Der Feigenbaum und der Weißdorn

[218] Eine Fabel aus dem Französischen, die bei Voltaire's Aufnahme in der ±1 z.d. N.S. zu Paris 1778 vorgelesen ward.


Ein schönbelaubter Weißdorn trotzte

Dem Feigenbaum, der um die Frühlingszeit,

Noch kaum belaubt, doch schon von Früchten strotzte,

Und that mit seinen Blüthen breit.

Wo sind denn deine Blüthen? frug

Der Weißdorn ihn – Und wo – erwiedert' jener –

Ist deine Frucht? – Dagegen bin ich schöner,

Versetzt' der Strauch, und das ist mir genug.

So lass' uns denn in Frieden leben,

Erwiederte der Feigenbaum:

Dir hat Natur für's Auge Reiz gegeben,

Mir gab sie Früchte für den Gaum.


Die Fabel gilt den Männern, deren Schriften

Der Welt bald Nutzen, bald Vergnügen stiften:

Der unterhält, der unterrichtet sie.

Die gütige Natur, in ihren Gaben allen

Gleich mütterlich, gibt dem die Gabe zu gefallen,

Und jenem die des Unterrichts, daß nie

Ein Kind von ihr das andere beneide;

Nur ihrem liebsten Sohn Voltairen – gab sie beide.

Fußnoten

1 [Bedeutet Loge. D. Hg.]


Quelle:
Aloys Blumauer: Sämmtliche Gedichte. München 1830, S. 218.
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