8.

[355] Es scheint auf den ersten Augenblick schon eine Beleidigung, – wenigstens eine strafbare Geringschätzung und Gleichgültigkeit für das, was wir selbst sind, wenn wir aus den Begebenheiten, aus dem Aeußern des Menschen das Hauptwerk in Fällen machen, wo es uns frey steht, aus dem Innern desselben, aus dem, was eigentlich Mensch ist, und heißt, unsern Endzweck zu bilden. Der Mensch selbst war ehe, als Begebenheit oder Vorfall; er läßt sich ohne sie; ein Vorfall, eine Begebenheit, eine That nicht ohne Menschen denken. Und sehr philosophisch, sehr richtig über den wahren Werth des Menschen, über das, was er zuerst seyn sollte, heißt es auch nicht gedacht, wenn wir den Gesichtspunkt, aus dem die menschliche Natur eigentlich zu betrachten, und aus dem allein des Menschen Verdienst und Unverdienst, Glück oder Elend zu entscheiden ist, über seinem Aeußern vergessen. Und ist etwan dies Innre nicht das Wichtigste bey unserm ganzen Seyn? Kann der Leser aufgeklärter werden, kann er richtiger über das denken lehren, was ihm zu wissen[355] gerade am nöthigsten ist. – und deßwegen am nothwendigsten, weil man ihn so herzlich wenig davon lehrt – wenn seine Lehrer, seine so genannten Vormünder, ihm das, als das Wesentlichste zeigen, was es nun gerade zu gar nicht, oder nur in Beziehung auf sein Innres nur ist? – Wenn der Dichter nicht das Verdienst hat, daß er das Innre des Menschen aufklart, und ihn sich selber kennen lehrt: so hat er gerade – gar keins. Dies Gebiet ist ihm zum Anbau zugewiesen; oder er vielmehr hat es sich zugeeignet. Denn nur dies Verdienst kann er haben; dies ist es, was er vorzüglich thun kann. Und wenn er dies nicht hat: warum ist er denn, was er ist? – Den andern Unterricht, das andre Vergnügen kann der Leser nützlicher und besser erhalten, als durch ihn. Wenn er daher einen Werth ums menschliche Geschlecht haben, wenn er seinen Mitmenschen nützlich werden, wenn er geduldet, und nicht schlechterdings, als ein überflüßiger Hausrath angesehen werden soll: so muß er sich um dies Verdienst bewerben. Und dies Verdienst kann der Liedersänger so gut wie der Epische Dichter, (es versteht sich nach Maaßgabe ihrer Materialien) erhalten. – Doch ich hab' es nur mit dem Romanendichter zu thun. Er kann dies vorzüglich. Er hat vorzüglich Mittel, in Händen, uns Thüren zu öffnen, die nur der[356] Dichter überhaupt öffnen kann. Wenn er sie nicht zu öffnen versteht, oder sie nicht öffnen will: so muß er es uns nicht übel nehmen, wenn wir ihm sehr aufrichtig sagen, daß wir seiner entbehren können. – Aber, wenn er dies thut, wenn er uns sehen läßt, wie wir gut oder böse, wie wir wahrhaft glücklich oder unglücklich werden können: wenn er uns unsern innern Zustand, worauf alles dies beruht, als das wichtigste ansehen und ihn uns kennen lehrt, damit wir an andern lernen können, wie wir uns selbst, und wie wir andre, unsre Kinder, Schüler, Untergebene ausbilden sollen: – so hat er ein Verdienst ums menschliche Geschlecht, das nur mit dem, das unsre äußre Glückseligkeit festsetzt, oder mit dem, das mit ihm zugleich an der Berichtigung unsrer innern arbeitet, – und sonst mit keinem verglichen werden kann. – Ich weis es, daß unser Inneres und Aeußeres so mit einander verwebt sind, daß beyde gleich sehr zu unsrer Glückseligkeit beytragen; aber ich weis auch, daß dies Innre allein von unserm Glück oder Unglück, Verdienst oder Unverdienst entscheidet. Wer eine Theorie der Empfindungen schreiben, und das Maaß dazu von etwas anderm, als unserm innern Zustande nehmen wollte, würde eine sehr kahle Theorie schreiben; und wer unser Verdienst zu bestimmen dächte, ohne uns die Krone oder das[357] Schurzfell zu nehmen, würde nicht viel mehr thun, als Dichter, die beym Altar und der Bahre im Solde stehen. –

