9.

[375] Bey der historischen Behandlung eines Romans hat der Dichter noch etwas, um den Leser zu reizen, das ist, daß er ihn durch den seltsamen Innhalt seiner Begebenheiten, und durch[375] die seltsamen Wendungen der Geschichte überrascht, in Erstaunen, in Verwunderung setzet. Wenn sich gleich nicht alle Romanendichter dieser Art dieses Mittels bedient haben: so ist es ihr doch vorzüglich eigenthümlich, und verleitet dazu.

Es ist seltsam, daß man dies Vergnügen dem Leser so sehr hoch anrechnet. Alle Dichter wünschen ofter, als einmal gelesen zu werden, und doch denken so wenige Romanendichter daran, daß sie den Leser nur das erstemal überraschen. Und wenn er mit all den Sprüngen und Masken- der Geschichte bekannt ist, warum sollte er einen Roman das zweyte mal in die Hände nehmen, wenn er nichts, als das Vergnügen der Ueberraschung daraus ziehen kann?

Und dies Vergnügen ist überhaupt so höchst armselig, verglichen mit dem, das der bessere Dichter dem Leser zu geben vermag. Was Diderot17[376] hierüber schreibt, ohngeachtet ers eigentlich nur vom Drama sagt, gilt auch größtentheils vom Roman. »Der Dichter, heißt es unter andern, bewirkt durch sein Geheimniß eine kurze Ueberraschung; und in welche anhaltende Unruhe hätte er uns stürzen können, wenn er uns kein Geheimniß aus der Sache gemacht hätte! Wer in einem Augenblick getroffen und niedergeschlagen wird, den kann ich auch nur einen Augenblick bedauern. Aber wie steht es alsdenn mit mir, wenn ich den Schlag erwarte, wenn ich sehe, daß sich das Ungewitter über meinem oder eines andern Haupte zusammenzieht, und lange Zeit darüber verweilet? – Meinetwegen mögen die Personen alle einander nicht kennen; wenn sie nur der Leser alle kennt. – Wenn der Zustand der Personen unbekannt ist: so kann sich der Leser nicht stärker für die Handlung interessiren, als die Personen. Das Interesse aber wird sich für den Leser verdoppeln, wenn er Licht[377] genug hat, und es fühlet, daß Handlung und Reden ganz anders seyn würden, wenn sich die Personen kennten. Alsdenn nur werde ich es kaum erwarten können, was aus ihnen werden wird, wenn ich das, was sie wirklich sind, mit dem, was sie thun oder thun wollen, vergleichen kann.« – So weit Diderot! Und wer da glaubte, daß die Sache im Roman anders gehen müßte, weil es ein Roman und nicht ein Drama ist, müßte zugleich glauben, daß der Leser in einen andern Menschen, oder vielmehr in ein ganz ander Geschöpf verwandelt wird, wenn er einen Roman, statt eines Schauspiels in die Hand nimmt. –

Und so wie nun durch diese vermeinten Ueberraschungen und Sprünge, die eben der Diderot einen Zusammenhang kleiner Kunstgriffe nennt, der Roman fürs zweyte Lesen den allergrößten Theil seines Reizes verloren hat, und oft bloß deswegen das zweyte mal gar nicht mehr gelesen wird: so zieht der bessere Roman nach der ersten Lektüre den Leser nur dadurch desto gewisser zur zweyten, weil die Beschäftigung, die er so angenehm gewähret, nicht mit einem male abgemacht werden kann. Die genaue Verbindung von Wirkung und Ursache zu erkennen, dem Dichter nach, eine gegen die andre abwiegen, jede derselben unter sich, und mit dem Ganzen vergleichen, das ist nicht mit einem mal, –[378] vielleicht nicht mit zehnmal Lesen geschehn. – Und je öfter ein solches Werk den Leser an sich zieht, je gewisser werden auch alle die Vortheile seyn, die es, seiner Einrichtung nach, gewähret. –

