5. Schon in Gefahr
(1739.)

[79] Sobald ich die ersten Hosen trug, war ich meinem Vater schon lieber. Er nahm mich hie und da mit sich. Im Herbst d.J. brannte er im Gandten, eine halbe Stunde von Näbis entfernt, Salpeter. Eines Tags nahm er mich mit sich; und, da Wind und Wetter einfiel, behielt er mich zu Nacht bey sich. Die Salpeterhütte war vor dem Tenn, und sein Bett im Tenn. Er legte mich darein und sagte liebkosend, er wolle bald auch zu mir liegen. Unterdessen fuhr er fort zu feuern, und ich schlief ein. Nach einem Weilchen erwacht' ich wieder, und rief ihm – Keine Antwort. – Ich stund auf, trippelte im Hemdli nach der Hütte und um den Gaden überall herum, rief – schrie! Nirgends kein Vater. Nun glaubt ich gewiß, er wäre heim zu der Mutter gegangen. Ich also hurtig, legte die Höslin an, nahm das Brusttüchlin übern Kopf, und rannte in der stockfinstern Regennacht zuerst über die nächstanstossende lange Wiese. Am End derselben rauschte ein wildangelaufener Bach durch ein Tobel. Den Stäg könnt' ich nicht finden, und wollte darum ohne weiters und gerade hinüber, dem Näbis zu; glitschte aber über eine Riese zum Bach hinab, wo mich das Wasser beynahe ergriffen hätte. Die äusserste Anstrengung meiner jugendlichen Kräfte half mir noch glücklich davon. Ich kroch wieder auf allen Vieren durch Stauden und Dörn' hinauf der Wiese zu, auf welcher[79] ich überall herumirrte, und den Gaden nicht mehr finden konnte – als ich gegen einer Windhelle zwey Kerls – Birn- oder Aepfeldiebe – auf einem Baum ansichtig ward. Diesen ruft ich zu, sie sollten mir doch auf den Weg helfen. Aber da war kein Bescheid; vielleicht daß sie mich für ein Ungeheuer hielten, und oben im Gipfel noch ärger zittern mochten, als ich armer Bube unten im Koth. – Inzwischen war mein Vater, der während meinem Schlummer nach einem ziemlich entfernten Haus gieng, etwas zu holen, wieder zurückgekehrt. Da er mich vermißte, suchte er in allen Winkeln nach, wo ich mich etwa mögte verkrochen haben; zündete bis in die siedenden Kessel hinein, und hörte endlich mein Geschrey, dem er nachgieng, und mich nun bald ausfindig machte. O, wie er mich da herzte und küßte, Freudenthränen weinte und Gott dankte, und mich, sobald wir zum Gaden zurückkamen, sauber und trocken machte – denn ich war mausnaß, dreckigt bis über die Ohren, und hatte aus Angst noch in die Hosen ... Morndeß am Morgen führte er mich an der Hand durch die Wiese: Ich sollt ihm auch den Ort zeigen, wo ich heruntergepurzelt. Ich könnt' ihn nicht finden: Zuletzt fand Er ihn an dem Geschlirpe, das ich beym Hinabrutschen gemacht; schlug dann die Händ' überm Kopf zusamen, vor Entsetzen über die Gefahren worinn ich geschwebt, und vor Lob und Preis über die Wunderhand Gottes, die mich allein erretten konnte: »Siehst du,« sprach er, »nur noch wenige Schritte, so stürzt der Bach über den Felsen hinab. Hätt' dich das Wasser fassen können, so lägst du dort unten todt und zermürset!« Von allem[80] diesem begriff ich damals kein Wort; ich wußte nur von meiner Angst, nichts von Gefahr. Besonders aber schwebten die Kerle auf dem Baum mir viele Jahre vor Augen, sobald mich nur ein Wort an die Geschichte erinnerte.

Gott! Wie viele tausend Kinder kämen auf eine elende Art ums Leben, wenn nicht deine schützenden Engel über sie wachten. Und, o wie gut hat auch der meinige über mich gewacht, Lob und Preis sey dir dafür noch heute von mir gebracht, und in alle Ewigkeit!

Quelle:
Leben und Schriften Ulrich Bräkers, des Armen Mannes im Tockenburg. Bd. 1–3, Band 1, Basel 1945, S. 79-81.
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