Achte Geschichte

[363] Girolamo liebt Salvestra. Die Bitten seiner Mutter nötigen ihn, nach Paris zu gehen, und als er zurückkommt, findet er seine Geliebte verheiratet. Er schleicht sich verstohlen in ihr Haus und stirbt an ihrer Seite. Die Leiche wird in eine Kirche getragen, und Salvestra sinkt tot neben ihr nieder.


Die Geschichte der Emilia war zu Ende gediehen, als Neifile auf Befehl des Königs also begann:

Nach meinem Dafürhalten, ihr werten Damen, gibt es Leute, die sich zwar größere Klugheit als allen andern zuschreiben, in der Tat aber deren weniger besitzen. Darum sind sie denn übermütig genug, nicht allein menschlichen Ratschlägen, sondern auch dem natürlichen Lauf der Dinge ihre Weisheit entgegenzusetzen, woraus schon öfter die schlimmsten Übel erwuchsen, niemals aber das mindeste Gute erfolgt ist. Weil nun aber die Liebe noch weniger als alle übrigen Naturtriebe sich durch Rat und Widerstreben beherrschen läßt und ihrem Wesen nach sich eher in sich selbst verzehrt als durch menschliche Vorkehrungen vertilgt werden kann, bin ich gesonnen, euch von einer Frau zu erzählen, die, während sie weiser sein wollte, als sie war und als es sich für sie schickte, ja weiser, als es sich mit der Angelegenheit vertrug, in der sie ihren Scharfsinn zu zeigen gedachte, statt dem verliebten Herzen die Liebe zu entreißen, welche vielleicht die Sterne darein gesät hatten, nur das erlangte, daß sie Liebe und Leben zugleich aus dem Körper ihres Sohnes vertrieb.

In unserer Stadt lebte, wie die Bejahrteren uns erzählen, vor Zeiten ein großer und sehr begüterter Kaufmann namens Leonardo Sighieri, der bald, nachdem seine Frau ihm einen Knaben geboren hatte, welcher Girolamo genannt wurde, seine letzten Verfügungen traf und aus der Welt ging. Die Vormunde des Kindes verwalteten in Gemeinschaft mit dessen Mutter seine Angelegenheiten treu und redlich. Der Knabe wuchs mit den Kindern der Nachbarn auf; mit keinem von der Straße, in welcher sie wohnten, wurde er aber so vertraut wie mit einem Mädchen seines Alters, der Tochter eines Schneiders. Als[364] nun beide an Alter zunahmen, verwandelte sich die Gewohnheit des Umgangs in so große und heftige Liebe, daß Girolamo sich nur so lange wohlfühlte, als er das Mädchen sah. Auf der andern Seite liebte auch sie ihn gewiß nicht minder, als sie von ihm geliebt ward.

Sobald die Mutter des Knaben diese Neigung bemerkt hatte, schalt und züchtigte sie ihn deshalb oft. Als aber Girolamo es doch nicht lassen konnte, beschwerte sie sich bei den Vormunden darüber und sagte zu ihnen in der törichten Meinung, bei dem großen Reichtum ihres Sohnes könne sie einen Mohren weiß waschen: »Unser Girolamo ist kaum erst vierzehn Jahre alt und hat sich in eine Schneiderstochter aus unserer Nachbarschaft, die Salvestra heißt, schon so verliebt, daß ich immer fürchte, wenn wir sie ihm nicht aus den Augen bringen, nimmt er sie einmal ohne jemandes Vorwissen sich zur Frau und betrübt mich dadurch mein ganzes Leben lang. Sieht er sie dagegen an einen andern verheiratet, so wird er sich um ihretwillen ganz verzehren. Und so dächte ich, ihr tätet gut daran, wenn ihr ihn, um beides zu vermeiden, in den Angelegenheiten des Handelshauses nach irgendeinem entlegenen Ort schicktet. Entbehrt er ihren Anblick, so wird er sie sich schon aus dem Sinne schlagen, und dann können wir ihm ein Mädchen von guter Abkunft zur Frau geben.«