Nichts mehr, – oft noch weniger ist der Romanendichter, oder kann der Romanendichter nützen und vergnügen, als jener, wenn er sich auf die Vortheile einschränkt, die er durch die bloße äußre Geschichte seiner Personen erhalten kann. Der Beweis hiezu ist herzlich leicht. – Erstlich von dem Innhalt seiner Begebenheiten.

Wenn der Innhalt uns bloß vergnügen soll: so kann dies die erste, beste abentheuerliche Zeitungsneuigkeit, oder das Alteweibermährchen auch. Die Begebenheit wird uns freylich zur Unterhaltung; aber zur Unterhaltung unsrer Neugierde. Und ob diese nun eben einer Unterhaltung bedürfe; ob eben der Dichter sich herablassen solle, für diese zu schreiben, das will ich zwar nicht, nach den Absichten, warum vielleicht in Deutschland noch bis jetzt die Romane gelesen werden, entscheiden; aber dreust sag' ich, daß der Dichter zu viel Stolz haben müsse, für die Neugierde zu schreiben. Wer ihn nicht aus andrer Ursach liest, lese ihn gar nicht! Und wenn der Dichter sich selbst zu schätzen weis: so wird er nicht nach neugierigen Lesern fragen. Verachten wird er sie; – und am Ende zwingen, klüger zu werden; denn sie werden ihn[358] lesen und ihn verstehn lernen müssen, wenn er nicht ihrer Unwissenheit nachgiebt. O daß doch alle deutsche Dichter sich hiezu vereinigten, und nicht um ...

