6.

[83] Was ist doch Mirza-Jussuf ein vielbeles'ner Mann!

Bald liest er den Hafis, bald liest er den Koran,

Bald Oschami und Chakani und bald den Gulistan.

Hier stiehlt er sich ein Bild und eine Blume dort,

Hier einen schönen Gedanken und dort ein schönes Wort.

Was schon geschaffen ist, das schafft er wieder um,

Die ganze Welt setzt er in seine Lieder um

Und hängt zu eignem Schmuck fremdes Gefieder um.

Damit macht er sich breit und nennt das Poesie.


Wie anders dichtet doch und lebt Mirza-Schaffy!

Ein Leuchtstern ist sein Herz, ein Garten seine Brust,

Wo alles glüht und duftet von frischer Blütenlust.

Und bei des eignen Schaffens unwüchsiger Gewöhnung

Vergißt er auch den Klang, die Formvollendung nicht;

Doch übersieht er ob der Reime süßer Tönung

Des Dichters eigentliche, erhabne Sendung nicht.

Den Mangel an Gehalt ersetzt ihm die Verschönung

Des Lieds durch Blumenschmuck und seine Wendung nicht.

Für Schlechtes und Gemeines bekehrt ihn zur Versöhnung

Des Wortes Flitterstaat, die Form und Endung nicht.


Quelle:
Friedrich von Bodenstedt: Die Lieder des Mirza-Schaffy von Friedrich von Bodenstedt, Leipzig [1924], S. 83.
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