Sechste Geschichte

[432] Gian von Procida wird bei seiner Geliebten, die inzwischen dem König Friedrich geschenkt worden war, überrascht und mit ihr an einen Pfahl gebunden, um verbrannt zu werden. Ruggieri dell' Oria erkennt und rettet ihn, und er wird ihr Gemahl.


Als die Geschichte der Neifile, die den Damen gar wohlgefallen hatte, beendigt war, befahl die Königin der Pampinea, daß sie sich rüsten möge, um eine neue zu erzählen. Pampinea erhob ihr klares Antlitz und begann sofort also:

Gewaltig, ihr munteren Mädchen, sind die Kräfte der Liebe, und zu den kühnsten Unternehmungen, zu übermäßigen und unglaublichen Gefahren leihen sie den Liebenden Mut, wie aus mehreren der Beispiele entnommen werden kann, die heute und an den vorigen Tagen bereits erzählt worden sind. Dennoch aber bin ich gesonnen, euch in der Geschichte eines verliebten jungen Mannes einen neuen Beweis dafür zu liefern.

Ischia ist eine Insel nahe bei Neapel, auf der vor einiger Zeit unter andern ein gar schönes und munteres Mädchen lebte, das Restituta hieß und die Tochter eines Edelmannes jener Insel, namens Marin Bolgaro, war. Diese nun liebte ein Jüngling von der benachbarten kleinen Insel Procida, der Gianni genannt wurde, mehr als sein Leben, und sie ihn nicht minder. Nicht allein, daß er bei Tag nach Ischia zu kommen und dort zu verweilen pflegte, um sie zu sehen, er war auch schon oftmals bei Nacht, wenn er eben keinen Kahn gefunden hatte, von Procida nach Ischia hinübergeschwommen, um, wenn auch nichts weiter, so doch wenigstens die Mauer ihrer Wohnung zu erblicken.

Während aber diese glühende Liebe noch bestand, geschah es, daß das Mädchen, als es eines Tages zur Sommerszeit ganz allein am Meeresufer lustwandelte und mit einem Messer Seemuscheln von den Steinen losbrach, sich von Fels zu Fels bis zu einer zwischen Klippen verborgenen Bucht verstieg, wo sich eben eine Anzahl junger Sizilianer, die von Neapel zurückkamen, angelockt vom kühlen Schatten und von der Annehmlichkeit einer eiskalten Quelle, mit ihrem Ruderschiffchen[433] ausruhten. Als diese die Schönheit des Mädchens sahen und zugleich gewahr wurden, daß es allein war und sie noch nicht bemerkt hatte, beschlossen sie, es festzuhalten und mit sich fortzuführen. Gesagt, getan; sie schleppten das Mädchen, wie sehr es auch schreien mochte, in ihr Fahrzeug und fuhren mit ihm davon.

Als sie in Kalabrien landeten und miteinander zu verhandeln anfingen, wem sie zufallen solle, begehrte jeder einzelne sie für sich allein. Wie sie sich nun gar nicht einigen konnten und wohl sahen, daß sie um des Mädchens willen noch miteinander in üble Händel kommen und ihre übrigen Angelegenheiten zugrunde richten könnten, kamen sie endlich dahin überein, sie dem König Friedrich von Sizilien, der um jene Zeit noch jung war und an schönen Frauen großes Gefallen fand, zum Geschenk zu machen. So taten sie denn auch wirklich, sobald sie nach Palermo gekommen waren.

Der König fand sie schön und nahm das Geschenk mit Freuden an. Da er aber eben ein wenig kränkelte, befahl er, daß sie, bis er sich wieder kräftiger fühlte, ein schönes Gebäude in einem königlichen Garten, der die Cuba genannt wird, beziehen und dort gehörig gepflegt werden solle. Und so geschah es.

