9.

[101] Mirza-Schaffy singt:


Worin besteht der ganze Unterschied

Wohl zwischen mir und unserm Muschtahid?
[101]

Wir beide suchen vor dem Volk durch Predigen

Uns überflüssiger Weisheit zu entledigen,

Ich singend – er mit näselndem Gekreische,

Das Herz sitzt ihm so tief im dicken Fleische,

Daß nie vom Herzen trat etwas zutage –

Derweil ich mein Herz auf der Zunge trage.


Auf seinen kurzen Beinen wackelt er

Ernst wie ein alter Gänserich einher;

Und keucht, als müßt' er nebst dem vollen Magen

Die Sündenlast der ganzen Menschheit tragen.


Ich wandle ganz leichtfüßig durch die Straße;

Er seufzt und flucht – ich lächle und ich spaße.


Er liebt's, mich im geheimen durchzuhecheln,

Ich aber nehm' ihn öffentlich aufs Korn,

Und er hat weit mehr Furcht vor meinem Lächeln,

Als ich je Furcht gehabt vor seinem Zorn.


Quelle:
Friedrich von Bodenstedt: Die Lieder des Mirza-Schaffy von Friedrich von Bodenstedt, Leipzig [1924], S. 101-102.
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