22. O der unseligen Wißbegierde

[111] Ich bin in meinen Kinderjahren nur wenige Wochen in die Schule gegangen; bey Haus hingegen mangelte es mir gar nicht an Lust, mich in mancherley unterweisen zu lassen. Das Auswendiglernen gab mir wenig Müh: Besonders übt' ich mich fleißig in der Bibel; konnte viele darinn enthaltene Geschichten aus dem Stegreif erzählen, und gab sonst überhaupt auf alles Achtung,[111] was mein Wissen vermehren konnte. Mein Vater las' auch gern etwas Historisches oder Mystisches. Gerad um diese Zeit gieng ein Buch aus, der flüchtige Pater genannt. Er und unser Nachbar Hans vertrieben sich manche liebe Stunde damit, und glaubten an den darinn prophezeyten Fall des Antichrists, und die dem End der Welt vorgehnden nahen Strafgerichte, wie an's Evangelium. Auch Ich las viel darinn; predigte etlichen unsrer Nachbarn mit einer ängstlich andächtigen Miene, die Hand vor die Stirn gestemmt, halbe Abende aus dem Pater vor, und gab ihnen alles vor baare Münz aus; und dieß nach meiner eignen völligsten Ueberzeugung. Mir stieg nur kein Gedanke auf, daß ein Mensch ein Buch schreiben könnte, worinn nicht alles pur lautere Wahrheit wäre; und da mein Vater und der Hans nicht daran zweifelten, schien mir alles vollends Ja und Amen zu seyn. Aber das brachte mich dann eben auf allerley jammerhafte Vorstellungen. Ich wollte mich gern auf den bevorstehnden Jüngsten Tag recht zubereiten; allein da fand ich entsetzliche Schwierigkeiten, nicht so fast in einem bösen Thun und Lassen, als in meinem oft argen Sinn und Denken. Dann wollt ich mir wieder Alles aus dem Kopf schlagen; aber vergebens, wenn ich zumal unterweilen auch in der Offenbarung Johannis oder im Propheten Daniel las, so schien mir alles das, was der Pater schrieb, vollends gewiß und unfehlbar. Und was das Schlimmste war, so verlor ich ob dieser Ueberzeugung gar alle Freud' und Muth. Wenn ich dann im Gegentheil den Aeti und den Nachbar fast noch fröhlicher sah als zuvor, machte[112] mich solches gar confus; und kann ich mir's noch itzund nicht erklären, wie das zugieng. So viel weiß ich wohl, sie steckten damals beyde in schweren Schulden, und hoften vielleicht durch das End der Welt davon befreyt zu werden: Wenigstens hört' ich sie oft vom Neufunden Land, Carolina, Pensylvani und Virgini sprechen; ein andermal überhaupt von einer Flucht, vom Auszug aus Babel, von den Reisekosten u. dgl. Da spitzt ich dann die Ohren wie ein Haas. Einmal, erinnr' ich mich, fiel mir wirklich ein gedrucktes Blatt in die Hände, das einer von ihnen auf dem Tisch liegen ließ, und welches Nachrichten von jenen Gegenden enthielt. Das las' ich wohl hundertmal; mein Herz hüpfte mir im Leib bey dem Gedanken an dieß herrliche Canaan, wie ich mir's vorstellte. Ach! wenn wir nur alle schon da wären, dacht' ich dann. Aber die guten Männer, denk' ich, wußten eben so wenig als ich, weder Steg noch Weg; und wahrscheinlich noch minder, wo das Geld herzunehmen. Also blieb das schöne Abentheur stecken, und entschlief nach und nach von selbst. Indessen las ich immer fleißig in der Bibel; doch noch mehr in meinem Pater, und andern Büchern; unter anderm in dem sogenannten Pantli Karrer, und dann in dem weltlichen Liederbuch, dessen Titel mir entfallen ist. Sonst vergaß ich, was ich gelesen, nicht so bald. Allein mein unruhiges Wesen nahm dabey sichtbarlich zu, so sehr ich mich auf mancherley Weise zu zerstreuen suchte; und, was das Schlimmste war, so hat ich das Herz nie, dem Pfarrer, oder auch nur dem Vater hievon das Mindeste zu offenbaren.[113]

Quelle:
Leben und Schriften Ulrich Bräkers, des Armen Mannes im Tockenburg. Bd. 1–3, Band 1, Basel 1945, S. 111-114.
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