»Doch die bloße Befriedigung der Neugier ist es nicht allein, die der Leser durch den Innhalt der Begebenheiten erhält, und erhalten kann. Sie kann ihm zum Lesen führen; aber er kann für andre Bedürfnisse Nahrung im Dichter finden, Unterhaltung für seine Empfindungen?« – Ich gebe es gerne zu, daß der Innhalt der Begebenheiten eines Romans einigen Werth um den Leser haben könne, wenn er seine Empfindungen beschäftigt; es ist uns so nöthig, und so angenehm, zu weinen und zu lachen, daß wir dem, der uns dies verschafft, Dank schuldig sind. Aber es kommt sehr darauf an, wie wir weinen und lachen. Wer bloß diese beyde Fähigkeiten beschäftigt, ohne sie zweckmäßig zu beschäftigen, der hat nur für die Stellung des Bedürfnisses gesorgt. Und sehr ungesunde Nahrung kann auch den Hunger stillen. Doch die Nahrung braucht nicht eben ungesund zu seyn, um doch nichts zu taugen. Wenn der Dichter es gleich vermeidet, dasjenige belachen oder beweinen zu lassen, was es nicht verdient, und was uns dadurch schädlich werden kann, indem wir es aus einem falschen Gesichtspunkt betrachten lernen;[359] (ein Fall, von dem hier eigentlich noch nicht die Rede ist) so werden wir doch, wenn wir das wie der Begebenheit erkennen, die wir z.B. beweinen sollen, weit richtiger, weit angemessener unsre Empfindungen an ihr verspenden können, als wenn wir auf den bloßen Innhalt derselben sehen. Und dies ist, was wir nur von jenem bessern Romanendichter, wie ich gewiesen habe, lernen konnen, dies ist es, warum ich eben die Aufklärung der Wirkung und Ursache, die anschauende Verbindung zwischen dem Innern und dem Aeußern des Menschen, gefodert, und vorher schon gesagt habe, daß der bessere Romanendichder, außer seinen eigenthumlichen Vortheilen und Vorzügen, alles das gemeinschaftlich mit dem historischen Erzehler der Begebenheiten, – und es besser, zweckmäßiger habe, als dieser. Denn, wenn das Entstehn, das Wirklichwerden einer Begebenheit vor unsern Augen, das Eigenthümliche des bessern Romans, und überhaupt das Wesentlichste bey der Sache ist: so schließt dies Wirklichwerden nicht das Anziehende der entstehenden Begebenheit aus; es vervollkommt, es bestimmt, es berichtigt unsre Theilneymung an diesem Anziehenden nur. Ich werde dies an einem Beyspiele begreiflicher machen. Man lese die höchst anziehende, und durch die zauberische Einbildungskraft des Dichters so verführerisch ausgemalte[360] Scene im Agathon, wo Danae ihren Liebling mit einem Concert unterhält; eine Scene deren Innhalt gewiß das Herz der Leser in sehr angenehme Bewegungen setzt; man lese sie, sag' ich, und abstrahire von all den Ursachen, wodurch sie wirklich wurde, und von all den Wirkungen, die sie hervorbrachte, und untersuche nun seine Empfindungen: werden sie das seyn, was sie, der Wahrheit, der Billigkeit nach, seyn sollen? Keinesweges! Wir werden uns herzlich dabey vergnügt; aber vergnügt haben, ohne nur einmal an den Nachtheil denken zu können, den unser Vergnügen haben kann. Je reizender, je entzückender der Innhalt selbst ist, je weniger können wir, wenn uns der Dichter nämlich nicht die Mittel dazu selbst an die Hand gegeben hat, es zu unserm Nuzzen anwenden. Und diese Mittel sind eben die, die der Dichter des Agathon gebraucht. Man stelle sich an Agnthons Seite hin, und höre die Musik; nicht sie allein, sondern auch Agathons Zustand wird uns beschäftigen; und so wird unsre Theilnehmung verdoppelt seyn. – Mit jedem Augenblick wird diese Musik anziehender für mich, weil ich sehr gewiß, mit der Kenntniß, die ich vom Agathon habe, weis, daß sie es für ihn wird; ich fühle mit ihm; aber – sie führt den Agathon in das Orangewäldchen, und der ganze folgende Zustand[361] des Agathon lehrt mich, in wie weit ich selbst Recht habe, mich den sanften Eindrücken der Tonkunst zu überlassen; – die Scene lehrt mich, die ganzen Folgen, auf die meine aufgebrachten Empfindungen hinaus laufen können. Ich erwache gleichsam von meinen süßen Träumen, in die mich der Dichter versetzt hatte; aber ich erwache zu meinem Vortheil: Ein andrer würde mich haben fortträumen lassen, und vielleicht wär' ich nicht ehe, als durch einen herben Stoß, den ich meinem Traum zu danken hatte, erwacht. – Jetzt seh ich an diesen, angelegeten, und erfolgten Wirkungen das, was ich von der sie wirkenden Ursache, von Danaen denken soll; und seh' es jetzt natürlich noch allein, weil Agathon nicht so schnell erwachen kann, als ich, er, der aus dem süßen Traum in noch süßere verfällt. – Ich lerne mein Urtheil über den Werth ähnlicher Scenen berichtigen; ich lerne meine Empfindungen richtig schätzen; – ich habe mich als ein vernünftiger Mensch bey dieser Scene vergnügt. – Kann dies der bloße Innhalt einer Begebenheit, ohne Rücksicht auf ihre innern Ursachen, und ihre innern Wirkungen? – Bey dem bloßen Erzehler der Begebenheiten bin ich nichts als der Zuhorcher der Musik; nichts mehr oder weniger, als wenn ich ein Concert in einem Musiksaale höre – Und[362] oft noch weit weniger, denn der Dichter, der mir nicht an den Wirkungen, die seine Begebenheiten hervorbringen, ihren Innhalt zeigt, wird ihn mir nicht so lebhaft geben können, als mein Ohr. Aber, wie gedacht, diese Wirkungen müssen wir auch, mit ihren Folgen sehen, wenn wir vernünftig unterhalten werden sollen. –


