2.

[36] Mein Lehrer ist Hafis, mein Bethaus ist die Schenke,

Ich liebe gute Menschen und stärkende Getränke;

Drum bin ich wohlgelitten in den Kreisen

Der Zecher, und sie nennen mich den Weisen,[36]

Komm ich – da kommt der Weise! sagen sie;

Geh ich – schon geht der Weise! klagen sie;

Fehl ich – wo steckt der Weise? fragen sie!

Bleib ich – in lust'ger Weise schlagen sie

Laut Glas an Glas. Drum bitt' ich Gott den Herrn,

Daß er stets Herz und Fuß die rechten Pfade lenke,

Weit ab von der Moschee und allen Bonzen fern

Mein Herz zur Liebe führe und meinen Fuß zur Schenke;

Daß ich dem Wahn der Menschen und ihrer Dummheit ferne

Das Rätsel meines Daseins im Becher Weins ergründe,

Am Wuchse der Geliebten das All umfassen lerne,

An ihrer Augen Glut zur Andacht mich entzünde.

Oh, wonniges Empfinden! Oh, Andacht ohne Namen!

Wenn Kolchis' Feuerwein mir Mark und Blut durchdrungen,

Ich die Geliebte halte und sie hält mich umschlungen,

Beseligt und beseligend – so möcht' ich sterben! Amen.


Quelle:
Friedrich von Bodenstedt: Die Lieder des Mirza-Schaffy von Friedrich von Bodenstedt, Leipzig [1924], S. 36-37.
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