Inzwischen war ganz Ischia wegen des geraubten Mädchens in der größten Bewegung, und was die Angehörigen dabei noch am meisten schmerzte, war, daß sie nicht herausbringen konnten, wer die Räuber gewesen wären. Gianni indes, dem mehr als einem andern daran gelegen war, genügende Auskunft zu erlangen, wollte nicht abwarten, bis der Zufall ihm in Ischia Nachrichten zuführte, sondern rüstete, sobald er erfahren hatte, nach welcher Seite jenes Fahrzeug sich gewandt habe, selbst ein Schiff aus und befuhr mit diesem, so schnell er konnte, die ganze Küste vom Minerva-Vorgebirge bis nach Scalea in Kalabrien. Überall forschte er nach Kunde von seiner Geliebten, und wirklich wurde ihm in Scalea berichtet, wie sizilianische Schiffer sie nach Palermo geführt hätten. Sogleich schiffte Gianni nach Palermo und suchte lange Zeit nach seinem Mädchen. Als er aber endlich erfuhr, sie sei dem König geschenkt worden und werde für diesen in der Cuba bewacht, betrübte er sich gar sehr und gab fast alle Hoffnung auf, sie nur noch einmal wiederzusehen,[434] geschweige denn, sie jemals zu besitzen. Weil ihn aber dennoch die Liebe festhielt, schickte er sein Schiffchen heim und ging, da er sicher war, daß niemand ihn kannte, bei seinem längeren Verweilen häufig an der Cuba vorüber.

Da traf es sich denn eines Tages so glücklich, daß er seine Restituta an einem Fenster erblickte und sie ihn ebenfalls gewahr wurde, worüber beide sich unsäglich freuten. Gianni aber, welcher sah, wie einsam und abgelegen die Gegend war, näherte sich dem Fenster, soviel er konnte, redete seine Geliebte an und ging nicht eher wieder von dannen, als bis sie ihm gesagt hatte, wie er es anzustellen habe, um mehr in der Nähe mit ihr zu sprechen, und er sich selbst die Örtlichkeiten sehr genau betrachtet hatte.

Als nun die Nacht gekommen und schon zum Teil verstrichen war, kehrte er zurück und kletterte über eine Mauer, die so glatt war, daß kein Specht sich daran hätte festhalten können, glücklich in den Garten hinüber. Hier fand er eine Stange, lehnte sie bei dem Fenster, welches das Mädchen ihm bezeichnet hatte, an die Wand und gelangte auf diese Weise ziemlich leicht hinauf. Das Mädchen aber meinte bei sich selbst, seine Jungfräulichkeit, um derentwillen es bis dahin gegen den Geliebten ein wenig streng gewesen war, sei nun doch verloren und es könne sich zumindest niemand ergeben, der seiner würdiger sei als eben er. Auch hoffte sie ihn zu bewegen, daß er sie entführe, und aus allen diesen Gründen hatte sie, entschlossen, ihm alles zu gewähren, was er von ihr wünschen könnte, das Fenster offengelassen, damit er gleich ohne weiteres in das Zimmer gelangen könne.

So schlüpfte denn Gianni leise durch das offene Fenster ins Zimmer und legte sich sofort zu dem Mädchen, das noch wach war. Bevor sie jedoch weiteres vornahmen, offenbarte ihm Restituta alle ihre Wünsche und bat ihn auf das inständigste, daß er sie von dort befreien und mit sich nehmen möge. Gianni erwiderte ihr darauf, daß ihm selbst nichts erwünschter sein könne. Auch versprach er ihr, sobald er sie verlassen hätte, alles so vorzubereiten, daß er sie mitnehmen könne, wenn er das nächste Mal wieder zu ihr komme. Nachdem sie diese Verabredungen miteinander getroffen hatten, umarmten sie sich[435] voller Entzücken und genossen das Vergnügen, das Amor selbst durch kein größeres zu überbieten vermag. Einige Male wiederholten sie diese Genüsse und schliefen endlich, ohne es selbst gewahr zu werden, einer in des andern Armen ein.

