15. Wohin, und wie lang

[94] Drey Jahre hatte ich so meine Heerde gehütet; sie ward immer grösser, zuletzt über 100. Köpf, mir immer lieber, und ich ihnen. Im Herbst und Frühling fuhren wir auf die benachbarten Berge, oft bis zwey Stunden weit. Im Sommer hingegen durft' ich nirgends hüten, als im Kohlwald; eine mehr als Stund weite Wüsteney, wo kein recht Stück Vieh waiden kann. Dann gieng's zur[94] Aueralp, zum Kloster St. Maria gehörig, lauter Wald, oder dann Kohlplätz und Gesträuch; manches dunkle Tobel und steile Felswand, an denen noch die beßte Geißweid zu finden war. Von unserm Dreyschlatt weg hatt' ich alle Morgen eine Stund Wegs zu fahren, eh' ich nur ein Thier durfte anbeissen lassen; erst durch unsre Viehwaid, dann durch einen grossen Wald, u.s.f.u.f. in die Kreutz und Querre, bald durch diese, bald durch jene Abtheilung der Gegend, deren jede ich mit einem eigenen Namen taufte. Da hieß es, im vordern Boden; dort, zwischen den Felsen; hier in der Weißlauwe, dort im Köllermelch, auf der Blatten, im Kessel, u.s.f. Alle Tage hütete ich an einem andern Ort, bald sonnen-, bald schattenhalb. Zu Mittag aß ich mein Brödtlin, und was mir sonst etwa die Mutter verstohlen mitgab. Auch hatt' ich meine eigne Geiß, an der ich sog. Die Geißaugen waren meine Uhr. Gegen Abend fuhr ich immer wieder den nämlichen Weg nach Haus, auf dem ich gekommen war.

Quelle:
Leben und Schriften Ulrich Bräkers, des Armen Mannes im Tockenburg. Bd. 1–3, Band 1, Basel 1945, S. 94-95.
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