69. Und abermals zwey Jahre!
(1771. u. 1772.)

[256] Nun brach der grosse Winter ein, der schauervollste den ich erlebt habe. Ich hatte itzt fünf Kinder und keinen Verdienst, ein Bischen Gespunst ausgenommen. Bey meinem Händelchen büßt' ich von Woche zu Woche immer mehr ein. Ich hatte ziemlich viel vorräthig Garn, das ich in hohem Preiß eingekauft, und an dem ich verlieren mußte, ich mocht' es nun wieder roh verkaufen oder zu Tüchern machen. Doch that ich das letztre, und hielt mit dem Losschlagen derselben zurücke, mich immer meines Waidspruchs getröstend: »Es wird schon besser werden«! Aber es ward immer schlimmer, den ganzen Winter durch. Inzwischen dacht' ich so: »Dein kleiner Gewerb hat dich bisher genährt, wenn du damit gleich nichts beyseite legen konntest. Du magst und kannst's also nicht aufgeben. Thätest[256] du's, müßtest du gleich deine Schulden bezahlen, und das wär' dir itzt pur unmöglich«. Auch in andern Punkten gieng's mir nicht besser. Mein kleiner Vorrath von Erdapfeln und anderm Gemüß aus meinem Gärtchen, was mir die Dieben übriggelassen, war aufgezehrt; ich mußte mich also Tag für Tag aus der Mühle verproviantiren; das kostete mich am End der Woche eine hübsche Handvoll Münze, nur vor Rothmähl und Rauchbrodt. Dennoch war ich noch immer guter Hoffnung; hatte auch nicht Eine schlaflose Nacht, und sagte alleweil: »Der Himmel wird schon sorgen, und noch alles zum Beßten lenken«! »Ja«! rispostirte dann meine Jöbin: »Wie du's verdient; Ich bin unschuldig. Hätt'st du die gute Zeit in Obacht genommen, du Schlingel! und deine Hände mehr in den Teig gesteckt, als deine Nase in die Bücher«. – »Sie hat Recht«! dacht' ich dann; »aber der Himmel wird doch sorgen«, – und schwieg. Freylich konnt' ich meine schuldlosen Kinder unmöglich hungerleiden sehn, so lang ich noch Kredit fand. Die Noth stieg um diese Zeit so hoch, daß viele eigentlich blutarme Leuthe kaum den Frühling erwarten mochten, wo sie Wurzeln und Kräuter finden konnten. Auch ich kochte allerhand dergleichen, und hätte meine jungen Vögel noch immer lieber mit frischem Laub genährt, als es einem meiner erbarmenswürdigen Landsmänner nachgemacht, dem ich mit eignen Augen zusah, wie er mit seinen Kindern von einem verreckten Pferd einen ganzen Sack voll Fleisch abgehackt, woran sich schon mehrere Tage Hunde und Vögel satt gefressen. Noch itzt, wenn ich des Anblicks[257] gedenke, durchfährt Schauder und Entsetzen alle meine Glieder. – Bey alledem gieng mir mein eigener Zustand nicht so sehr zu nahe, als die Noth meiner Mutter und Geschwister, welche alle noch ärmer waren als ich, und denen ich doch so wenig helfen konnte. Indessen half ich über Vermögen, da ich stets noch einichen Credit fand, und sie gar keinen. Im May Ao. 71. verhalf mir ein gutmüthiger Mann wieder zu einer Kuh und ein Paar Geißen, da er mir Geld dazu bis auf den Herbst lieh; so daß ich nunmehr wenigstens ein Bischen Milch für meine Jungen hatte. Aber verdienen konnt' ich nichts. Was mir noch etwa von meinem Gewerb eingieng, mußt' ich auf die Atzung von Menschen und Thieren verwenden. Meine Schuldner bezahlten mich nicht; ich konnte also hinwieder auch meine Gläubiger nicht befriedigen, und mußte durch Geld und Baumwolle auf Borg nehmen, wo ich's fand. Endlich aber gieng dem Faß vollends der Boden aus. Zwar kam mir mein gewöhnliches: »Gott lebt noch! 's wird schon besser werden«! noch immer in den Sinn; aber meine Gläubiger fiengen nichts desto weniger an, mich zu mahnen, und zu drohen. Von Zeit zu Zeit mußt' ich hören, wie dieser und jener bankerott machte. Es gab hartherzige Kerls, die alle Tag mit den Schätzern im Feld waren, ihre Schulden einzutreiben. Neben andern traf die Reihe auch meinen Schwager; ich hatte ebenfalls eine Anfoderung an ihn, und war selber bey dem Auffallsact gegenwärtig; freylich mehr ihm zum Beystande, als um meiner Schuld willen. O! was das vor ein erbärmliches Specktackel ist, wenn einer so, wie ein[258] armer Delinquent, dastehn – sein Schulden- und Sündenregister vorlesen hören – so viele bittre, theils laute, theils leise Vorwürfe in sich fressen – sein Haus, seine Mobilien, alles, bis auf ein armseliges Bett und Gewand, um einen Spottpreiß verganten sehn – das Geheul von Weib und Kindern hören, und zu allem schweigen muß, wie eine Maus. O! wie fuhr's mir da durch Mark und Bein! Und doch konnt' ich weder rathen noch helfen – nichts thun, als für meiner Schwester Kind zu beten – und dazu im Herzen denken: »Auch du, auch du steckst eben so tief im Koth! Heut oder Morgens kann es, muß es dir eben so gehn, wenn's nicht bald anders wird. Und wie sollt' es anders werden? Oder, darf ich Thor auf ein Wunder hoffen? Nach dem natürlichen Gang der Dinge kann ich mich unmöglich erholen. Vielleicht harren deine Gläubiger noch eine Weile; aber alle Augenblick' kann die Geduld ihnen ausgehn. – Doch, wer weiß? Der alte Gott lebt noch! Es wird nicht immer so währen. – Aber ach! Und wenn's auch besser würde, so braucht' es Jahre lang, bis ich mich wieder erholen könnte. Und so lang werden meine Schuldherren mir gewiß nicht Zeit lassen. Ach mein Gott! Was soll ich anfangen? Keiner Seele darf ich mich vertrauen – muß ich doch vor meinem eigenen Weib meinen Kummer verbergen«. Mit solchen Gedanken wälzt' ich mich ein Paar lange Nächte auf meinem Lager herum; dann faßt' ich, wie mit Eins, wieder Muth; tröstete mich aufs neue mit der Hilfe von oben herab, befahl dem Himmel meine Sachen – und gieng meine Wege, wie zuvor. Zwar prüft' ich mich selbst unterweilen,[259] ob und in wie fern' ich an meinen gegenwärtigen Umständen selbst Schuld trage. Aber, ach! wie geneigt ist man in solcher Lage, sich selbst zu rechtfertigen. Freylich konnt' ich mir wirklich keine eigentliche Verschwendung oder Lüderlichkeit vorwerfen; aber doch ein gewisses gleichgültiges, leichtgläubiges, ungeschicktes Wesen, u.s.f. Denn erstlich hatt' ich nie gelernt, recht mit dem Geld umzugehn; auch hatte es nie keine Reitze für mich, als in wie fern' ichs alle Tag' zu brauchen wußte. Hiernächst traut' ich jedem Halunken, wenn er mir nur ein gut Wort gab; und noch itzt könnte mich ein ehrlich Gesicht um den letzten Heller im Sack betriegen. Endlich und vornämlich verstuhnden lange weder ich noch mein Weib den Handel recht, und kauften und verkauften immer zur verkehrten Zeit.