Die Vormunde billigten die Rede der Mutter und versprachen, nach ihren Kräften so zu handeln. Sie ließen daher den Knaben zu sich in das Gewölbe rufen, und einer unter ihnen sprach gar freundlich zu ihm: »Mein Sohn, du fängst nachgerade an, groß zu werden, und da ziemt es sich, daß du selbst lernst, in deinen Angelegenheiten nach dem Rechten zu sehen. Deshalb wäre es uns denn sehr lieb, wenn du eine Zeitlang in Paris verweilen wolltest, wo du einen großen Teil deiner Reichtümer wirst umsetzen sehen. Überdies wirst du dort bessere Gelegenheit haben, dich auszubilden und gute Sitte und feines Betragen zu lernen, als hier, wenn du die großen Herren, die Barone und Edelleute beobachtest, die dort besonders zahlreich sind. Hast du alsdann dir ihre Sitten zu eigen gemacht, so magst du wieder hierher zurückkehren.«

Der Knabe war der Rede aufmerksam gefolgt, antwortete[365] nun aber mit wenig Worten, er wolle von alldem nichts tun, denn er denke, so gut wie ein anderer, in Florenz bleiben zu können. Die guten Leute erklärten ihm zwar ausführlich, warum sie seine Antwort mißbilligten; da sie indes keine andere aus ihm herausbringen konnten, erstatteten sie der Mutter über alles Bericht. Diese sagte ihm dann in heftigem Zorne, nicht so sehr wegen seiner Weigerung, nach Paris zu gehen, als vielmehr über seine Liebschaft, harte Worte. Dann aber suchte sie ihn durch freundlichere Reden wieder zu gewinnen und schmeichelte und bat ihn auf das zärtlichste, daß er ihr zu Gefallen tun möge, was seine Vormunde verlangten. In der Tat wußte sie ihm so viel vorzureden, daß er sich bereit erklärte, auf ein Jahr, aber nicht länger, nach Paris zu gehen.

So reiste Girolamo denn ab. Als er aber, seine heftige Liebe im Herzen tragend, in Paris angelangt war, wurde er von einem Tage zum andern so lange hingehalten, bis zwei Jahre verstrichen waren. Endlich, verliebter denn je zuvor nach Florenz heimgekehrt, fand er seine Salvestra an einen ehrlichen Bürgersmann verheiratet, der ein Zeltmacher war, und er grämte sich deshalb über die Maßen. Da er indes einsah, daß die Sache nun doch nicht mehr zu ändern sei, suchte er für seinen Gram auf andere Weise Trost zu gewinnen. Zu diesem Zweck erfragte er ihre Wohnung und ging alsdann nach Art der verliebten Jünglinge häufig vor ihrem Hause vorüber; denn er dachte nicht anders, als sie werde ihn ebensowenig vergessen haben, wie er sie. Doch verhielt es sich damit ganz anders. Sie gedachte seiner nicht mehr, als ob sie ihn nie gesehen hätte, und wenn sie sich ja noch einigermaßen an ihn erinnerte, so drückte sich wenigstens in ihrem Benehmen das Gegenteil aus. Girolamo wurde dies in kurzer Zeit gewahr und betrübte sich sehr darüber. Dennoch tat er, was er nur konnte, um ihre Neigung wiederzugewinnen, und als alles ihm nichts zu fruchten schien, beschloß er, und wenn es sein Leben kostete, wenigstens noch einmal mit ihr zu reden.

Nachdem er sich in dieser Absicht von einem Nachbarn das Innere ihres Hauses genau hatte beschreiben lassen, schlich er sich eines Abends, als sie mit ihrem Manne in die Nachbarschaft gegangen war, heimlich hinein und versteckte sich in[366] ihrem Schlafzimmer hinter einigen Stücken Zeltleinwand, die dort ausgebreitet waren. Hier wartete er, bis sie zurückkamen und zu Bett gingen und er den Mann schlafen hörte. Dann trat er an die Seite des Bettes, wo er Salvestra sich hatte niederlegen sehen, legte ihr die Hand auf die Brust und sagte leise: »Liebes Herz, schläfst du schon?« Das junge Weib wachte noch und war im Begriff zu schreien. Er aber sagte hastig: »Schreie nicht, um Himmels willen, ich bin ja dein Girolamo.« Darauf erwiderte sie heftig zitternd: »Um Gottes willen, Girolamo, geh wieder fort. Die Zeit ist jetzt vorbei, wo wir als Kinder ineinander verliebt sein durften. Ich bin, wie du siehst, verheiratet, und da wäre es ja eine Schande, wollte ich mich mit einem andern einlassen als mit meinem Manne. Darum bitte ich dich um Gottes Barmherzigkeit willen, daß du fortgehst; denn hörte dich mein Gatte, so wäre, selbst wenn kein anderes Unglück daraus entstünde, doch die Folge, daß ich mein Leben lang nicht wieder in Ruh und Frieden mit ihm leben könnte, während ich jetzt, weil er mich liebhat, glücklich und zufrieden bin.«

