74. Wohlehrwürdiger, Hoch- und Wohlgelehrter Herr Pfarrer Johann Caspar Lavater!

[278] Mitten in einer entsetzlich bangen Nacht unterwind' ich mich, an Sie zu schreiben. Keine Seel' in der Welt weißt es, und keine Seel' weißt meine Noth. Ich kenne Sie aus Ihren Schriften und vom Gerüchte. Wüßt' ich nun freylich nicht von diesem, daß Sie einer der beßten, edelsten Menschen wären, dürft' ich von Ihnen wohl keine andre Antwort erwarten, als wie etwa von einem Grossen der Erde. Z.E. Pack dich, Schurke! Was gehn mich deine Lumpereyen an. – Aber nein! ich kenne Sie als einen Mann voll Großmuth und Menschenliebe, welchen die Vorsehung zum Lehrer und Arzt der itzigen Menschheit ordentlich scheint bestimmt zu haben. Allein Sie kennen mich nicht. Geschwind will ich also sagen, wer ich bin. O werfen Sie doch den Brief eines elenden Tockenburgers nicht ungesehn auf die Seite, eines armen gequälten Mannes, der sich mit zitternder Hand an Sie wendet, und es wagt, sein Herz gegen einen Herrn auszuschütten, gegen den er ein so inniges Zutrauen fühlt. O hören Sie mich, daß Gott Sie auch höre! Er weiß, daß ich nicht im Sinn habe, ihnen weiter beschwerlich zu fallen, als nur Sie zu bitten, diese Zeilen zu lesen, und mir dann ihren väterlichen Rath zu ertheilen. Also. Ich bin der älteste Sohn eines blutarmen Vaters von 11. Kindern, der in einem wilden Schneeberg unsers Lands erzogen ward, und bis in sein[278] sechszehntes Jahr fast ohne allen Unterricht blieb, da ich zum H. Nachtmahl unterwiesen wurde, auch von selbst ein wenig schreiben lernte, weil ich grosse Lust dazu hatte. Mein sel. Vater mußte unter seiner Schuldenlast erliegen, Haus und Heimath verlassen, und mit seiner zahlreichen Familie unterzukommen suchen, wo er konnte und mochte, und Arbeit und ein kümmerliches Brodt für uns zu finden war. Die Hälfte von uns war damals noch unerzogen. Bis in mein neunzehntes Jahr blieb mir die Welt ganz unbekannt, als ein schlauer Betrüger mich auf Schaffhausen führte, um, wie er sagte, mir einen Herrendienst zu verschaffen. Mein Vater war's zufrieden – und ich wurde, ohne mein Wissen, an einen preußischen Werber verkauft, der mich freylich so lange als seinen Bedienten hielt, bis ich nach Berlin kam, wo man mich unter die Soldaten steckte – und noch itzt nicht begreifen wollte, wie man mich so habe betriegen können. Es gieng eben ins Feld. O wie mußt' ich da meine vorigen in Leichtsinn vollbrachten guten Tage so theuer büssen! Doch ich flehte zu Gott, und er half mir ins Vaterland. In der ersten Schlacht bey Lowositz nämlich, kam ich wieder auf freyen Fuß, und kehrte sofort nach Hause. In dem Städtgen Rheineck küßt' ich zum erstenmal wieder die Schweitzer-Erde, und schätzte mich für den glücklichsten Mann, ob ich schon nichts als ein Paar Brandenburgische Dreyer, und einen armseligen Soldatenrock auf dem Leib in meine Heimath brachte. Nun mußt' ich wieder als Taglöhner mein Brot suchen; das kam mich freylich sauer genug an. In meinem sechs[279] und zwanzigsten heurathete ich ein Mädchen mit hundert Thalern. Damit glaubt' ich schon ein reicher Mann zu seyn, dachte itzt an leichtere Arbeit mit aufrechtem Rücken, und fieng, auf Anrathen meiner Braut, einen Baumwollen und Garngewerb an, ohne daß ich das geringste von diesem Handwerk verstuhnd. Anfangs fand ich Credit, baute ein eigenes Häuschen, und vertiefte mich unvermerkt in Schulden. Indessen verschaffte mir doch mein kleines Händelchen einen etwelchen Unterhalt; aber bösartige Leuthe betrogen mich immer um Waare und Geld, und die Haushaltung mehrte sich von Jahr zu Jahre, so daß Einnahm' und Ausgabe sich immer wettauf frassen. Dann dacht' ich: Wenn einst meine Jungen grösser sind, wird's schon besser kommen! Aber ich betrog mich in dieser Hoffnung. Mittlerweile überfielen mich die hungrigen Siebenziger-Jahre, als ich ohnedem schon in Schulden steckte. Ich hatte itzt fünf Kinder, und wehrte mich wie die Katz' am Strick. Das Herz brach mir, wenn ich so meine Jungen nach Brodt schreyen hörte. Dann noch meine arme Mutter und Geschwister! Von meinen Debitoren nahm hie und da einer den Reißaus, andre starben, und liessen mich die Glocken zahlen; Ich hingegen wurde von etlichen meiner Gläubiger scharf gespornt; mit meinem Handel gieng's täglich schlechter. Itzt wurden wir noch alle gar an der Ruhr krank; meine zwey Aeltst gebohrnen starben, wir übrigen erholten uns wieder. Inzwischen harrt' ich auf Gott und günstigere Zeiten. Aber umsonst! Und war ich nicht ein Thor, und bin ich's nicht itzt noch,[280] wenn ich auch nur ein wenig zurückdenke, auf mein sorgloses in den Tag hinein leben? Bin ich denn nicht selbst schuld an allem meinem Elend? Meine Unbesonnenheit, meine Leichtgläubigkeit, mein unwiderstehlicher Hang zum Lesen und Schreiben, haben nicht die mich dahin gebracht? Wenn mein Weib, wenn ich selbst, mir solche nur zu wohl verdiente Vorwürfe machen, dann kämpf ich oft mit der Verzweiflung; wälze mich halbe Nächte im Bett herum, rufe den Tod herbey, und bald jede Art mein Leben zu endigen scheint mir erträglicher, als die äusserste Noth der ich alle Tage entgegensehe. Voll Schwermuth schleich' ich dann langsam unsrer Thur nach, und blicke vom Felsen herab scharf in die Tiefe. Gott! wenn nur meine Seele in diesen Fluthen auch untergehen könnte! Das eintemal lispelte mir der Teufel des Neides – freylich eine grosse Wahrheit ein: Wie viele Schätze werden nicht auf dieser Erde verschwendet! Wie manches Tausend auf Karten und Würfel gesetzt, wo dir ein einziges aus dem Labyrinth helfen könnte! Ein andermal heißt mich dieser böse Feind gar, zusammenpacken, und alles im Stich lassen. Aber nein! da bewahre mich Gott dafür! Ja, im blossen Hemd wollt' ich auf und davon, mich an die Algier zu verkaufen, wenn dann nur meine Ehre gerettet, und Weib und Kindern damit geholfen wäre. Noch ein andermal raunt mir, wie ich wenigstens wähne, ein beßrer Geist ins Ohr: Armer Narr! der Himmel wird deinetwegen kein Wunder thun! Gott hat die Erde gemacht, und so viel Gutes darauf ausgeschüttet. Und das Beßte davon, goß er's[281] nicht ins weiche Herz des Menschen?

