21.


Die Geschichte von der schönen Chanin Fatme

[75] Es schaute aus üppigem Frauengemach

Die schöne Chanin den Hof entlang,

Wo unter schattigem Blätterdach[75]

Aus Marmor hoch die Fontäne sprang –

Es war unter allen Haremsfrauen

So schön wie Fatme keine zu schauen:

Das Auge so groß, so klein der Mund,

Der Wuchs so schlank, der Arm so rund –

Wer sie sah, blieb im Zauber verloren,

Sie war zum Bezaubern geboren.


Urplötzlich ein Schrei ihren Lippen entfuhr

Und das Auge war wie umnachtet:

Sie sah, wie unten im Hausesflur

Ein Sklav' ein Lämmlein schlachtet –

Die Chanin stand in Tränen zerflossen,

Als würde ihr eignes Herzblut vergossen.


Und wie sie noch so wehmutsvoll

Für das arme Lämmlein litt, –

Mit gekreuzten Armen und demutsvoll

Zu ihr eine Sklavin tritt.

»Hat das Gift gewirkt?« fragte Fatme schnell –

Die Sklavin nickt und zittert –

Doch der Chanin Auge blickt wieder hell:


»Der hab' ich die Freude verbittert!

Nun mag er sich winden und grämen,

Ich will mich der Tat nicht schämen!

Selbst lieber wollt' ich tot sein,

Als von solcher Buhlin bedroht sein,

Warum hat er sie hergebracht,

Daß sie mein Glück verscheuchte –

Ich will, daß in der Haremsnacht

Nur ein Gestirn ihm leuchte!"
[76]

Und sie wischt aus dem Auge die Träne,

Blickt rachegesättigt und munter

In den schattigen Hofraum hinunter.

Im Hofe springt die Fontäne

Und wirft ihren blitzenden Silberstaub

Bis hoch an der Bäume grünes Laub.


Es lag so schwül und schwer in der Luft,

Von ferne zog ein Gewitter her –

Aus den Bäumen weht es wie Grabesduft,

Und auch der Chanin ward schwül und schwer.

Sie wankte dem weichen Lager zu,

Sie suchte Ruh und fand nicht Ruh.


Sie barg in den Polstern ihr heiß' Gesicht,

Sie wollte schlafen und konnte nicht.


Quelle:
Friedrich von Bodenstedt: Die Lieder des Mirza-Schaffy von Friedrich von Bodenstedt, Leipzig [1924], S. 75-77.
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