Der Jüngling, der sich über diese Rede heftig betrübte, erinnerte sie an die vergangene Zeit und an seine Liebe, die sich auch in der Ferne niemals verringert habe, bestürmte sie mit Bitten und den größten Versprechungen, konnte aber dessenungeachtet nichts von ihr erlangen. Da bat er sie denn endlich, weil er sich nichts mehr wünschte als den Tod, daß sie ihm zum Lohn für so große Liebe weiter nichts gestatten möge, als daß er sich so lange neben ihr niederlegen dürfe, bis er sich ein wenig erwärmt hätte, denn er sei während der Zeit, da er auf sie gewartet habe, vor Kälte völlig erstarrt. Er versprach dabei, weder ein Wort zu reden noch sie anzurühren, sondern zu gehen, sobald er wieder einigermaßen warm geworden wäre. Salvestra fühlte doch ein wenig Mitleid mit ihm und gestattete das Erbetene unter den Bedingungen, die er sich auferlegt hatte. Der Jüngling legte sich also neben ihr nieder und berührte sie nicht, sondern richtete alle Gedanken auf seine lange Ausdauer in der Liebe zu ihr, auf ihre gegenwärtige Grausamkeit und seine vernichteten Hoffnungen und beschloß, nicht mehr leben zu wollen. Und so hielt er die Lebensgeister an, preßte die[367] Hände zusammen und starb, ohne einen Laut von sich zu geben, an ihrer Seite.

Die junge Frau wunderte sich inzwischen über seine Enthaltsamkeit und sagte nach einer Weile aus Besorgnis, daß ihr Mann aufwachen möchte: »Nun, Girolamo, warum gehst du denn noch nicht?« Da sie keine Antwort erhielt, glaubte sie, er möchte eingeschlafen sein, und streckte die Hand nach ihm aus und begann ihn zu rütteln, daß er aufwachen sollte. Als sie aber bei der Berührung fühlte, daß er kalt wie Eis war, verwunderte sie sich sehr, und wie er bei abermaligem stärkerem Anfassen sich nicht bewegte, er kannte sie nach öfter wiederholten Versuchen, daß er tot war.

Voller Schrecken darüber wußte sie geraume Zeit lang durchaus nicht, was sie nun tun sollte, bis sie sich endlich entschloß, ihren Mann dadurch über den Vorfall auszuforschen, daß sie ihm denselben unter erfundenen Namen vortrug. Sie weckte ihn daher, erzählte ihm, was soeben hier geschehen war, als habe es sich im Hause eines anderen zugetragen, und fragte ihn alsdann, was er beschlösse, wenn ihm dasselbe begegnete. Der gute Mann erwiderte, seinem Dafürhalten nach müsse man in einem solchen Fall den toten Körper in aller Stille bis zu seiner Wohnung zurücktragen und ihn dort liegenlassen, ohne fernerhin der Frau, die ihm nicht gefehlt zu haben scheine, Groll nachzutragen. »Nun«, entgegnete die junge Frau, »so laß uns denn dasselbe tun.« Und damit nahm sie seine Hand und ließ ihn den toten Jüngling anfühlen. Ganz erschrocken über diesen Vorfall stand der Mann auf und zündete Licht an. Dann bekleidete er, ohne mit der Frau, der ihre Unschuld zu Hilfe kam, weiter über die Sache zu reden, die Leiche mit des Verstorbenen eigenen Kleidern, nahm sie alsbald auf die Schultern und trug sie bis an die Tür des Hauses, das Girolamo bewohnt hatte, wo er sie niederlegte.

