23. Unterweisung
(1752.)

[114] Indessen wundert' es mich doch bisweilen sehr, wie mein Vater und der Pfarrer von diesem und jenem Spruch in der Bibel, von diesem und jenem Büchlin denke. Letztrer kam oft zu uns, selbst zu Winterszeit, wenn er schier im Schnee stecken blieb. Da war ich sehr aufmerksam auf alle Discurse, und merkte bald, daß sie meist bey Weitem nicht einerley Meinung waren. Anfangs kam's mir unbegreiflich vor, wie doch der Aeti so frech seyn, und dem Pfarrer widersprechen dürfe? Dann dacht ich auf der andern Seite wieder: Aber mein Vater und der flüchtige Pater zusammen sind doch auch keine Narren, und schöpfen ihre Gründe ja wie jener aus der gleichen Bibel. Das ging dann in meinem Sinn so hin und her, bis ich's etwa wieder vergaß, und andern Fantaseyen nachhieng. Inzwischen kam ich in dem nämlichen Jahr zu diesem Pfarrer, Heinrich Näf von Zürich, in die Unterweisung zum H. Abendmal. Er unterrichtete mich sehr gut und gründlich, und war mir in der Seele lieb. Oft erzählt' ich meinem Vater ganze Stunden lang, was er mit mir geredet hatte; und meynte dann, er sollte davon so gerührt werden wie ich. Bisweilen that er, mir zu gefallen, wirklich dergleichen; aber ich merkte wohl, daß es ihm nicht recht zu Herzen gieng. Doch sah ich auch, daß er überhaupt Wohlgefallen an meinen Empfindungen[114] und an meiner Aufmerksamkeit hatte. Nachwerts ward dieser Heinrich Näf Pfarrer gen Humbrechtikon am Zürichsee; und seither, glaub' ich, kam er noch näher an die Stadt. Noch auf den heutigen Tag ist meine Liebe zu ihm nicht erloschen. Viel hundertmal denk' ich mit gerührter Seele an dieses redlichen Manns Treu und Eifer; an seinen liebevollen Unterricht, welchen ich von seinen holdseligen Lippen sog, und den mein damals gewiß auch für das Gute weiche und empfängliche Herz so begierig aufnahm. – O der redlichen Vorsätze und heiligen Entschlüsse, die ich so oft in diesen unvergeßlichen Stunden faßte! Wo seyt ihr geblieben? Welchen Weg seyt ihr gegangen? Ach! wie oft seyt ihr von mir zurückgerufen, und dann leider doch wieder verabscheidet worden! – O Gott! Wie freudig gieng ich stets aus dem Pfarrhause heim, nahm gleich das Buch wieder zur Hand, und erfrischte damit das Angedenken an die empfangenen heilsamen Lehren. Aber dann war eben bald alles wieder verflogen. Doch selbst in spätern Tagen – sogar in Augenblicken, wo Lockungen von allen Seiten mir die süssesten Minen machten, und mich bereden wollten, das Schwarze sey wo nicht Weiß, doch Grau – stiegen mir meines ehemaligen Seelsorgers treugemeinte Warnungen noch oft zu Sinn, und halfen mir in manchem Scharmützel mit meinen Leidenschaften, den Sieg erringen. Was ich mir aber noch zu dieser Stunde am wenigsten vergeben kann, ist mein damaliges öfteres Heucheln, und daß ich, selbst wenn ich mir keines eigentlichen Bösen bewußt war, doch immer noch besser scheinen wollte,[115] als ich zu seyn mich fühlte. Endlich – ich weiß es selbst nicht – war vielleicht auch das ein Tuck des armen Herzens: Daß ich z.E. oft, und zwar wenn ich ganz allein bey der Arbeit war, wirklich mit grösserer Lust etliche geistliche Lieder, die ich von meiner Mutter gelernt, als meine weltlichen Quodlibet sang – dann aber freylich allemal wünschte: Daß mich mein Vater itzt auch hören möchte, wie er mich sonst meist nur über meinem losen Lirum Larum ertappte. O wie gut wär's für Eltern und Kinder, wenn sie mehr, und so viel immer möglich, beysammen wären.

Quelle:
Leben und Schriften Ulrich Bräkers, des Armen Mannes im Tockenburg. Bd. 1–3, Band 1, Basel 1945, S. 114-116.
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