, wie sie es jetzt wird. Im Agathon konnte, ohn' alles das, was vorhergegangen war, die Reise nach Sicilien ihre Wirklichkeit nicht erhalten; in Sophiens Raise dürfen wir nichts, als die Dinge wissen, die die Unmöglichkeit der Situation verhindern; das vorhergehende ist zum Erfolg der Sache gar nicht so nöthig, wie es ist. Es konnte auf zehnfache Art anders seyn, und doch war die Situation möglich. Wenn H. Less ... und Sophie das erstemal in ihrem Leben sich sahen: so konnte die Sache eben so erfolgen. – Und Sophie brauchte nicht Sophie zu seyn; sie konnte eine ganz andern Charakter haben, als sie hat; und die Sache war auch gemacht.

Ich schränke mich auf die Situation selbst ein, und indem ich sie bloß als Wirkung betrachte. Wenn ich sie als Ursache folgender Begebenheiten ansehen sollte; so würd' ich zu dem gesagten noch vieles hinzu setzen müssen. Damit ich aber meine Meynung recht begreiflich mache; so erlaube man mir, sie an einem andern Beyspiel zu zeigen. Ich[349] glaub', im ganzen Ernst, diese Bitte um Erlaubniß thun zu müssen. –

Wenn man die Entstehung von Agathons Liebe gegen die Entstehung der Liebe des Grandisons zu Henrietten hält; so findet man in jener alle die Eigenthümlichkeiten, alle die Besondernheiten, alle die kleinen Umstände in Danaens ganzer Situation, und in ihrem ganzen Betragen, – in ihrem Anzuge, – in der Einrichtung ihres Hauses, – in ihrer Ausführung von Daphnens Rolle nach Agathons Ideen u.s.w. von der einen Seite; – und von der andern in dem ganzen Charakter des Agathon, in seiner Art zu denken und zu empfinden, alle die Gründe anschauend, wie diese Liebe entstand, und warum die ehrlichen Leute sich lieben, und sich lieben mußten? Wie sehr diese Behandlung der Natur angemessen, wie lehrreich sie sey, ist von solchen Behandlungen überhaupt schon gesagt worden. – Wie wenig von all diesen kleinen Umständen, die den eigentlichen Anlaß zu Grandisons Liebe gaben – oder vielmehr wie gar nichts findet sich in der Richardschen Erzehlung von der Entstehung dieser Liebe. Nicht einmal der Umstand, daß er Henriettens Befreyer gewesen war, wird uns gezeigt, als ob er Einfluß auf das Entstehen der Leidenschaft des Grandison gehabt habe: ein Umstand, den Sterne,[350] wenn ich mich recht besinne so ausgedrückt hat: You take a whitering twig, and put it in the ground; and then you water it, because you have planted it. Grandison liebt Henrietten, – weil er sie liebt; und weil sie überhaupt ein liebenswürdig Mägdchen ist. Die Sache ist gut, und die Erzehlung kann amüsiren, das heißt, die Zeit verderben helfen; aber das, was der Leser aus dem Dichter lernen will, weßwegen er gerade den Dichter in die Hand nimmt, das lehrt sie nicht, das Vergnügen gewährt sie nicht. –13[351]

Ich habe schon bemerkt, daß in dieser Behandlung, die Personen das Ansehn von Sklaven, von Maschienen haben, die nach der Willkühr des Dichters sich bewegen. Wir können nichts an ihnen lernen; wir sehen nichts an ihnen von dem, was wir im Romanendichter sehen wollen. Solche üble Folgen hat es, wenn der Dichter nur um sein selbst willen, seiner Nothwendigkeit wegen allein, die Situationen anleget. Die schon vorher angeführten Beyspiele von der unrechten Behandlung der Begebenheiten, die, im Grunde, den hier zuletzt angeführten vollkommen ähnlich sind, haben die Unschicklichkeit dieser Behandlung schon aus mehrern Gesichtspunkten gezeigt. Was von ihnen gegolten hat, gilt auch von der letztern. Und so wie die Nothwendigkeit des Dichters allein in diesen sich zeigt: so zeigt sie sich auch in jenen. –[352] Nun denke man sich ein ganzes Werk, aus vielerley Begebenheiten, und auf diese Art zusammen gesetzt: was soll der Leser daraus nützen? Eine Begebenheit steht in dem Zwischenraum der vorhergehenden und der folgenden, ohne, mit Wahrheit, die Wirkung jener, und die Ursache dieser zu seyn. Der Witz des Verfassers läßt uns von einem Vorfall zum andern hinüber hüpfen. Da sind Hindernisse, die am Ende keine Hindernisse sind; da bringen ganz fremde Begebenheiten oder Personen, unerhörte äußere Veränderungen zum Vorschein; da ersterben Vorfälle und Begebenheiten, von welchen wir, am Ende, nicht die geringste Spur mehr finden; – da haben wir eine solche Menge verschiedener, von einander abstechender Vorfälle, bey welchen der Leser, bald weinen, bald lachen soll, (wenigstens nach dem Vorsatz der Autoren) und diese sind so zusammen gedrängt, daß man sie nicht zu übersehen vermag; – da häufet der Dichter ein Abentheuer über das andre, um nur den Leser warm zu erhalten; und er muß es, weil dies allein die Neugierde des Lesers beschäftigen; und sonst nichts als diese beschäftigt werden kann; da ...


