1.


Frage und Antwort

[106] »Du hast so oft uns schon gesungen,

Wie deiner Liebsten Wangen sind,

Wie Blumen, frisch im Lenz entsprungen,

Voll Lust und Blütenprangen sind –

Warum ist nie dein Lied erklungen

Von Zeiten, die vergangen sind?


Auch Helden deines Stammes waren

An Ruhm und hohen Ehren reich;

Es herrschten Fürsten der Tataren

Einst über alles Russenreich;

Der Tatarchan gebot den Zaren

Und machte sie den Sklaven gleich.


Er flog auf hohem Ruhmesflügel

Bis zu des großen Meeres Strand –

Stieg er zu Roß, hielt ihm den Bügel

Der Russenfürst mit eigner Hand

Und reicht' ihm demutvoll den Zügel

Und küßte knieend sein Gewand.


Wohl ziemt's der Goldnen Horde Sohn,

Der Väter Tat im Lied zu ehren

Und mit des alten Ruhmes Ton

Zu wecken neues Ruhmbegehren!"[106]

Ich sprach: Die alten Sagen melden

Von großen und von kleinen Helden,

Die weithin mit der Goldnen Horde

Gestreift zu großem Menschenmorde.


Es drückt ein Volk das andre nieder

Und schwelgt in Siegesruhm und Glück –

Das andre Volk erhebt sich wieder,

Gibt die erlittne Schmach zurück –

So ist's in alter Zeit geschehn,

So kann man's jetzt und immer sehn;

Das ist kein Stoff für meine Lieder.


Erst machte sich der Tatarchan

Das Volk der Russen untertan,

Dann rächten sich die Russenscharen

Und unterjochten die Tataren;

Sie haben ihren Lohn dahin!

Was schert es mich, ob Volk und Fürsten

Nach Kriegesruhm und Beute dürsten,

Solch Tun ist nicht nach meinem Sinn.


Ein jeder bleib in seinem Kreise,

Und jeder tu nach seiner Weise.

Ich singe nur, was mir gefällt.

Und davon gibt es in der Welt

So viel, daß ich mich allezeit

Von dieser Fülle nähren kann

Und füglich die Vergangenheit

Mit ihrem Glanz entbehren kann.


Quelle:
Friedrich von Bodenstedt: Die Lieder des Mirza-Schaffy von Friedrich von Bodenstedt, Leipzig [1924], S. 106-107.
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