68. Mein erstes Hungerjahr
(1770.)

[253] Während diesem meinem neuen Planmachen und Projeckteschmieden, rückten die heißhungrigen Siebenzigerjahre heran, und das erste brach ein, ganz unerwartet, wie ein Dieb in der Nacht, da jedermann auf ganz andre Zeiten hoffete. Freylich gab's seit dem Jahre 1760. in unsern Gegenden kein recht volles Jahr mehr. Die J. 68. und 69. fehlten gar und gänzlich; hatten nasse Sommer, kalte und lange Winter, grossen Schnee, so daß viel Frucht darunter verfaulte, und man im Frühling aufs neue pflugen mußte. Das mögen nun politische Kornjuden wohl gemerkt, und der nachfolgenden Theurung vollends den Schwung gegeben haben. Dieß konnte man daraus schliessen, daß um's Geld immer Brodt genug vorhanden war; aber eben jenes fehlte, und zwar nicht bloß bey dem Armen, sondern auch bey dem Mittelmann. Also war diese Epoche für Händler, Becken und Müller eine göldene Zeit, wo sich viele eigentlich bereicherten, oder wenigstens[253] ein Hübsches auf die Seite schaffen konnten. Hinwieder fiel der Baumwollen-Gewerb fast gänzlich ins Koth, und aller dießfällige Verdienst war äusserst klein; so daß man freylich Arbeiter genug ums blosse Essen haben konnte. Ohne dieß wäre der Preiß der Lebensmittel noch viel höher gestiegen, und hätte die theure Zeit wohl bald gar kein End' genommen. Doch, alles spezificirlich herzusetzen wäre um eben so viel überflüßiger, da ich es in meinem, wie ich höre, einst auch vor dem Publikum erscheinenden Tagebuch bereits hinlänglich gethan, und nämlich dort pünktlich, in aller Einfalt erzählt habe, was diesem Zeitpunkt vorgegangen (als z.E. Kometen, Röthen am Himmel, Erdbeben, Hochgewitter); und eben so, was auf denselben gefolgt (schwere Krankheiten, ein ziemlicher Sterbent u.s.f.). Hier bleibt mir also nichts übrig, als meiner eignen ökonomischen sowohl als Gemüthslage in erwähnten bedenklichen Jahren, kurze und wahrhafte Erwähnung zu thun. Denn freylich findet sich auch darüber ein Weites und Breites in gedachtem Diario; aber eben nicht allemal gar zu ächt: Da ich nämlich an mancher Stelle viel Lermens von meinem sonderbaren Vertrauen auf die göttliche Vorsehung gemacht – und zwar meist gerade wo ich am kleingläubigsten war. So viel darf ich freylich noch itzt sagen, daß dieß Zutrauen, ob es gleich zuweilen wankte, dennoch nie ganz zu Trümmern gieng, und ich fast immer fand, daß mein eigenes Verschulden mir die größten Leiden verursachte, und Gottes Güte viel selbst gemachtes Uebel noch oft zu meinem Beßten wandte. Schon Ao. 68. und[254] 69. da mir der Hagel zwey Jahre nacheinander alles in meinem Garten zu Boden schlug, und ich und die Meinigen so mit grosser Wehmuth zuschauten – konnt' ich doch den Erbarmenden loben, daß er unsers Lebens geschont. Und seither bey allen solchen und ähnlichen Unfällen, bey allem Aufschlag der Nahrung, bey allem Jammern und Klagen der Leuthe, war immer mein erst- und letztes Wort: »Es wird so bös nicht seyn«, oder: »Es wird schon besser kommen«. Denn allemal das Beßte zu glauben und zu hoffen, war stets so meine Art, und, wenn man will, eine Folge meines angebohrenen Leichtsinns. Ich konnte darum das ängstliche Kräbeln, Kummern und Sorgen andrer um mich her nie leiden; noch begreifen, was einer für einen Nutzen davon hat, wenn er sich immer das Aergste vorstellt. – Doch, so käm' ich allgemach ganz von meiner Geschichte ab.

Das gedachte Siebenzigerjahr neigte sich schon im Frühling zum Aufschlagen. Der Schnee lag auf der Saat bis im Mayen, so daß gar viel darunter erstickte. Indessen tröstete man sich doch noch den ganzen Sommer auf eine leidentliche Erndte – dann auf das Ausdreschen; aber leider alles umsonst. Ich hatte eine gute Portion Erdapfel im Boden; es wurden mir aber leider viel davon gestohlen. Den Sommer über hatte ich zwo Kühe auf fremder Weide, und ein Paar Geißen, welche mein erstgeborner Junge hütete; im Herbst aber mußt' ich aus Mangel Gelds und Futter alle diese Schwänze verkaufen. Denn der Handel nahm ab, so wie die Fruchtpreise stiegen; und bey den armen Spinnern und Webern war nichts als Borgen und Borgen. Nun[255] tröstete ich freylich die Meinigen und mich selbst mit meinem: »Es wird schon besser kommen«! so gut ich konnte; mußte dann aber auch dafür manche bittre Pille verschlucken, die meine Bettesgenoßin wegen meinem vorigen Verhalten, meiner Sorglosigkeit und Leichtsinn mir auftischte, und die ich dann nicht allemal geduldig und gleichgültig ertragen mochte. Gleichwohl sagte mir mein Gewissen meist: Sie hat recht ... Wenn sie's nur nicht so herb' präparirt hätte.

Quelle:
Leben und Schriften Ulrich Bräkers, des Armen Mannes im Tockenburg. Bd. 1–3, Band 1, Basel 1945, S. 253-256.
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