Als darauf der Tag anbrach und der Tote vor der Pforte seines eigenen Hauses gefunden wurde, erhoben alle, besonders aber die Mutter, ein großes Wehklagen. Man untersuchte und besichtigte den ganzen Körper. Da sich aber keine Wunde und keine Quetschung fand, erklärten die Ärzte sämtlich, er müsse, wie es wirklich war, vor Gram gestorben sein. Nachdem man[368] die Leiche von dort hinweggenommen und in eine Kirche gebracht hatte, kam die betrübte Mutter mit vielen andern verwandten und benachbarten Frauen, und sie beweinten und beklagten nach der Sitte unserer Stadt den Verstorbenen gemeinsam mit unzähligen Tränen.

Während nun diese Wehklagen mit voller Heftigkeit anhielten, sagte der gute Mann, in dessen Hause sich der Todesfall zugetragen hatte, zu Salvestra: »Du könntest doch einmal einen Mantel umnehmen und in die Kirche gehen, wo sie den Girolamo hingebracht haben. Stelle du dich unter die Frauen und merke auf, was über den Vorfall geredet wird. Ich werde dasselbe unter den Männern tun, damit wir erfahren, ob die Leute über uns etwas sagen.« Der jungen Frau, bei der das Mitleid etwas spät gekommen war, gefiel der Vorschlag, da sie den Jüngling, den sie zu seinen Lebzeiten nicht mit einem einzigen Kusse hatte erfreuen wollen, nun, da er tot war, zu sehen wünschte, und so ging sie hin.

Wunderbar ist es, wenn man bedenkt, wie schwer die Gewalt der Liebe zu erforschen ist. Dasselbe Herz, das sich dem Glück des Girolamo nicht hatte auftun wollen, ward nun von dessen Unglück erweicht. Alle die alten Flammen erwachten plötzlich aufs neue und verwandelten sich beim Anblick des toten Angesichts in solches Mitleid, daß Salvestra sich ganz mit dem Mantel verhüllte und zwischen den umstehenden Frauen sich so lange vordrängte, bis sie zur Leiche gelangt war. Hier fiel sie mit einem lauten Schrei auf das Gesicht des toten Jünglings nieder, badete es aber nicht mit Tränen; denn sie hatte es kaum berührt, als der Schmerz ihr das Leben nahm, wie er dem Girolamo früher das seine genommen hatte. Die Frauen sprachen ihr, ohne sie erkannt zu haben, Trost zu und forderten sie auf, sich ein wenig zu erheben; sie aber richtete sich nicht auf. Da wollten jene sie mit Gewalt emporheben, und erst als sie sie unbeweglich fanden, erkannten sie zugleich, daß sie Salvestra und tot war.

Von doppeltem Mitleid über diesen neuen Unfall ergriffen, erhoben alle anwesenden Frauen nun ein noch viel größeres Wehklagen als zuvor. Dadurch verbreitete sich die Nachricht bis vor die Kirche, wo die Männer standen, und als sie zu den[369] Ohren von Salvestras Gatten gelangte, der sich unter jenen befand, weinte er lange, ohne von jemand Trost oder Zuspruch annehmen zu wollen. Dann aber erzählte et vielen Anwesenden den Vorfall, der sich in der vergangenen Nacht zwischen dem jungen Manne und seiner Frau zugetragen hatte, wodurch allen die Todesursache des ersteren offenbar und ihr Leidwesen noch um vieles vermehrt ward. Der Körper der jungen Frau wurde geschmückt, wie man die Toten zu schmücken pflegt, alsdann auf dasselbe Bett neben den Jüngling gelegt und endlich beide, nachdem sie lange in jener Kirche beweint worden waren, im selben Grabe beigesetzt. Die also die Liebe im Leben nicht hatte vereinigen können, verband nun der Tod mit unzertrennlichen Banden.

Quelle:
Boccaccio, Giovanni: Das Dekameron. München 1964, S. 363-370.
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