Ich weis überhaupt gar nicht, wie die Dichter zu einer bloßen historischen Verbindung verschiedener Begebenheiten und Vorfälle haben kommen können? Der Dichter soll und will ja mehr, als Biograph seiner Personen seyn. Der Biograph steht nicht auf der Stelle auf welcher der Dichter steht. Jener zeichnet auf, was er sieht und weiß; aber den Gesichtspunkt, aus dem er es ansehen soll, und den der allein kennt, der das Ganze dieses einzeln Menschen übersieht, kann er nicht kennen; er weis die Beziehungen, die Verhältnisse nicht, die sich zwischen dem, was er aufzeichnet und zwischen dem befinden, was seine Person werden soll, oder werden kann. Er kann den Punkt nicht sehen, in dem alle einzelne Strahlen zusammen kommen und vereint werden sollen. Wenn er uns einen Vorfall erzehlt: so können wir nicht von ihm fodern, daß er uns sage, warum dieser Vorfall wirklich wurde? Er sieht den Gang und die Einrichtung der Räder aufs höchste nicht weiter, als nur in so ferne das Gegenwärtige dadurch hervorgetrieben wird. Mit dem Dichter verhält es sich ganz anders. Er ist Schöpfer und Geschichtschreiber seiner Personen[379] zugleich. Er steht so hoch, daß er sieht, wohin alles abzweckt. Und in der Welt des Schöpfers, und vor den Augen des Schöpfers ist alles mit allem, Körper und Geisterwelt mit einander verbunden; alles ist zugleich Ursach und zugleich Wirkung. Es ist nichts da, das allein nur eins von beyden wäre. Alles ist werdend in der Natur. – Und wir sind nun alle auch so geschaffen, daß, wenn wir über unser Seyn denken gelernt haben, wir diese Verbindung auszuspähen uns bemühen; und daß dies Geschäft, und die Auffindung der Einrichtung, nach der alles in der Natur vor sich geht, uns zugleich auf die angenehmste Art beschäftigt, und für unsre Zwecke höchst unterrichtend wird. Wie vortreflich der Grund, zu unserm Un terricht und Vergnügen also in der Einrichtung der Natur selbst gelegt worden, wie zweckmäßig wir für das geschaffen sind, was da ist, wie übereinstimmend hier die Maschine mit dem gebauet worden, der sie brauchen soll, das überlaß ich zu weiterer Ausführung andern. – Mir sey es genug, noch hinzuzusetzen, daß sich in der Beschäftigung, die uns die werdende Natur oder ihre Nachahmung giebt, und in diesem Punkt allein Vergnügen und Unterricht mit einander vereinigen, so daß dadurch allein, im wahren Sinn, der Unterricht durch das Vergnügen gegeben[380] werden kann, den der Dichter sich zum Endzweck vorgesetzt hat.

17

Le Poët me ménage par le secret un instant de surprise; il m'êut expôsé par la confidence à une longue inquietude. – Je ne plaindrai qu'un instant celui qui sera frappé et accablé dans un instant. Mais que deviens – je, si le coup se fait attendre, si je vois l'orage se former sur ma tête ou sur celle d' une autre, et y demeurer long-tems suspendu? – – Que tous les personnages s'ignorent, si vous le voulez, mais que le spectateur les connoisse tous. – Si l'etat des personnages est inconnu, le spectateur ne pourra prendre à l'action plus d'interêt que les personnages. Mais l'interêt doublera pour le spectateur, s'il est assez instruit, et qu'il sente que les actions et les discours seroient bien différens, si les personnages se connoissoient. C'est ainsi que Vous produirez en moi une attente violente de ce qu'ils deviendront, lorsqu'ils pourront camparer ce qu'ils sont avec ce, qu'ils ont fait ou voulu faire. Oeuvr. de Diderot T. II. p. 213 seq. (Edit. de Berlin.)

Quelle:
Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman, Leipzig und Liegnitz 1774. , S. 375-381.
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