»Der Innhalt der Begebenheit kann aber auch unterrichtend werden, wenn wir an dem Betragen des Mannes, dessen Thaten den Innhalt der Begebenheit ausmachen, ein Beyspiel sehen, wie wir uns betragen sollen?« – Grandison sey das Beyspiel! – Wie muß ich es nun anfangen, so zu handeln, wie er? – Ich muß so denken, so empfinden, wie er – (Ich nehm' es an, daß Grandisons äußre Umstände hier noch nicht in Betracht kommen; die kann der Dichter doch mir nicht geben.) Also muß ich zuerst Grandison seyn. – Aber wie werd ich dies? – davon sagt der Dichter kein Wort; das ist deine Sache! Lern es! da wird es schlimm aussehen! – Im Ernst, der Dichter thut seinen Lesern zu viel Ehre, der sich hierinn auf sie verläßt. Diejenigen, die Gebrauch von einem Beyspiel machen wollen, die sich, mit Recht, Muster suchen konnen, suchen nicht solche fertige Muster in Romanen; und die[363] übrigen läßt der Dichter gerade da im Stiche, wo sie seiner am nöthigsten haben. Und daraus erfolgt denn auch gewöhnlich das, was H. Musäus anfieng, so wahr, so lebhaft zu schildern. Mir ist Grandison der zweyte so schätzbar, als er es immer nur Abbten seyn konnte. –


Weit lehrreicher aber, als der erste Grandison, so bald die Rede vom Unterrichtenden des Charakters ist, ist die Geschichte des schon oft angeführten Agathons. Denn in ihm sehen wir, wie er zu all den Eigenschaften gelangt ist, die ihn uns so schätzbar machen; »wir sehen, um mich mit des Dichters eigenen Worten auszudrücken, warum vielleicht viele Menschen nicht so tugendhaft und weise sind, wie Agathon, wir sehen, wie es zugehen müßte, wenn sie es werden sollten.« Wer lernt nicht, zum Beyspiel, am Agathon, wie ein rechtschaffener Mann am Hofe sich betragen könne; wer lernt es nicht um desto ehe, da er das ganze Innre des Agathons aufgedeckt sieht, und sein eigenes mit ihm vergleichen, und darnach modeln kann, um ihm ähnlich zu werden? Und wenn Agathon kein glücklicher, kein so genannter kluger Hofmann war: so lehrt es den, ihm ähnlichen vielleicht den Hof meiden, an dem er eben das Schicksal haben würde, das Agathon hat.[364] Ein Mann14, dessen kleinstes Verdienst es war, von Ramlern so gar, unter die Helden seiner Zeit gesetzt zu werden, und den ich mit diesem Agathon bekannt zu machen das Verdienst gehabt, hat es öfter als einmal gesagt, daß er aus dem Agathon mehr gelernt habe, seitdem er ihn am Hofe zu Syrakus gesehen, als ihn all seine eigne Erfahrungen gelehrt hätten, – und daß er es gelernt habe, weil er gesehn, wie es zugienge, daß man sich so leicht, in seinen Urtheilen über gewisse Dinge, bey gewissen Gesinnungen, irren müsse? Er versicherte, es nicht umsonst gelernt zu haben; und aus der Folge seines Lebens läßt sich dies bestätigen.[365] Seit der Zeit war Agathon sein Lieblingsbuch, und sein Name, der unter den Subscribenten der neuen Auflage steht, kann es bezeugen helfen. Wenn dies alles auch weiter nichts erwiese, als daß die Geschichte Agathons, durch ihre Einrichtung, sehr lehrreich seyn könne: so hätt' ich meinen Endzweck damit erreicht –

