14.

[44] Wir saßen noch spät beisammen,

Der alte Wirt und ich;

Des Weines heilige Flammen

Ergossen sich über mich;

Die reine Glut der Jugend

Mir wiederzugeben schien er –

Nie fühlt ich so die Tugend

Des roten Kachetiner.

Ich konnt' im süßen Drang

Nur immer schlürfen und nippen,

Es wurden zu Gesang

Die Worte meiner Lippen;

Wie Adam vor dem Falle,

So schwamm ich in Entzücken

Und wünschte, ich könnte alle

Auf Erden mitbeglücken.


Sprach ich zum Wirt: Ich wollte,

Ich könnte in Wein zerfließen!

Mein flüssiger Körper sollte

Ins Weltmeer sich ergießen!

Und sollt' es mit Weisheit würzen,

Dann sollte ins Meer zu den Fischen

Die ganze Welt sich stürzen:

Die Schulen und Moscheen,

Die Heiligen, die Wunder,

Die alle darin zu sehn,

Der ganze alte Plunder,

Der sollte untergehn![45]

Ich wollte alles auf Erden

Befreien aus seiner Haft,

Es sollte zu Wasser werden

Die ganze Wissenschaft –

Sie sollte untergehen

Und wieder auferstehen

In neuer Glut und Kraft!


O laß, Mirza-Schaffy!

– So sprach der alte Weinwirt –

Laß deine Phantasie,

Und bis dein Leib zu Wein wird,

Bis deine Glieder zerfließen,

Zu würzen des Weltmeers Flut:

Laß sich in dich ergießen

Des Weines heilige Glut!

Laß alle frommen Toren

In Nüchternheit versinken;

Kein Tropfen geht verloren

Von dem, was Weise trinken!


Quelle:
Friedrich von Bodenstedt: Die Lieder des Mirza-Schaffy von Friedrich von Bodenstedt, Leipzig [1924], S. 44-46.
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