Neunte Geschichte

[499] Guido Cavalcanti sagt einigen Florentiner Edelleuten, die ihn überrascht haben, in versteckter Weise die Wahrheit.


Als die Königin gewahr wurde, daß nunmehr, da Emilia ihrer Pflicht nachgekommen war, mit Ausnahme dessen, der das Vorrecht genoß, seine Geschichten bis zuletzt aufzusparen, nur ihr noch zu erzählen oblag, begann sie also zu sprechen:

Obgleich mir von euch, ihr anmutigen Mädchen, heute schon zwei oder mehr Geschichten weggenommen sind, von denen ich die eine oder andere zu erzählen gedachte, so ist mir doch eine übriggeblieben, deren Schluß ein bitteres Wort enthält, wie bis jetzt vielleicht noch keines von so tiefem Sinn mitgeteilt ward.

Ihr müßt nämlich wissen, daß vor Zeiten in unserer Stadt allerlei schöne und lobenswerte Gebräuche bestanden, von denen uns leider kein einziger geblieben ist, weil sie vom Geize, der sich bei uns mit den Reichtümern fortwährend gemehrt hat, einer nach dem andern vertrieben wurden. So war es unter anderm Sitte, daß in den verschiedenen Vierteln von Florenz die angesehenen Bürger der umliegenden Straßen sich versammelten und untereinander Gesellschaften von bestimmter Anzahl bildeten. Dabei hatte man acht, nur solche aufzunehmen, welche die Kosten füglich bestreiten konnten, und heute hielt der eine für die ganze Gesellschaft offene Tafel, morgen der andere, und so der Reihe nach weiter, daß jeden sein Tag traf. Häufig erwiesen sie bei diesen Zusammenkünften auch ausgezeichneten Fremden eine Ehre, wenn solche nach Florenz kamen, oder sie luden auch wohl Einheimische dazu. Auch hielten sie wenigstens einmal im Jahre, gleichförmig gekleidet, einen Umzug und ritten an den bedeutenden Festtagen gemeinsam durch die Stadt. Zuzeiten veranstalteten sie Waffenspiele, so namentlich an den Hauptfesten, oder wenn die Nachricht von einem Sieg oder sonst einem frohen Ereignis eingetroffen war.

Unter diesen Gesellschaften war auch die des Messer Betto Brunelleschi, und sowohl Messer Betto als auch seine Gefährten hatten sich vielfach und nicht ohne Grund bemüht, Guido, den Sohn des Messer Cavalcante de' Cavalcanti, zum Mitglied zu[500] gewinnen. Denn abgesehen davon, daß Guido einer der besten Denker auf der Welt und ein vorzüglicher Kenner der Naturphilosophie war – Eigenschaften, um welche diese Gesellschaft sich wenig bekümmerte –, galt er auch als ergötzlicher Gesellschafter von vorzüglichen Sitten und ausgezeichneter Redegabe, und was immer sich für einen Edelmann schickte, wußte er auch, wenn er es unternahm, besser zu machen als irgendein anderer. Dabei war er sehr reich, und wenn er sich überzeugt hatte, daß einer es wert sei, wußte er ihn mehr zu ehren, als sich mit Worten sagen läßt. Dem Messer Betto hatte es indes nie gelingen wollen, ihn für ihre Gesellschaften zu gewinnen, und er und seine Gefährten sahen den Grund dafür darin, daß Guido, nicht selten ganz in seine Gedanken vertieft, den Umgang mit Menschen mied. Und weil er sich ein wenig zu der Meinung der Epikuräer hingezogen fühlte, sagten die gemeinen Leute, all sein Nachdenken sei nur darauf gerichtet, zu beweisen, daß kein Gott sei.

Eines Tages war nun Guido von Orto San Michele ausgegangen, hatte den Corso degli Adimari, wie dies öfter sein Weg zu sein pflegte, bis San Giovanni verfolgt und weilte nun zwischen mehreren großen Marmorsärgen (deren einige jetzt in Santa Reparata sind, viele andere aber noch um San Giovanni stehen), zwischen den dort befindlichen Porphyrsäulen und der Pforte von San Giovanni, die damals verschlossen war. Da kam von ungefähr Messer Betto mit seiner Gesellschaft zu Pferde über den Platz der Santa Reparata, und wie sie den Guido unter jenen Grabmälern gewahr wurden, sagten sie zueinander: »Gehen wir, ihm ein wenig zuzusetzen.« Mit diesen Worten gaben sie ihren Pferden die Sporen und waren nach Art eines scherzhaften Überfalls um ihn her, fast ehe er sie bemerkt hatte. Darauf sagten sie zu ihm: »Guido, du verschmähst es, an unserer Gesellschaft teilzunehmen. Wenn du nun aber herausgebracht hast, daß kein Gott ist, was wirst du dann davon haben?«

Sofort antwortete Guido, der sich ganz von ihnen eingeschlossen sah: »Ihr Herren, hier, in eurem Hause, muß ich mir wohl gefallen lassen, daß ihr mir sagt, was euch gutdünkt.« Und mit diesen Worten stützte er die Hand auf eines jener[501] Grabmäler von beträchtlicher Größe, und leicht wie er war, schwang er sich mit einem Satz auf die andere Seite und eilte, ihnen so entschlüpft, schnell von dannen.

Die Zurückgebliebenen sahen eine Weile einer den andern an und meinten, Guido müsse wohl nicht recht bei sich gewesen sein, denn was er ihnen da geantwortet habe, komme auf gar nichts heraus. Wo sie jetzt eben seien, hätten sie ja kein Haar mehr zu sagen als alle andern Bürger und Guido nicht weniger als irgendeiner von ihnen. Messer Betto aber wandte sich zu ihnen und sagte: »Ihr seid es, die nicht recht bei sich sind, wenn ihr ihn nicht verstanden habt. Denn in wenig Worten und ohne den Anstand zu verletzen, hat er uns die größte Grobheit von der Welt gesagt. Diese Grabmäler sind ja, wenn ihr wohl aufmerken wollt, die Häuser der Toten; denn in sie legt man die Toten und in ihnen weilen sie. Diese nun nennt er unsere Wohnung, um anzudeuten, daß wir und alle andern ungelehrten und unwissenden Leute im Vergleich mit ihm und den übrigen Gelehrten für geringer als Tote zu achten sind. Darum sagte er, wenn wir uns hier befänden, seien wir zu Hause.«

Nun erst verstand ein jeder, was Guido hatte sagen wollen, und so beschämt fielen sie ihm nie mehr zur Last. Den Messer Betto aber hielten sie in Zukunft für einen einsichtigen und klugen Edelmann.

Quelle:
Boccaccio, Giovanni: Das Dekameron. München 1964, S. 499-502.
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