»Aber in den Begebenheiten eines historischen Romans kann viel Moral liegen; es können nützliche Bemerkungen für die Sitten daraus sich folgern lassen?« – Eigentlich ist dieser Einwurf schon vorher beantwortet worden; es ist im Grunde der vorige, mit dem Unterschiede nur, daß die darinn gefoderte Sache noch schwerer durch einen historischen Roman erhalten werden kann, als die erste; denn, so wie dort ein anschauendes Beyspiel lehrreich seyn soll: so behauptet man dies hier von den Reflectionen, die aus diesem Beyspiel sich erst sollen folgern lassen. Wenn dort das anschauende Beyspiel nicht lehrreich werden konnte, weil man erst dem Beyspiele ähnlich seyn muß, wenn man es nachahmen will: so lassen sich hier die Moralen nicht so bestimmt aus der Begebenheit folgern, wie sie es müssen, wenn sie richtig und leicht, und nützlich angewandt werden sollen. – Wir wollen die Sache in einen bestimmten Fall verwandeln. Richardson selbst weist[366] seiner Geschichte Clarissens, in der Vorrede des Grandison, unter andern die Moral an, daß Mägdchens durch sie gelehrt würden, von einem Manne, der keine guten Grundsätze hat, auch nach den schönsten Versprechungen, nicht viel gutes zu hoffen. – Es soll sich dies also aus der Begebenheit selbst herleiten lassen; und da geht uns nun der Vorfall selbst, und sein Innhalt nicht mehr an, als daß er eine Sache enthält, aus der sich diese Moral von selbst ergeben soll. Mit diesem Innhalt haben wir es hier nur Beziehungsweise zu thun; das heißt, in wie fern er sich zu dem paßt, das daraus gefolgert werden soll. Er ist eigentlich nichts mehr oder weniger, als was die Esopische Fabel für die Moral ist, die sich aus ihr ergiebt. Ich will hier nicht solch eine Begebenheit so ganz genau mit einer Esopischen Fabel vergleichen, wie diese nach Lessings Theorie15 seyn muß, wenn sie für eine wahrhafte Fabel gelten soll. Eine Begebenheit, zugleich gebildet zu andern Endzwecken, würde nach Lessings sehr richtiger und wahrer Erklärung beurtheilt, augenscheinlich zu sehr dabey verlieren; aber wenn sich nur dann, wann eine Fabel die von Lessing gefoderten Eigenschaften hat, mit Richtigkeit und Wahrheit die Moral daraus[367] folgern läßt, die sie enthalten soll: so folgt sehr natürlich, daß eine Begebenheit, die, ihrer übrigen Anlage nach, diese Eigenschaften nicht hat, auch unmöglich diese Moral so gut lehren könne, als – eine Esopische Fabel. – Dies klingt seltsam auf den ersten Augenblick; aber es ist dem ohngeachtet sehr wahr. –

Daß eine Begebenheit, behandelt, wie sie es der Natur und Wahrheit gemäß seyn sollte, so gut, und weit besser noch, als eine Esopische Fabel, einem jungen Mägdchen zum Unterrichte werden kann, so bald dies Mägdchen irgend nur Fähigkeit und Willen hat, sich unterrichten zu lassen, dies habe ich vorher schon, an Clarissens Beyspiel selbst gezeigt. Wenn nämlich ein Mägdchen anschauend sähe, wie Clarissens Geist und Herz allmählig so gebildet und geformt worden, daß sie sich mit einem Loveless in einen heimlichen Briefwechsel einlassen können; – wenn dieser Schritt, als eine Wirkung ihrer, vorher durch allerhand Zufälle gebildeten Denkungsart und Empfindungen erfolgte: so würde es nur von dem Mägdchen abhangen, daran zu lernen, was ihr nöthig ist. Wer sieht aber nicht, daß alsdenn die schon so oft genannte genaue Verbindung von Wirkung und Ursach sich zwischen der Person und ihren Begebenheiten finden müßte, die sich jetzt nicht dabey findet?[368]