desinit in piscem mulier formosa superne. –


Ich glaube nicht auf eine unrechte Art das, was man gewöhnlich Roman nennt, hierdurch charakterisirt zu haben. So sind sie in der Wahrheit,[353] und so müssen sie seyn, wenn der Dichter nichts, als seine vermeynte Nohwendigkeit allein hort, das heißt, wenn er einen Vorfall in sein Werk hineinflechten will, ohne Rücksicht auf das Innre seiner Personen, ohne Rücksicht auf den Eindruck, den dieser Vorfall, für die folgenden Situationen, auf die Personen, und ihre Art darinn zu denken und zu handeln, seiner Natur nach machen sollte. – Wer siecht nicht, daß der Witz die böse Krankheit ist, aus welcher diese Gebrechen zum Theil entstehen? – Ich rede von Romanendichtern, die noch witzig sind. Es giebt deren freylich auch genug, die nicht einmal Foderung an Witz machen können. –

Doch möchte die Anordnung eines Werks seyn, wie sie wollte, wenn sie nur irgend etwas zweckmäßiges, irgend etwas wahrhaft nützliches, zur Unterhaltung, zur Verbesserung, zur Vervollkommung des menschlichen Geschlechts beytrüge. Aber die letztere, die ich, zum Unterschiede von der erstern, die historische nennen will, (nach den gewöhnlichen, vielleicht sehr falschen Begriffen, die wir uns von der Geschichte machen) hat, bey den guten Eigenschaften, die sie haben kann, nun gar nichts, das nicht jene bessere, zuerst gedachte Anordnung nicht auch und besser hätte. Und die Vortheile, die diese eigenthümlich hat, und die gerade die wesentlichsten[354] Eigenschaften eines solchen Werks sind, kann jene gar nicht haben. –

12

Corneilleß Verdrehungen (Sec. Disc. p. 532 s. Ed. d'Amsterd.) mit des Aristoteles Lehre von der Nothwendigkeit und Wahrscheinlichkeit, verdienten, daß sie gerügt, und von einem dramatischen Kunstrichter besonders so gerügt würden, wie von Lessing, in seiner Dramaturgie, die übrigen Verdrehungen des Corneille. Für angehende dramatische Dichter wurde dies von dem größten Nutzen seyn. – Daß meine Begriffe von Nothwendigkeit und Wahrscheinlichkeit mit den Begriffen des Philosophen zusammen stimmen, davon glaub' ich überzeugt zu seyn; und das hat mich in meiner Meynung darüber bestätigt. –

13

Ich fürchte die Verwunderung vieler meiner Leser über meine Kühnheit, den Richardson zu tadeln. Man schränke aber meinen Tadel auf das ein, was er wirklich ist, auf den Mangel dichterischer Kunst in seinem Werk; und der Verfasser wird ihnen doch noch, wegen vieler guter Eigenschaften sehr werth bleiben können. Auch will ich ihm diese Achtung nicht nehmen. Er ist, als Romanendichter, gerade so gut, wie er für den größten Theil der Leser seyn muß: und immer noch einer von den besten, so wie es deren giebt. – In England hat er, unter den wichtigsten Theil seines Volks nie den Beyfall gehabt, den man ihm in Deutschland gegeben. Sie haben ihm den Fielding von je her vorgezogen; und nicht deßwegen allein weil er mehr national, mehr Humorist, lustiger ist als Richardson. Dies hab' ich von mehr als einem Engländer gehört, der mit Recht Foderung an Genie und Witz machen konnte, – ich hab' es in Deutschland nämlich von ihnen gehört. Wenn die äußere Einrichtung seines Werks, das Briefschreiben der Personen selbst, vielleicht als eine Entschuldigung angegeben wird, warum Richardson nicht so sehr, als Fielding das Innre seiner Personen aufdecken können, oder wenn man gar die Schuld auf die Beobachtung des wahrscheinlichen Anstandes und der seinern Lebensart unter Personen des sogenannten Nigh life schieben wollte: so würde der Ausweg für den Dichter der wahrer seyn will, sehr leicht zu finden seyn. Aber, – zugegeben, (wie es auch schon bemerkt ist) daß die erstere Entschuldigung gelten, und dann dent Uebel leicht abgeholfen werden könne: so ist die letztere nicht der Widerlegung werth, wenn der Dichter selber redet. Was kann ihn abhalten, diese Personen von alten Thorheiten des Wohlstandes zu entblößen? – Nichts! –

Quelle:
Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman, Leipzig und Liegnitz 1774. , S. 336-355.
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