Godwi an Römer

[71] Wenn du bei mir wärest, mein Lieber! und ich könnte die Lampe auslöschen, und beim großen freundlichen Sternenlicht und dem ehrlichen Monde traulich Hand in Hand mit dir sitzen und plaudern, ich würde dir dann wahrer und wärmer alle die Freuden und Empfindungen ans Herz legen können, die mich seit unserer letzten Unterredung umarmen. Ich wandle nicht mehr in den finstern Gängen und düstern Gemächern ehemaliger Verdienste um das Vorurteil. Verdamme mich nicht mehr, daß ich vom äußersten aufs äußerste falle; du kannst sehen, daß ich den Weg der Zeit gegangen bin. Aus einem freundlichen Landhause in eine alte Burg und von da gar auf eine Ruine, an die der Einsiedler seine Wohnung gebaut hat. Ist dies nicht der Weg der Zeit? –

Ich lebe und liebe – denn was bleibt dem Leben ohne Liebe? – der Tod – in der Wohnung des Einsiedlers, von dem ich dir schrieb. Er hat sie in die Trümmer des Reinhardsteins, eines alten Schlosses, gebaut, um dort, wie er sagt, die Menschen seine Klagen nicht hören zu lassen, und ihre Lügen nicht zu hören. Die Großen in der Materie, die Ritterschaft, drängte sich in die Städte, um die Kleinen, die in der Zeit des Geistes mächtiger wurden, in den Schatten zu stellen; Raubvögel, die das Licht der hellern Sonne nicht mehr ertragen konnten, drangen sich der brütenden Henne als Gehülfen auf, und so wurde manches bürgerliche Küchelchen verbrütet, und so entstand das Motto: Sub umbra alarum tuarum. Faulenzer und Blödsichtige lieben sub [71] umbra. Das war ein großer Mann, der nicht sub umbra alarum Alexanders ruhen wollte, und ihn bat, er möge ihm aus der Sonne gehen. Werdos Glück haben sie auch verbrütet, und, da sie ihm nicht aus der Sonne gehen wollten, so hat er sich auf diesen hohen Berg geflüchtet, und sieht sie so aus der ersten Hand. Er sagte mir neulich: »Hierhin in die Trümmer des Faustrechts habe ich die Trümmer der Freiheit meines Geistes gerettet, denn, mein Herr, der Kuckuck jagt die Nachtigall aus ihrem Neste; die Menschen finden es grausam, weil sie es nicht taten, fangen sie sehr naiv in Schlingen, sperren sie in einen Käfig, schreiben die Geschichte der Stubenvögel und nennen sie Naturgeschichte, da sie doch gewiß eine Kunstgeschichte ist, blenden der Nachtigall die Augen, damit sie immer singt, schreiben ihren Gesang in Worten nieder, füttern sie mit gestohlnen Ameiseneiern, und lassen ihre Kinder etwa auch mit hölzernen Kuckucken aus Nürnberg dazwischenschreien.« – In dieser ganzen Rede lag eine seltsame Darstellung seiner Leiden.

Es ist mir sonderbar zu Mute hier, ich habe nie so gesellig eine Nacht so einsam zugebracht, es regt sich alles in mir nach Mitteilung, und doch ist mir die mittelbare des Schreibens etwas unangenehm.

Die Lampe verdirbt mir den Mond, er sieht über die Erde herab, wie der Trost über den Jammer, wie das platonsche Auge eines zwanzigjährigen Mädchens über ihren wallenden Busen. Er steht über dem Harem des Großsultans von Goldblech, wie der Orden Pour le mérite über dem Herzen der – und heißt doch ein Brotdieb der außerordentlichen Liebe und Diebe im Kleinen. So macht der Stern kein Herz, und der Mond über dem schlechten Wirtshause in J. hat noch keinem Ermüdeten eine freundliche Nacht gewährt. – Sieh, so stört mich die Lampe, daß ich den Mond lästere. Unten im Tale möchte ich auch etwas hemmen, das mir in meine Ruhe hineinlärmt. Eine Pulvermühle klappt durch die sanfte liebliche Nacht, wie der Puls der Kunst durch die Natur, wie der taktstampfende Fuß eines Musikers durch seine Melodien, wie der Pantoffel der Ehe durch die Liebe.