Inzwischen erinnerte sich der König der Maid, die ihm gleich beim ersten Anblick besonders wohlgefallen hatte, und da er sich wieder vollkommen gesund fühlte, beschloß er, obgleich es schon gegen Morgen war, sich eine Weile mit ihr zu ergötzen. Von einigen seiner Diener begleitet, machte er sich in der Stille nach der Cuba auf, ging in das Wohnhaus und trat, nachdem er sich die Türe leise hatte öffnen lassen, mit einer brennenden Wachsfackel in das Zimmer, in dem das Mädchen schlief. Gleich beim ersten Blick auf das Bett aber sah er sie, wie sie nackt und schlafend in Giannis Armen lag. Im ersten Augenblick waren sein Unmut und sein Zorn über diese Entdeckung so groß, daß wenig daran fehlte, so hätte er, ohne ein Wort zu sagen, beide mit einem Messer, das er bei sich trug, auf der Stelle erstochen. Dann aber überlegte er, wie die Ermordung zweier Nackender im Schlafe jedermann, geschweige denn einen König, schändete, und er bezwang sich deshalb in der Absicht, sie öffentlich und zwar durchs Feuer, hinrichten zu lassen. Darauf sagte er zu dem einzigen Begleiter, der bei ihm war: »Was hältst du von diesem verworfenen Geschöpf, auf das ich bisher meine Hoffnung gerichtet hatte?« Dann fragte er ihn weiter, ob er den jungen Menschen kenne, der keck genug gewesen sei, ihm, dem Könige, in seinem eigenen Hause Schimpf und Kränkung zuzufügen. Der Gefragte erwiderte indes, daß er sich nicht erinnere, ihn jemals gesehen zu haben.

Darauf verließ der König in großer Erbitterung das Zimmer und befahl, daß die beiden Liebenden, nackend wie sie waren, gefangen und gebunden und, sobald es heller Tag wäre, nach Palermo geführt würden. Dort solle man sie dann auf dem großen Platz, die Rücken gegeneinandergekehrt, an einen Pfahl binden und, nachdem sie bis zur dritten Stunde den Augen aller in diesem Zustande bloßgestellt worden wären, verbrennen, wie sie es verdient hätten. Nachdem er dies alles angeordnet, kehrte er, noch immer gar zornig, nach Palermo in[436] seine Gemächer zurück. Kaum aber war der König fortgegangen, so fielen die Diener in großer Anzahl über die Liebenden her und erweckten sie nicht allein aus ihrem Schlafe, sondern fingen und banden sie auch alsbald ohne jedes Mitleid.

Wie erschrocken und traurig die Liebenden bei alldem waren, das sie mit sich geschehen sahen, und wie sehr sie unter Tränen und Wehklagen für ihr Leben zitterten, erkennt wohl jeder, ohne daß ich davon spreche. Wie der König befohlen hatte, so wurden sie nach Palermo geführt und auf dem Platze an einen Pfahl gebunden. Dann ward vor ihren Augen Scheiterhaufen und Feuer gerüstet, um sie zu der vom König angeordneten Stunde zu verbrennen. Binnen kurzem zog die Neugier, die beiden Liebenden zu sehen, alle Männer und Frauen Palermos auf jenen Platz. Die Männer strömten herbei, um den Anblick des Mädchens zu genießen, und ebenso wie sie ihre vollkommene und in allen Teilen gleiche Schönheit priesen, versicherten die Frauen, die alle herbeikamen, um den Jüngling zu sehen, einstimmig, daß auch er durchaus schön und wohlgebaut sei. Die beiden Unglücklichen aber standen, beide voller Scham, in steter Erwartung des grausamen Feuertodes mit gesenktem Haupte und beweinten ihr Mißgeschick.

Während sie aber noch also bis zur bestimmten Stunde ausgestellt standen und ihr Vergehen von Mund zu Munde ging, gelangte die Nachricht auch zu Ruggieri dell' Oria, einem Manne von unschätzbarer Tapferkeit, der damals Admiral des Königs war. Gleich den übrigen ging auch er zu dem Platze, wo sie gebunden standen, und beschaute, wie er dort angelangt war, zuerst das Mädchen und lobte ihre Schönheit gar sehr. Als er aber darauf den jungen Mann betrachtete, erkannte er ihn mit leichter Mühe, trat deshalb näher zu ihm heran und fragte ihn, ob er Gianni von Procida sei. Als Gianni das Gesicht erhob und den Admiral erkannte, erwiderte er: »Mein guter Herr, wohl war ich der, um den Ihr mich befragt; bald aber werde ich aufgehört haben, es zu sein.« Darauf fragte ihn der Admiral, was ihn denn in solche Lage gebracht habe, und Gianni antwortete ihm: »Die Liebe und des Königs Zorn.«