Mittlerweile ward meine Frau schwanger, und den ganzen Sommer (1772.) über kränklich, und schämte sich vor allen Wänden, daß sie bey diesen betrübten Zeitläufen ein Kind haben sollte. Ja sie hätte selbst mir bald eine ähnliche Empfindung eingepredigt. Im Herbstmonathe, da die rothe Ruhr allethalben graßirte, kehrte sie auch bey mir ein, und traf zuerst meinen lieben Erstgebohrenen. Von der ersten Stund' an, da er sich legte, wollt' er, ausser lauterm Brunnenwasser, nichts, weder Speis noch Trank mehr zu sich nehmen; und in acht Tagen war er eine Leiche. Nur Gott weiß, was ich bey diesem Unfall empfunden: Ein so gutartiges Kind, das ich wie meine Seele liebte, unter einer so schmerzhaften Krankheit geduldig wie ein Lamm[260] Tag und Nacht – denn es genoß auch nicht eine Minute Ruh' – leiden zu sehn! Noch in der letzten Todesstunde, riß es mich mit seinen schon kalten Händchen auf sein Gesicht herunter, küßte mich noch mit seinem erstorbnen Mündchen, und sagte unter leisem Wimmern, mit stammelndem Zünglin: »Lieber Aeti! es ist genug. Komm auch bald nach. Ich will itzt im Himmel ein Engelin werden«; rang dann mit dem Tod', und verschied. Mir war, mein Herz wollte mir in tausend Stücke zerspringen. Mein bittres Klaglied über diesen ersten Raub des großen Würgers in meinem Hause, liegt in meinem Tagebuch. – Noch war mein Söhnlein nicht begraben, so griff die wüthende Seuche mein ältestes Töchtergen, und zwar noch viel heftiger an; es wäre denn, daß dieß gute Kind seine Leiden nicht so standhaft ertrug als sein Bruder. Und kurz, es war, aller Sorgfalt der Aerzte ungeachtet, noch schneller hingeraft, in seinem achten, das Knäblin im neunten Jahr. Diese Krankheit kam mir so ekelhaft vor, daß ich's sogar bey meinen Kindern nie recht ohne Grausen aushalten konnte. Als nun das Mädchen kaum todt, und ich von Wachen, Sorgen und Wehmuth wie vertaumelt war, fing's auch mir an im Leibe zu zerren; und hätt' ich in diesen Tagen tausendmal gewünscht zu sterben, und mit meinen Lieben hinzufahren. Doch gieng ich, auf dringendes Bitten meiner Frau, noch selbst zu Herrn Doktor Wirth hin. Er verordnete mir Rhabarber und sonst was. Sobald ich nach Haus kam, mußt' ich zu Beth liegen. Ein Grimmen und Durchfall fieng mit aller Wuth an, und die Arzeney schien noch[261] die Schmerzen zu verdoppeln. Der Doktor kam selber zu mir, sah' meine Schwäche – aber nicht meine Angst. Gott, Zeit und Ewigkeit, meine geist- und leiblichen Schulden stuhnden fürchterlich vor mir und hinter meinem Beth. Keine Minute Schlaf – Tod und Grab – Sterben, und nicht mit Ehren – welche Pein! Ich wälzte mich Tag und Nacht in meinem Bett herum, krümmte mich wie ein Wurm, und durfte, nach meiner alten Leyer, meinen Zustand doch keiner Seele entdecken. Ich flehte zum Himmel; aber der Zweifel, ob der mich auch hören wollte, gieng itzt zum erstenmal mir durch Mark und Bein; und die Unmöglichkeit, daß mir bey meinem allfälligen Wiederaufkommen noch gründlich zu helfen sey, stellte sich mir lebhafter als noch nie vor. Indessen ward mein Töchtergen begraben, und in wenig Tagen lagen meine drey noch übrigen Kinder, nebst mir, an der nämlichen Krankheit darnieder. Nur mein ehrliches Weib war bisdahin ganz frey ausgegangen. Da sie nicht allem abwarten konnte, kam ihre ledige Schwester ihr zu Hülf'; sonst übertraf sie mich an Muth und Standhaftigkeit weit. Ich hingegen stuhnd, theils meiner leiblichen Schmerzen, theils meiner schrecklichen Vorstellungen wegen, noch ein paar Tage Höllenangst aus, bis es mir endlich in einer glücklichen Stunde gelang: Mich und meine Sachen gar und ganz dem lieben Gott auf Gnad und Ungnad zu übergeben. Bisher war ich ein ziemlich mürrischer Patient. Nun ließ ich mit mir machen, was jeder gern wollte. Meine Frau, ihre Schwester, und Herr Doktor Wirth, gaben sich alle ersinnliche Sorge[262] um mich. Der Höchste segnete ihre Mühe, so daß ich innert acht Tagen wieder aufkam, und auch meine drey Kleinen sich allmählig erholten. Als ich noch darniederlag, kam eines Abends meine Schwägerin, und eröffnete mir: Meine zwey Geissen seyen auf und davon. »Ey so fahre denn alles hin«! sagt' ich, »wenn's so seyn muß«. Allein des folgenden Morgens raft' ich mich so schwach und blöd ich noch war, auf, meine Thiere zu suchen, und fand sie wieder zu mein und meiner Kinder grosser Freude.