Senne heißt der Bewohner dieser sonderbaren Wohnung, deren Ganzes mich in eine schauerliche gerührte Stimmung versetzt.[72] Ich möchte auch hier wohnen, wenn ich alles verloren hätte, um das ganz genießen zu können, was jedem Edlen übrig bleibt, Natur, Ruhe, Erinnerung und innerer Friede.

Oben auf der Spitze eines großen Bergs liegt in einem Amphitheater, das ein dichter Eichenwald bildet, die Burg Reinhardstein, und in einem hohen großen Gewölbe, das in der Mitte des Gebäudes unter einer verfallnen Terrasse steht, hat sich Werdo Senne einige niedliche Gemächer anlegen lassen, die alle einer vollkommen reinen Luft und einer sehr schönen Aussicht genießen. Über sich auf der Terrasse hat er einen kleinen Gemüsgarten angelegt und einzelne Hügel um seine Wohnung her mit Weinreben bepflanzt. Vor dem Eingange des Gewölbes, der mit Epheu und Geisblatt umzogen ist, steht eine ewige Eiche; an sie hat er sich die Rasenbank hingebaut, auf der er seinen Schwärmereien nachhängt. Hier sitzt er oft halbe Tage lang, und singt Lieder zu seiner Harfe, die er meistens selbst dichtet. Er hat es auf diesem Instrument zu einer seltnen Fertigkeit und einem seltsamen Vortrage gebracht, denn seine eigne, durch gewisse Zufälle bestimmte Ansicht der Dinge und seine heftige Sehnsucht nach etwas, das er allein kennt, giebt seinem Spiel eine ganz eigene Modulation, die alles um ihn her zur Teilnahme bewegt. Ich habe mir eins seiner Lieder gemerkt, er singt es sehr oft, und es scheint mir, als läge viel Aufschluß über seinen Kummer darin.


Die Seufzer des Abendwinds wehen

So jammernd und bittend im Turm;

Wohl hör ich um Rettung dich flehen,

Du ringst mit den Wogen, versinkest im Sturm.


Ich seh dich am Ufer; es wallet

Ein traurendes Irrlicht einher.

Mein liebendes Rufen erschallet,

Du hörest, du liebest, du stürzest ins Meer.


Ich lieb und ich stürze verwegen

Dir nach in die Wogen hinab,

Ich komme dir sterbend entgegen,

Ich ringe, du sinkest, ich teile dein Grab.[73]


Doch stürzt man den Stürmen des Lebens

Von neuem mich Armen nun zu.

Ich sinke; ich ringe vergebens,

Ach nur in dem Abgrund des Todes ist Ruh.


Da schwinden die ewigen Fernen,

Da endet kein Leben mit dir.

Ich kenn deinen Blick in den Sternen,

Ach sieh nicht so traurig, hab Mitleid mit mir.


