72. Und da

[269] – Hatt' ich ja itzt freylich eine erstaunliche kindische Freud, mit der grossen Anzahl Bücher, deren ich in meinem Leben nie so viele beysammen gesehn, und an[269] welchen allen ich nun Antheil hatte. Hingegen errötete ich noch immerfort bey dem blossen Gedanken, ein eigentliches Mitglied einer gelehrten Gesellschaft zu heissen und zu seyn, und besuchte sie darum selten, und nur wie verstohlen. Aber da half alles nichts; es gieng mir doch wie dem Raben, der mit den Enten fliegen wollte. Meine Nachbarn, und andre alte Freunde und Bekannten, kurz Meinesgleichen, sahen mich, wo ich stuhnd und gieng, überzwerch an. Hier hört' ich ein höhnisches Gezisch'; dort erblickt' ich ein verachtendes Lächeln. Denn es gieng unsrer moralischen Gesellschaft im Tockenburg Anfangs wie allen solchen Instituten in noch rohen Ländern. Man nannte ihre Mitglieder Neuherren, Bücherfresser, Jesuiten, u.d. gl. Du kannst leicht denken, mein Sohn! wie's mir armen einfältigen Tropfen dabey zu Muthe war. Meine Frau vollends speyte Feuer und Flammen über mich aus, wollte sich viele Wochen nicht besänftigen lassen, und gewann nun gar Eckel und Widerwillen gegen jedes Buch, wenn's zumal aus unsrer Bibliothek kam. Einmal hatt' ich den Argwohn, sie selbst habe um diese Zeit meinen Creditoren eingeblasen, daß sie mich nur brav ängstigen sollten. Sie läugnet's zwar noch auf den heutigen Tag, und Gott verzeih' mir's! wenn ich falsch gemuthmaaßt habe; aber damals hätt' ich mir's nicht ausnehmen lassen. Genug, meine Treiber setzten itzt stärker in mich als sonst noch nie. Da hieß es: Hast du Geld, dich in die Büchergesellschaft einzukaufen, so zahl' auch mich. Wollt' ich etwas borgen, so wies man mich an meine Herren Collegen. »O[270] du armer Mann«! dacht' ich, »was du da aber vor einen hundsdummen Streich gemacht, der dir vollends den Rest geben muß. Hätt'st du dich doch mit deinem Morgen- und Abendseegen begnügt, wie so viele andre deiner redlichen Mitlandsleuthe. Jezt hast du deine alten Freund' verloren – von den neuen darfst und magst du keinen um einen Kreuzer ansprechen. Deine Frau hagelt auch auf dich zu. Du Narr! was nützt dir itzt all' dein Lesen und Schreiben? Kaum wirst du noch dir und deinen Kindern den Betelstab daraus kaufen können«, u.s.f. So macht ich mir selber die bittersten Vorwürfe, und rang oft beynahe mit der Verzweiflung. Dann sucht' ich freylich von Zeit zu Zeit aus einem andern Sack auch meine Entschuldigungen hervor; die hiessen: »Ha! das Lesen kostet mich doch nur ein geringes; und das hab' ich an Kleidern und anderm mehr als erspart. Auch bracht' ich nur die müßigen Stunden damit zu, wo andre ebenfalls nicht arbeiten; meist nur bey nächtlicher Weile. Wahr ist's, meine Gedanken beschäftigten sich auch in der übrigen Zeit nur allzuviel mit dem Gelesenen, und waren hingegen zu meinem Hauptberuf selten bey Hause. Doch hab' ich nichts verludert; trank höchstens bisweilen eine Bouteille Wein, meinen Unmuth zu ersäufen – das hätt' ich freylich auch sollen bleiben lassen – Aber, was ist ein Leben ohne Wein, und zumal ein Leben wie meines«? – Denn kam's wieder einmal an's Anklagen: »Aber, wie nachläßig und ungeschickt warst du nicht in allem was Handel und Wandel heißt. Mit deiner unzeitigen Güte nahmst du alles, wie man's dir gab – gabst du[271] jedem, was er dich bat, ohne zu bedenken, daß du nur andrer Leuthe Geld im Seckel hattest, oder daß dich ein redlich scheinendes Gesicht betriegen könnte. Deine Waare vertrautest du dem ersten Beßten, und glaubtest ihm auf sein Wort, wenn er dir vorlog, er könne dir auf sein Gewissen nur so und so viel bezahlen. O könnt'st du nur noch einmal wieder von Vornen anfangen. Aber, vergeblicher Wunsch! – Nun, so willst du doch alles versuchen – willst denen, die dir schuldig sind, eben auch drohen wie man dir droht«, u.s.f. So dacht' ich elender Tropf, und setzte auch wirklich zween meiner Debitoren den Tag an; freylich mehr um sie und andre zu schrecken, als daß es Ernst gegolten hätte. Aber sie verstuhnden's nicht so. Ich gieng also auf die bestimmte Zeit mit den Schätzern zu ihren Häusern; und, Gott weiß! mir war's viel bänger als ihnen. Denn in dem ersten Augenblick, da ich in des einen Wohnung trat, dacht' ich: Wer kann das thun? – Die Frau bat, und wies' mit den Fingern auf das zerfetzte Bett, und die wenigen Scherben in der Küche, die Kinder in ihren Lumpen heulten. O, wenn ich nur wieder weg wäre! dacht' ich, bezahlte Schätzer und Weibel, und strich mich unverrichteter Sachen fort, nachdem man mir in bestimmten Terminen Bezahlung versprochen, die noch auf den heutigen Tag aussteht. Auch erfuhr ich nachwerts, daß diese Leuthe, einige Stunden vorher, eh' ich in ihr Haus kam, die beßten Habseligkeiten geflöchnet, und ihre Kinder expreß so zerlöchert angezogen hätten. »Meinetwegen«, sagt' ich da zu mir selbst: »Das will ich in meinem Leben[272] nicht mehr thun. Meine Gläubiger mögen eines Tages solche Barbaren gegen mir, ich will's darum nicht gegen andre seyn. Nein! es geh' mir wie es geh', diese Schulden müssen zuletzt doch auch zu meinem Vermögen gerechnet werden«. Aber jene fragten eben nichts darnach, und diesen jagte eine solche Denkens- und Verfahrungsart gerade auch keinen Scheuen ein. Die erstern trieben mich immer stärker und unerbittlicher. Dieß, und meine überspannte Einbildung gebahren dann.

Quelle:
Leben und Schriften Ulrich Bräkers, des Armen Mannes im Tockenburg. Bd. 1–3, Band 1, Basel 1945, S. 269-273.
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