Ich habe des Umstandes schon gedacht, daß wenn eine Person so gut wie die andere mit einer Begebenheit verbunden seyn kann, sich schlechterdings keine Rechenschaft geben läßt, warum die Begebenheit vielmehr so erfolge, als anders. Der denkende Leser wenigstens, wenn seine Empfindungen abgekühlt sind, fodert diese Rechenschaft, – und denkende Leser wünscht doch der Dichter, – wenn er sie auch nicht zu unterhalten vermag? –

In Clarissens Geschichte wird nun diese Foderung gar nicht befriedigt. Jedes andre liebenswürdige Mägdchen könnte, wie gedacht, unter dem Druck ihrer Eltern, dahin gebracht werden, mit ihrem Liebhaber zu entfliehen; und könnte eben so unglücklich seyn, als Clarisse.

Und eben, weil jedes andre liebenswürdige Frauenzimmer Clarissens Geschick hätte haben konnen; weil alsdenn sich eben auch aus diesem Geschick jene Moral hätte können folgern lassen: so lehrt jede wahre Esopische Fabel die Sache bestimmter, – und also besser, als Clarissens Geschichte. Denn eben, weil diese Moral bestimmter, anschauender aus der mit ihr verbundenen Begebenheit oder Vorfall sich ergiebt, eben deßwegen wird sie uns angenehmer beschäftigen, und eben deßwegen nun auch einen tiefern Eindruck[369] machen16. – Und also sollte nun der Dichter, der vorzüglich mit seinen Romanen lehren will, seine Begebenheiten genauer, inniger mit seinen Personen, auch seiner Moralen willen, verbinden lernen.

Doch es sey, daß die angegebene Moral in Clarissens Geschichte liege, es sey, daß sie wenigstens daraus gefolgert werden könne; – um zu bestimmen, ob das Daseyn dieser Moral verdiene in Betracht gezogen zu werden, müssen wir sehen, ob sie den Lesern wahrhaft nützlich zu werden fähig sey?[370]

Ich nehme einzelne Fälle aus. Daß nicht mancher sich aus Clarissens Geschichte, in Rücksicht auf diese Moral, unterrichtet, – daß er nicht so gar die Anwendung davon zu machen, aus der Geschichte gelernt habe: das begehr ich keineswegs zu läugnen. Wer das wollte, müßte die Herzen aller Menschen durchschauen können. Aber der, der nach dieser freylich leicht genug zu findenden Moral, (wenn er einmal Moral suchen will) auch die Anwendung von ihr zu machen gelernt, würde dies aus jeder andern Begebenheit gelernt haben, und hätte eben so gut zu andern Quellen seine Zuflucht nehmen können, als zu dieser. Clarisse hat um seinen hieraus gezogenen Nutzen kein ander Verdienst, als jeder andre Vorfall gehabt hätte, aus dem sich diese Moral hätte lernen lassen. Und dieser sind wahrlich noch genug. Hieraus ergiebt sich aber, daß, bey dem bloßen Daseyn der Moral, doch noch lange nicht auf ihren gewissen Nutzen zu rechnen sey.