Bis jetzt hab ich wenig mit ihm gesprochen, denn er spricht nicht gerne, und ohne zurückzuschrecken hat er durch sein Betragen die Macht, alle Lippen zu verschließen. Die Ruhe um ihn her gleicht jener Ruhe, die jeden Gefühlvollen nach den Arbeiten eines reichlich verlebten Tages am stillen Feierabende ergreift. Ähnliches Schweigen ergriff mich, als ich die Opfer ihrer Meinungen, alte aus Frankreich vertriebene Priester, in unsern Promenaden mit Tränen im Auge ihr trocknes Brot essen sah, als ich den Greis Broglio, als ich den silberlockigen Condé, den Hut in der Hand, mit zur Erde gesenktem Kopfe auf Zeitungen warten sah. Ähnliche Ruhe wird mich ergreifen, wenn ich über die Berge von kalter fester Lava um den Vesuv herum wallen werde. – Er ruht und träumt nach dem Rausche, den wir uns zu trinken noch beschäftigt sind, und bang sehe ich nach seiner Ruhe und belausche seine lauteren Träume und passe sie meinem Rausche an. Spärlich spielen einige Silberlocken um seine Schläfe, wie ein paar freundliche Augenblicke seines Lebens um sein Gedenken, seine schwarzen Augen haben eine schauerliche Mischung von Liebe, Verleugnung und Stärke im Blick, sein Mund ist selten in einen freundlichen Ernst, oft in ein wehmütiges Lächeln gezogen. Wenn er steht oder sitzt, so vermißt man etwas in seiner Lage, und weiß nicht was fehlt, bis er die Harfe an seine Brust und seine Stirn an die Harfe lehnt. An diese Stellung scheint er so gewohnt zu sein, daß, wenn er die Harfe nicht im Arme hat, man ihn sonderbar findet. Mit der Harfe aber ist er mir ganz das Sinnbild der wechselseitigen Freundschaft und des Zutrauens. Er lehnt seine Stirn an sie, wie auf den Arm eines tröstenden Freundes, und klagt ihr seine Leiden. Sie ruht wie die Teilnahme und das Mitleid an seinem[74] Herzen, und scheint unter seinen leisen Griffen freiwillig ihm zuzuhören, und dann und wann in traulichen Worten ihm Trost zuzuflüstern. Er hängt schwärmerisch an ihr, wie die verwelkten Blumenkränze um ihre Saiten, und wenn durch eine rasche Erbebung des Instruments ein Blättchen von den Kränzen herabfällt, so schweigt er, und letzt, da ich ihn belauschte, rollte eine Träne über seine bleichen Wangen, und er sagte: »Wenn alle diese welken Blumen herabgefallen sind, so will ich nicht mehr weinen und nicht mehr singen, so will ich sterben.« Dann sang er:


Um die Harfe sind Kränze geschlungen,

Schwebte Lieb in der Saiten Klang:

Oft wohl hab ich mir einsam gesungen,

Und wenn einsam und still ich sang,

Rauschten die Saiten im tönenden Spiel,

Bis aus dem Kranze, vom Klange durchschüttert,

Und von der Klage der Liebe durchzittert,

Sinkend die Blume herniederfiel.


Weinend sah ich zur Erde dann nieder,

Liegt die Blüte so still und tot;

Seh die Kränz an der Harfe nun wieder, –

Auch verschwunden des Lebens Not,

Winken mir traurig wie schattiges Grab,

Wehen so kalt in den tönenden Saiten,

Wehen so bang und so traurig: es gleiten

Brennende Tränen die Wang herab.


Nie ertönt meine Stimme nun wieder,

Wenn nicht freundlich die Blüte winkt;

Ewig sterben und schweigen die Lieder,

Wenn die Blume mir nicht mehr sinkt.

Schon sind die meisten der holden entflohn;

Ach! wenn die Kränze die Harfe verlassen,

Dann will ich sterben; die Wangen erblassen,

Stumm ist die Lippe, verhallt der Ton.


Aber Wonn, es entsprosset zum Leben

Meiner Asche, so hell und schön,

Eine Blume. – Mit freudigem Beben[75]

Seh ich Tilie so freundlich stehn.

Und vor dem Bilde verschwindet mein Leid.

Herrlicher wird aus der Gruft sie ergehen –

Schöner und lieblicher seh ich sie stehen,

Wie meinen Feinden sie mild verzeiht.