Der Admiral ließ sich die ganze Geschichte ausführlicher erzählen und wollte, wie er alles gehört hatte, von dannen[437] gehen. Gianni aber rief ihn zurück und sagte: »Ach, edler Herr, wenn es Euch möglich ist, so erwirkt mir eine Gnade von dem, um dessentwillen ich hier so stehen muß.« Ruggieri fragte: »Was denn für eine?« Gianni aber antwortete: »Ich sehe wohl, daß ich hier und binnen kurzem sterben muß. Nun erbitte ich mir aber als Gnade, daß ich, ebenso wie ich jetzt mit dem Rücken gegen das Mädchen stehe, das ich mehr als mein Leben geliebt habe, und sie mich nicht minder, ihr das Gesicht zukehren darf und sie mir, auf daß ich noch im Tode im Anblick ihrer Züge Trost und Frieden finden möge.« Ruggieri erwiderte lächelnd: »Das will ich gern tun und will es schon dahin bringen, daß du sie noch bis zum Überdrusse sehen sollst.« Damit verließ er ihn und gebot denjenigen, die beauftragt waren, jene Hinrichtung ins Werk zu setzen, nichts weiter zu tun, bevor nicht neue Befehle vom König einträfen.

Dann aber ging er geradenwegs zum König und scheute sich nicht, so sehr er ihn auch erzürnt sah, ihm über das, was er soeben erfahren hatte, unverhohlen seine Meinung zu sagen. »Mein König«, begann er, »wodurch hat das junge Paar, das auf deinen Befehl dort unten auf dem Platze verbrannt werden soll, dich beleidigt?« Der König gab ihm Auskunft, und Ruggieri fuhr darauf also fort: »Das Vergehen, dessen sie sich schuldig gemacht, verdient allerdings solche Strafe, nicht aber von dir; denn wie den Missetaten Strafen gebühren, so auch den Wohltaten Belohnungen, von Gnade und Erbarmen gar nicht einmal zu reden. Weißt du denn auch, wer die beiden sind, die du verbrennen lassen willst?« »Nein«, erwiderte der König. »So sollst du es denn erfahren«, sagte Ruggieri darauf, »damit du erkennen mögest, wie wohlgetan es war, dich von den Aufwallungen deines Zornes so hinreißen zu lassen. Der junge Mann ist ein Sohn des Landolfo von Procida, der selbst ein leiblicher Bruder eben jenes Messer Gian von Procida ist, durch dessen Hilfe du König dieser Insel bist. Das junge Mädchen aber ist eine Tochter des Marin Bolgaro, dessen Ansehen du es allein zu danken hast, wenn deine Herrschaft über Ischia noch anerkannt wird. Überdies sind das zwei junge Leute, die schon seit langem einander lieben und nur von der Gewalt der Liebe bezwungen, keineswegs aber, um deine Majestät zu kränken,[438] sich jenes Vergehens schuldig ge macht haben, wenn es ein Vergehen genannt werden kann, wozu die Liebe junge Menschen führt. Warum also schickst du die in den Tod, die du mit erlesenen Aufmerksamkeiten und Geschenken ehren solltest?«

Als der König diese Rede vernahm und deutlich erkannte, daß Ruggieri die Wahrheit sagte, stellte er nicht nur sein grausames Verfahren ein, sondern bereute auch, was er bis dahin getan hatte. Alsbald befahl er, daß die beiden jungen Leute vom Pfahle losgebunden und vor ihn gebracht werden sollten. Und so geschah es. Dann aber sann er darauf, wie er, da ihm nun alle ihre Umstände bekannt geworden waren, durch Ehrenbezeigungen und Geschenke das ihnen angetane Unrecht wiedergutmachen könnte. Zu diesem Ende ließ er sie zunächst auf das anständigste bekleiden und feierte dann, da er hörte, daß beide in ihren Wünschen übereinstimmten, die Verlobung zwischen Gianni und dem jungen Mädchen. Doch erst als er ihnen auch noch prachtvolle Geschenke gegeben hatte, schickte er sie zu ihrer großen Zufriedenheit in ihre Heimat zurück, in der sie mit lautem Jubel empfangen wurden und dann noch lange in Lust und Freuden miteinander lebten.

Quelle:
Boccaccio, Giovanni: Das Dekameron. München 1964, S. 432-439.
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