Erkennen läßt sich freylich diese Moral leicht genug. Aber – zuerst sucht man sie nicht, in einem auf diese Art behandelten Roman, weil man nicht so, wie in dem bessern Roman, gerade zu auf sie geführt wird. Ein junges Mägdchen liest den Roman zuvörderst des Innhalts wegen; und wird durch die Empfindungen, die seine Begebenheiten[371] erzeugen, so hingerissen, daß sie unmöglich, unter diesen Empfindungen, auf die Moral Acht haben kann, die in den Begebenheiten liegt. – Wer das Herz kennt, weis dies aus der Erfahrung. – Je mehr oder weniger also der Roman ihre Empfindungen beschäftigt, je werther wird er ihr seyn; aber, wenn in dieser Beschäftigung selbst nicht für das Maaß dieser Empfindungen, für ihre Berichtigung gesorgt ist; wenn nicht in dem Entstehen und Wirklichwerden der Begebenheit sich etwas findet, das ihre Empfindungen leiten und ordnen hilft: so gehen diese Empfindungen für den Nutzen verloren; – und sie wird auch nun, in dem Lauf dieser Empfindungen, nicht auf das geführt, was aus der Sache zu lernen ist. Diese beyden Dinge stehen, wie wir vorher an einem Beyspiel aus der Geschichte Agathons gesehen haben, in sehr genauer Verbindung, und sind im Grunde eins. – Das Nachdenken über die Sache allein, kann sie also nur zum Auffinden der Moral führen. Es mag überhaupt bey gewissen und sehr – vielen Personen eine böse Sache um diese Führerinn seyn. – Gewöhnlich, wenn wir angenehm beschäftigt gewesen sind: so suchen wir, in der Rückkehr zu diesem Geschäft, das Vergnügen vorzüglich wieder, das wir vorher gehabt haben, wir suchen das halberloschene Gefühl wieder anzublasen, und[372] wie ist dies auch anders möglich? Das warme, zu süßerer Beschäftigung gewohnte Herz soll diesem entsagen, und Dinge aufsuchen, die es, in seinem jetzigen Zustande, für höchst überflüßig und langweilig erkennen muß? – Wenn in unserm Vergnügen selbst also diese Moral nicht lieget, wenn das beschäftigte Herz von diesem Vergnügen abstrahiren, und an die Lehre, die etwan in der Begebenheit zu finden sey, denken solle: so macht der Dichter Foderungen an seine Leser, die kaum in ihrer Gewalt sind. Es ist wirklich seltsam, daß Dichter sich vorzüglich gefühlvolle, weichgeschaffne Seelen zu Lesern wünschen, und hernach eben diese sanften Seelen so gleich wieder in die fühllosen Stoiker verwandeln wollen. Denn dies ohngefehr müßten sie zugleich mit jenem seyn können, wenn sie den Foderungen des Dichters an sie Genüge thun sollten. – Und wenn sie, in diesem Fall, wo, nach der eigenen Anlage des Dichters, all' ihre Empfindungen flott sind, mit einemmal in Denker sich verwandeln, und Sittenlehren aufsuchen könnten, was würden sie nicht bey ruhigen und gewöhnlichen Vorfällen, wo sie ganz Meister ihrer Denkungskraft sind, thun können? Denn daß nicht aus jeder Begebenheit, aus dem alltäglichen Vorfalle, auf eben die Art, wie in diesen Romanen, merkwürdige Moralen und Sittenlehren zu ziehen[373] sind, wenn wir einmal darauf ausgehn, Moralen aufzusuchen, das bedarf wohl nicht erst eines Beweises.

Doch ich will noch eins zugeben. Die Moral sey gefunden, sey so lebhaft, bis zum Vorsatz, sie anzuwenden und zu beobachten, erkannt, – ist dies genug? Schon vorhin habe ich hierauf geantwortet. Um sich von der Wahrheit und Gewißheit meiner Antwort zu überzeugen: so frage man das erste beste Frauenzimmer, die Clarissens Geschichte mit Aufmerksamkeit und mit dem obigen Vorsatz gelesen hat, wie sie es eigentlich anfangen soll, um nicht in Clarissens Fall zu kommen? oder, wie man denken müsse, um nicht darein zu kommen? man frage sie, welche Eigenschaften in Clarissen selbst es sind, die Anlaß zu ihrem großen Leiden gegeben haben? – Und wenn sie diese Fragen so beantwortet, daß man sich, bey dem möglichen Falle, der gewissen und fruchtbaren Anwendung versichert halten kann: so hat sie es nicht aus Clarissens Geschichte gelernt. – Und das gienge leicht an. Die angeführte Moral ist so bekannt, so allgemein wahr und richtig eingestanden, daß, wenn das Buch sonst nichts enthielte, als die Ausführung dieser Lehre, wir es entweder gar nicht bedurft, – oder es doch zu hoch geschätzt hätten. – –[374]