Der Gram, unzulänglicher Trost und Täuschungen in seinen Erwartungen von der Wirklichkeit und ihrer Zeit haben den Kampf und die Niederlage seiner Seele in seine Gesichtszüge hingezeichnet. Er hat sich mit all seinen Kräften des Selbstglücks und der Beglückung zur Aschenurne seiner Freuden erschaffen gesehen, und die Inschrift auf dem Male, das auf seinen Trümmern steht, liest man in seinem irren Blick, dessen Sprache durch den Jammer, wie die Sprache der Gräber durch den Zahn der Zeit, verwittert ist. Sein Verlust muß unendlich sein, denn er sucht noch immer über der Erde mit seinen Augen hin, als habe er noch Kraft, diesseits eine Blume zu pflücken. Ach Römer! wie werde ich verglühen, da ich die Flamme noch nicht kenne, die mich durchlodert; o! es ist mehr als Lebenswärme, was mich ergreift, wenn ich begehre, was mir fehlt. Ich sehe die Natur um mich her ewig und unermeßlich, und wenn ich sie ganz verschlinge, wie sehr ich es kann, so bleibt es doch öde in meiner Brust, und mein Herz pocht so eintönig, so allein in meinem Busen. Alles ist Harmonie und Melodie, und verschwistert sieht sich alles in den Armen eines andern zum zweitenmal gelebt, zum zweitenmal beseelt; kein Spiegel meinem Bilde, kein Echo dem lauten verlaßnen Rufe aus meinem Herzen, kein Strahl aus der Seele eines Geschöpfs, der nur mir gehöre, kein Sinn für mich durch das Gepräge der Einzigkeit nur für mich belebt. Die Natur hat mich nicht gestimmt, daß jeder Künstler meine Töne mit dem großen allgemeinen Klang in Akkorde vereinigen kann. Freilich sprach ich anders in meinem vorigen Briefe, da war mir das Leben noch leicht, – jetzt ist es anders. Nur einer wird mehr als leichtfertige, tanzende Töne aus mir in das große Meer von Gesang hinüberweben.

Sonderbar ist es, lieber Römer, wenn ich alles dieses fühle, daß es mich ganz vernichtet, zu sehen, daß ich nur mich beglücken, nur mich befriedigen will, daß dieser Drang nach Liebe ein Bedürfnis ist, daß auch mit dem Bedürfnisse Liebe[76] und Freundschaft schwindet und wächst. Ist der Wunsch, seiner Liebe alles aufzuopfern, nur zur Selbsttäuschung in unsere Verbindungen gelegt? Ist mir denn das Gefühl, mich dem Ideale meiner kühnen Hoffnung uneigennützig, ohne Selbstliebe, nur ganz ihm hinzugeben, nur zur augenblicklichen Schmeichelei erschaffen, und sucht man uns den Egoismus nur wegzuraisonnieren, damit wir ihn uns zur Qual sich wieder in unsere lieblichsten Bilder von Menschenglück als einzig feststehenden Beweggrund eindrängen sehen?

Ich habe gesündigt. Die Natur spricht aus, was ich beklagt habe. Der Mond tritt hinter eine Wolke. Es ist dunkel und schwarz in der Nacht, und meine Lampe schimmert etwas heller durch das Stübchen. Da ist nun die Außenwelt, die Hoffnung und die Sehnsucht, die Tiefe des Himmels und die kleinen Sterne von meiner innern getrennt. Heller leuchtet das Lämpchen, aber nie hell. In meiner Brust ist eine weite Welt gewölbet, mein Egoism kann sie nicht erleuchten. O die Nacht! Ist der Mond für die Welt da und nur diese Lampe für mich? Im Dunkel herrschet Ruhe und Vollendung. Die Dämmerung erzeugt das Handeln und verdirbt den Raum, ich will ihr Licht nicht. Der Mond schwimmt leise auf dem ewig tiefen Meere der ewig hohen Welt über die Wolkenburg, wie die Natur über den Worten und Werken von mir Kind hervor. Stirb, Erdenlichtchen. Gute Nacht! Die Lampe verlischt.

