64. Tod und Leben

[244] Das Jahr 1762. war mir besonders um des 26. Merzens und 10. Sept. willen merkwürdig. An dem erstem starb nämlich mein geliebter Vater eines schnellen und gewaltsamen Todes, den ich lange nicht verschmerzen konnte. Er gieng am Morgen in den Wald, etwas Holz zu suchen. Gegen Abend kam Schwester Anne Marie mit Thränen in den Augen zu mir, und sagte: Der Aeti sey in aller Frühe fort, und noch nicht heimgekommen; sie fürchten alle, es sey ihm was Böses begegnet; ich soll doch fort, und ihn suchen. Sein Hündlein sey etlichemal heimgekommen, und dann wieder weggelaufen. Mir gieng ein Stich durch Mark und Bein. Ich[244] rannte in aller Eil dem Gehölze zu; das Hündlein trabte vor mir her, und führte mich gerade zu dem vermißten Vater. Er saß neben seinem Schlitten, an ein Tännchen gelehnt, die Lederkappe auf der Schooß, und die Augen sperroffen. Ich glaubte, er sehe mich starr an. Ich rief: Vater, Vater! Aber keine Antwort. Seine Seele war ausgefahren; gestabet und kalt waren seine lieben Hände, und ein Ermel hieng von seinem Futterhemd herunter, den er mag ausgerissen haben, als er mit dem Tode rang. Voll Angst und Verwirrung fieng ich ein Zettergeschrey an, welches in Kurzem meine Geschwister herbeybrachte. Eins nach dem andern legte sich auf den erblaßten Leichnam. Unser Geheul ertönte durch den ganzen Wald. Man zog ihn auf seinem Schlitten nach Haus, wo noch die Mutter samt den Kleinen ihr Wehklagen mit dem unsrigen vereinten. Ein armer Bube aß die Suppe, die auf den guten Herzensvater gewartet hatte. Zehn Tage vorher hatt' ich das letztemal (o hätt' ich's gewußt, daß es das letztemal wäre!) mit ihm gesprochen, und sagte er mir unter anderm: Er möchte sich die Augen ausweinen, wenn er bedenke, wie oft er den lieben Gott erzörnt. O welch einen guten Vater hatten wir, welch einen zärtlichen Ehemann unsre Mutter, welch eine redliche Seele und braven Biedermann alle die ihn kannten, an ihm verloren. Gott tröste seine Seele in alle Ewigkeit! Er hatte eine mühsame Pilgrimmschaft. Kummer und Sorgen aller Art, Krankheiten, drückende Schuldenlast u.s.f. folgten ihm kehrum stets auf der Ferse nach. Sonntags den 28. Merz, wurde er unter einem zahlreichen Gefolge[245] zu seiner Ruhestatt begleitet, und in unser aller Mutter Schooß hingelegt. Herr Pfarrherr Bösch ab dem Ebnet hielt ihm die Leichenrede, die für seine betrübten Hinterlaßnen ungemein tröstlich ausfiel, und von den verborgnen Absichten Gottes handelte. Der Selige mag sein Alter auf 54–55. Jahre gebracht haben. O wie oft besucht' ich seither das Plätzgen, wo er den letzten Athem ausgehaucht. Die sicherste Vermuthung über seine eigentliche Todesart, gab mir der Ort selbst an die Hand. Es war gähe hinab, wo er mit seinem Füderchen Holz hinunterfuhr. Der Schnee trug den Schlitten; aber mit den Füssen mußte er an einer lockern Stelle, die ich noch gar wohl wahrnehmen konnte, unter den letztern gekommen, und derselbe mit ihm gegen eine Tann geschossen seyn, die ihm den Herzstoß gab. Doch muß er noch eine Weile gelebt, sich frey machen wollen, und eben über dieser Bemühung sein Futterhemd zerrissen haben.

Nach diesem traurigen Hinschied fiel eine schwere Last auf mich. Da waren noch vier unerzogene Kinder, bey welchen ich Vaterstelle vertreten sollte. Unsre Mutter war so immer geradezu, und sagte zu Allem: Ja, ja! Ich that was ich konnte, wenn ich gleich mit mir selbst schon genug zu schaffen hatte. Bruder Georg nahm den eigentlichen Haushalt über sich. Aus den 100 fl. die mir der Selige gegeben hatte, tilgte ich seine Schulden. In meinem eigenen Häusgen machte ich einen Webkeller zurecht, lernte selbst weben, und lehrte es nach und nach meine Brüder, so daß zuletzt alle damit ihr Brot verdienen konnten. Die Schwestern hinwieder[246] verstuhnden gut, Löthligarn zu spinnen; die Jüngste lernte nähen.

Der 10. Sept. war wieder der erste frohe Tag für mich, an welchem meine Frau mir einen Sohn zur Welt brachte, den ich nach meinem und meines Schwehers Namen Uli nannte. Seine Taufpathen waren Herr Pfarrer Seelmatter, und Frau Hartmännin. Ich hatte eine solche Freude mit diesem Jungen, daß ich ihn nicht nur allen Leuthen zeigte die ins Haus kamen, sondern auch jedem vorübergehnden Bekannten zurief: Ich hab' einen Buben; obgleich ich schon zum voraus wußte, daß mich mancher darüber auslachen, und denken werde: Wart' nur! Du wirst noch des Dings genug bekommen; wie's denn auch wirklich geschah. – Inzwischen kam mein gutes Weib dieß erstemal wahrlich nicht leicht davon, und mußte viele Wochen das Beth hüten. Das Kind hingegen wuchs, und nahm recht wunderbar zu.

Bald nachher erzeugten die Angelegenheiten der Meinigen manchen kleinern und grössern Ehestreit zwischen mir und meiner Hausehre. Die letztre mochte nämlich nach Gewohnheit die erstern nie recht leiden, und meinte immer, ich dächt' und gäb' ihnen zu viel. Freylich waren meine Brüder ziemlich ungezogene Bursche – aber immer meine Brüder, und ich also verbunden, mich ihrer anzunehmen. Endlich kamen sie einer nach dem andern unter die Fremden, Georg ausgenommen, der ein ziemlich lüderliches Weib heurathete; die andern alle verdienten, meines Wissens, ihr Brod mit Gott und mit Ehren.[247]

Quelle:
Leben und Schriften Ulrich Bräkers, des Armen Mannes im Tockenburg. Bd. 1–3, Band 1, Basel 1945, S. 244-248.
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