Der Romanendichter also, der sich schmeichelt, durch Moralen dieser Art sich zum Lehrer des menschlichen Geschlechts zu erheben, hört nur seine Eigenliebe, und will andern gern die Vorzüge seiner Kunst anpreisen, die er, nach diesen Anpreisungen zu urtheilen, selber nicht recht gut kennt. Wenn es bloß um diese Moral zu thun ist: so kann die erste beste gute Esopische Fabel, wie gedacht, mehr und besser lehren. Wir übersehen das Ganze dieser Fabel, wir werden durch nichts abgezogen, oder zurück gehalten, die in ihr liegende, und aus ihr geradeswegs und allein folgende Lehre zu erkennen, und nach allen ihren Theilen zu übersehen, – und uns einzudrücken. Und in historischen Romanen, in welchen die Begebenheiten um desto wärmer und bewegender seyn müssen, je weniger sie sonst auf andre Art interessiren können, ist das Auffinden der Moral aus der Begebenheit eben dadurch um desto mißlicher. – Vom eigentlichen Moralisieren, Maximen und Sentenzen in der Folge.

14

Und warum sollt' ich den Mann hier nicht nennen? Es ist nicht mehr! – Es war der Preuß. G.v. Seydlitz; ein Mann, dessen Rechtschaffenheit, dessen Menschenliebe gewiß seinen Verdiensten, als Krieger gleich kamen. – Sein Urtheil über den Agathon kann dem Verf. desselben nicht gleichgültig seyn, da der Mann mehr war, als Krieger, und rechtschaffener Mann; er vereinte in sich alles, was den großen Mann charakterisirt. Er war gerade so scharfsinnig gerade so witzig, hatte gerade einen so gebildeten Geschmack, als es sich mit seinen übrigen Beschäftigungen und Eigenschaften nur vertragen konnte. – Und sein Geschmack war nicht durch französischen Witz verdorben. Wem diese unschuldige Anekdote anstößig wird, den erinnere ich an Sternens Sentimental Youmey: »why should I not rescue one page from violation by writing his name in it. u.s.w.« (The Translation) – Die ganze Stelle paßt lange nicht hieher; aber sie entschuldigt.

15

Ich darf wohl die Leser alle mit Lessings Fabeln bekannt voraus setzen? –

16

Es kann Leute geben, die es ehe glauben, daß eine genaue Beziehung zwischen dem Innhalt der Fabel und ihrer Moral sich befinden müsse, wenn es ihnen ein Franzose sagt. Ein Kunstrichter dieser Nation, bey dem sich einige einzele gute Bemerkungen finden, schreibt, bey Gelegenheit der neunzehnten Fabel des zweyten Buchs der Fabeln des La Motre: Nous ne sommes point piqués d'entendre dire à deux animaux, ce qui pourroit être dit tout aussi bien par d'autres avec la même justesse. Il faut, pour bien faire, que ce, que dit un Acteur de la fable, ne puisse être dit que par lui, sans quoi je ne m'interesserai que foiblement à ce qui' il dira. – – Tout autre espèce d'animal, qui se promène dans les apartemens, deux souris par exemple, auroient pour une pareille conversation, été aussi bonnes que deux grillons. Il n'en est pas de même du corbeau & du renard; ce qu'ils disent ne convient qu'à eux. Oeuvr. de Remond de St. Mard. T. 4. p. 206. 208. Edit d'Amsterd. 1759.

Quelle:
Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman, Leipzig und Liegnitz 1774. , S. 355-375.
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