Es ist schon wieder Tag geworden. Könnte ich dir das Erwachen eines Seligen im Elysium malen, den kein Freund, keine Liebe, den nur die Mühe im Leben begleitete, dem ein einsamer Tod die Augen zudrückte, dessen letzter Blick voll des sterbenden Lebewohls sich in keiner Träne eines Trauernden brach, und in ihn selbst zurück einen Trost sich senkte, dessen letzter Kampf mit der Liebe zum Leben wie Fesselgeräusche von kalten Kerkerwänden wiederhallt. Könnte ich dir ihn malen, wie er ausruft: »Ich war zu spät geboren!« wenn er in den Garten tritt, in dem alle seine Erdenfreuden als himmlische Blumen blühn, so hätte ich dir meine Empfindung, da ich an diesem Morgen in die Welt sah, in einem Bild zusammengedrängt, hingereicht. Mir selbst zu wenig, und der Welt zu viel, und umgekehrt, legte ich mich gestern abend nie der; mein Lager war ein mit Moos[77] ausgestopftes Ruhebett; und die Gastfreundschaft hatte durch ein liebliches Mädchen wohlriechende Kräuter drüber hingestreut. Die Handlung beschäftigte freundlich meine Sinne, und die Wirkung berauschte sie zum Schlafe. Guter, freundlicher Wirt, wußtest du, daß hier ein Schwärmer ruhen sollte, der deine Hütte entweihen konnte, weil du Kräuter und Blumen wie Hieroglyphen der Liebe und Unschuld um ihn streutest? Indem ich mit den Bildern spielte, spielten sie wieder mit mir, und ich schlief. Ein sonderbarer Ton weckte mich auf. Es war mir leid, daß es die Sonnenstrahlen nicht taten. Ich hätte mich dann eines höheren, einigeren Lebens freuen können. Die Morgenröte kämpfte spielend mit dem Grün der Weinblätter, die an dem kleinen Fenster, vom Morgenwinde bewegt, mir um die Wangen schmeichelten, als wollten sie mich mit meinen Wünschen versöhnen. Die Liebe hatte den Schmetterling geweckt. Die Sonne stieg leise hinter dem Gesichtskreise empor, und küßte die Scheidetränen der Nacht von den Blumen. Sie drang aus sich selbst empor, wie die Glut der Leidenschaft, und das Leben erwachte in steigendem Glanze, während die unbestimmte Trauer im Schleier des Nebels feierlich und verheißend in die Erde stieg. So werden die Seufzer der trauernden Witwe Seufzer der Liebe, und der Kranz schwebender Lichter blühet in Irrlichtern und Feuerwürmchen über Gräbern und Blumen. Die Tränen der Sehnsucht und der Hoffnung haben die Erinnerung umfaßt. Den Schleier des Kummers hebt die tröstende Liebe. Ihr Blick dringt in Mitleid in das Herz. Die zitternde Hand ordnet die vernachlässigte Locke. Man erkennt das Leben im Spiegel. Das Grab ist hinabgesunken, der Trost ist hingewandelt. Die Freude dreht sich wie Liebesneckerei um uns, und der Hochzeitstanz, der seine jubelnden Kreise durch unsere Sinne zieht, ertrinkt mit uns in Lebensallegorien, um die die Bürgerlichkeit mystische Vorhänge gezogen hat.