Also hinaus in die Welt, und spüre diesen edlen Seelen nach; Sie werden Dich nicht aufsuchen. Gesteh' ihnen deine Noth und deine Thorheit, schäm' dich deines Elends nicht, und schütte deinen Kummer in ihren Schooß aus. Schon manchem weit Unglücklichern ist geholfen worden. Aber o wie blöd' bin ich, und wie zweifelhaft, ob auch dieses gute oder schlimme Eingebungen seyn! – Beßter Menschenfreund! O um Gotteswillen rathen Sie mir; sagen Sie es mir, ob das ebenbemerkte Mittel nicht noch das thunlichste wäre, mich von einem gänzlichen Verderben zu retten. – Ach! wär' es nur um mich allein zu thun! – Aber meine Frau, meine armen unschuldigen Kinder, sollten auch diese die Schuld und Schand' ihres Mannes und Vaters tragen; und die hiesige Moralische Gesellschaft, in die ich mich erst neuerlich, freylich eben auch unüberlegt genug, habe aufnehmen lassen, sollte auch diese frühe, und zum erstenmal, durch eins ihrer Mitglieder, gegen welches man ohnehin so manche begründete Einwendungen machte, so schrecklich beschimpft werden? O noch einmal, um aller Erbärmden Gottes willen, Herr Lavater! Nur um einen väterlichen Rath! verziehen Sie mir diese Kühnheit. Noth macht frech. Und in meiner Heimath dürft' ich um aller Welt Gut willen mich keiner Seele entdecken. Freunde die mich zu retten wißten, hab' ich keine; wohl ein Paar die noch eher von mir Hülf' erwarten könnten; dem Spott aber von Halbfreunden oder Unbekannten mich auszusetzen – Nein! da will ich tausendmal lieber das Alleräusserste[282] erwarten. – Und nun mit sehnlicher Ungeduld und kindlichem Zutrauen, erwartet, auch zuletzt nur eine Zeile Antwort von dem Mann, auf den noch einzig meine Seele hoffet,


Der in den letzten Zügen des Elends liegende,

arme, geplagte Tockenburger

H**, bey L***,

U.B.

den 12. Herbstm. 1777.

Quelle:
Leben und Schriften Ulrich Bräkers, des Armen Mannes im Tockenburg. Bd. 1–3, Band 1, Basel 1945, S. 278-283.
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