Sonst war der Jammer, Hunger und Kummer, damals im Land allgemein. Alle Tag' trug man Leichen zu Grabe, oft 3. 4. bis 11. miteinander. Nun dankt' ich dem L. Gott, daß er mir wieder so geholfen; und eben so sehr, daß Er meine zwey Lieben versorgt hatte, denen ich nicht helfen konnte. Aber sehr lange schwebten mir die anmuthigen Dinger, ihr gutartiges kindliches Wesen immer wie leibhaftig vor Augen. »O ihr geliebten Kinder«! stöhnt' ich dann des Tages wohl hundertmal: »Wenn werd' ich wohl einst zu Euch hinfahren? Denn ach! zu mir kömmt Ihr nicht wieder«. Viele Wochen lang gieng ich überall umher wie der Schatten an der Wand, – staunte Himmel und Erde an – that zwar was ich konnte – konnte aber nicht viel. Zu Bezahlung meiner Gläubiger wurden die Aussichten immer enger und kürzer. Aus einem Sack in den andern zu schleufen, und mich so lange zu wehren wie möglich, mußt' itzt mein einziges Dichten und Trachten seyn.[263]

Quelle:
Leben und Schriften Ulrich Bräkers, des Armen Mannes im Tockenburg. Bd. 1–3, Band 1, Basel 1945, S. 256-264.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Knigge, Adolph Freiherr von

Über den Umgang mit Menschen

Über den Umgang mit Menschen

»Wenn die Regeln des Umgangs nicht bloß Vorschriften einer konventionellen Höflichkeit oder gar einer gefährlichen Politik sein sollen, so müssen sie auf die Lehren von den Pflichten gegründet sein, die wir allen Arten von Menschen schuldig sind, und wiederum von ihnen fordern können. – Das heißt: Ein System, dessen Grundpfeiler Moral und Weltklugheit sind, muss dabei zum Grunde liegen.« Adolph Freiherr von Knigge

276 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon