20. Neue sonderbare Gemüthslage, und End des Hirtenstands

[106] Daheim durft' ich nichts merken lassen von dem, was ich bey diesen Cameraden sah' und hörte: genoß aber nicht mehr meine vorige Fröhlichkeit und Gemütsruhe. Die Kerls hatten Leidenschaften in mir rege gemacht, die ich noch selbst nicht kannte – und doch merkte, daß es nicht richtig stuhnd. Im Herbst, wo die Fahrt frey war, hütete ich meist allein; trug ein Büchlein, das mir bloß darum jetzt noch lieb ist, bey mir, und las oft darinn. Noch weiß ich verschiedene sonderbare Stellen auswendig, die mich damals bis zu Thränen rührten. Jetzt kamen mir die bösen Neigungen in meinem Busen abscheulich vor, und machten mir angst und bang. Ich betete, rang die Hände, sah zum Himmel, bis mir die hellen Thränen über die Backen rollten; faßte einen Vorsatz über den andern, und machte mir so strenge Pläne für ein künftiges frommes Leben, daß ich darüber allen[106] Frohmuth verlor. Ich versagte mir alle Arten von Freude, und hatte z.E. lang einen ernstlichen Kampf mit mir selber wegen einem Distelfink der mir sehr lieb war, ob ich ihn weggeben oder behalten sollte? Über diesen einzigen Vogel dacht' ich oft weit und breit herum. Bald kam mir die Frommkeit, wie ich mir solche damals vorstellte, als ein unersteiglicher Berg, bald wieder federleicht vor. Meine Geschwister mocht' ich herzlich lieben; aber je mehr ich's wollte, je mehr sah ich Widriges an ihnen. In Kurzem wußt' ich weder Anfang noch End mehr; und niemand war der mir heraushelfen konnte, da ich meine Lage keiner Menschenseele entdeckte. Ich machte mir alles zur Sünde: Lachen, Jauchzen und Pfeifen per se. Meine Gaißen sollten mich nicht mehr erzörnen dürfen – und ich ward eher böser auf sie. Eines Tags bracht' ich einen todten Vogel nach Haus, den ein Mann geschossen, und auf einem Stecken in die Wiese aufgesteckt hatte: Ich nahm ihn, wie ich in dem Augenblick wähnte, mit gutem Gewissen weg; ohne Zweifel weil mir seine zierliche Federn vorzüglich wohl gefielen. Aber, sobald mir der Vater sagte; Das heisse auch gestohlen, waint' ich bitterlich – und hatte dießmal recht – und trug das Aeschen Morgens darauf in aller Frühe wieder an sein Ort. Doch behielt ich etliche von den schönsten Federn; aber auch dieses kostete mich noch ziemlich Überwindung. Doch dacht' ich: Die Federn sind nun ausgerupft; wenn du's schon auch hinträgst, so verblast sie der Wind; und dem Mann nützen sie so nichts. – Bisweilen fieng ich wieder an zu jauchzen und zu jolen, und trollte aufs neue sorglos über alle[107] Berge. Dann dacht' ich: So Alles Alles verläugnen, bis auf meine selbstgeschnitzelten hölzernen Kühe – wie ich mir damals den rechten Christensinn ganz buchstäblich vorstellte – sey doch ein traurig elendes Ding. Indessen wurde der Kohlwald von den immer zunehmenden Gaissen übertrieben; die Rosse die man auf den fettern Grasplätzen waiden ließ, bisweilen von den Gaissenbuben verfolgt, gesprengt u.d.g. Einmal legten die Bursche ihnen Nesseln unter die Schwänze; ein Paar stürzten sich im Lauf über einen Felsen zu tod. Es gab schwere Händel, und das Hüthen im Kohlwald wurde gänzlich verboten. Ich hüthete darauf noch eine Weile auf unserm eignen Gut. Dann löste mich mein Bruder ab. Und so nahm mein Hirtenstand ein Ende.

Quelle:
Leben und Schriften Ulrich Bräkers, des Armen Mannes im Tockenburg. Bd. 1–3, Band 1, Basel 1945, S. 106-108.
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