Unter meinem Fenster entwickelte sich ein freundliches Schauspiel. Ein junges Reh hüpfte durch den kleinen Garten bis an das Fenster unter dem meinigen, und raschelte blökend im Weinlaube, als erwarte es etwas. Dann eilte es gegen die Türe, durch die ein Knabe von etwa dreizehn Jahren trat. Der Knabe ging an einen verschloßnen Behälter, holte einen Bündel[78] Kräuter hervor, womit er das Reh fütterte. Alles das tat er mit einer heftigen Eile, und doch schien zwischen ihm und seiner Handlung eine traurige Ruhe zu liegen. Seine schwarzen Augen und die Züge seines bleichen Gesichts bewegten sich schnell, wie Takt ohne Ton, indes seine Haare kraus in dem Winde wehten. Er pflückte eine große Sonnenblume ab, und einige Buchszweige, steckte Taxus dazu, ging langsam nach einer alten Mauer an dem Turme dicht neben meinem Fenster, schwang sich mit einer unglaublichen Behendigkeit hinauf, setzte sich nieder, sang mit durchdringender Stimme ein Lied, das mit wenig Melodie in schnelle kurze Takte gedrängt war. Das Reh war zu ihm hinaufgesprungen, und legte ihm vertraut den Kopf in den Schoß. Dann und wann sah er mit Sehnsucht in die Ferne, indem er in einer kühnen Stellung auf der Fußspitze auf dem engen Rande der Mauer stand. Er schaute gespannt in die Weite, indem er die Hand gegen die Sonnenstrahlen vor seine Augen hielt; dann winkte er, sprang herab, und sein Begleiter ihm nach. Die Gartentüre ging auf, und so trat der Engel, von Gott zum erstenmale auf die Erde gesandt, durch die Türe des Paradieses. Ich stand mit meiner Unzufriedenheit hinter den Weinblättern meines Fensters so schamhaft wie der erste Mensch hinter seinem ersten Kleide. Ein Mädchen, weiß wie der Schnee, mit schwarzen Augen und Locken, wurde von dem Knaben heftig umarmt. Ich verschlang die schöne Gruppe. Das Reh hatte den Blumenstrauß im Maule, und drängte sich an das Mädchen, um ihr denselben zu reichen. Es schien mir, als hätten sich die Geschöpfe Gottes noch nicht veruneinigt und die Sünde die Gewalt noch nicht hervorgerufen. Das Ganze war so unwillkürlich, war so durch sich selbst entstanden, daß es so schön werden konnte. Meine Seele war in meinen Augen. Eine flüchtige Erinnerung meines Unmuts beschämte mich. Die ganze Szene lebte in mir, und doch sah ich nur das Mädchen. Der Knabe hing an ihrem Halse, wie ein kleiner Reiz der Schönheit, den wir nur bemerken, weil er unserm Auge erträglicher ist. In diesem einzigen Geschöpfe, in dieser Gestalt und der augenblicklichen Zusammenstellung ihrer Umgebung ward ich mit der ganzen Ordnung der Dinge versöhnt. Die ganze Welt wird uns lieb, wenn sie uns mit dem[79] Blick der Liebe ansieht; und wer die Sonne für das Auge der Welt ansehen kann, der muß glücklich sein, wenn sie scheint. Ich habe hier gesehen, daß Schönheit in der Welt wohnt, und daß diese Welt auch in meiner Brust eine Heimat hat. Das Ganze war zu überraschend, und meine Seele zum Empfangen solcher Bilder zu wenig vorbereitet, als daß ich sie ruhig in mir hätte bewirten können. In meiner Seele wechselten alle Gefühle in der kommenden und fliehenden Eile der Leidenschaft. Scham und Stärke, Liebe und Demut, kühne Hoffnung und kleinmütige Furcht eilten mit schmerzlichen Tritten durch mein Herz. Sehnsucht löste sie alle. Die Stimme des Mädchens zündete sie in mir an; ich sahe nicht mehr, ich hörte nur; oder ich sah, was ich hörte, denn ihre Töne waren freundliche helle Gestalten, sie trugen ein fremdes Gewand; es war eine fremde Sprache – ich konnte sie nicht verstehen. Wenn ich in Molly und Joduno etwas geliebt habe, und nicht alles, so finde ich in diesem Bilde gewiß beides. Es ist keine Kühnheit, daß ich dir sage, wie dies Mädchen ist, da ich sie nur sahe; aber ihre Erscheinung ist ein reines Wort für ihren Inhalt. Sie könnte nur schlechter sein, als sie scheint, und dann wäre sie schlechter als alle Schönheit. Molly, durch Erfahrung gewarnt, durch Umstände gezwungen, zwar kein Produkt der Kunst, aus eigenem Bewußtsein, ist dennoch durch fremde Einflüsse bestimmt worden. Sie ist gewiß vieles nie geworden, was sie hätte werden können, wenn die Natur an ihrer Wiege gestanden und sie als Jungfrau begleitet hätte. Sie ist kein Wesen, das die Mitgabe der Schöpfung ruhig zu einer eigenen schönen Wohnung erbaut hat. Sie lief nicht glücklich auf dem Meere des Lebens aus. Sie ist zurückgekehrt, und hat sich aus den Trümmern ihres Charakters und ihrer Meinungen mit ihren Erfahrungen ein Dasein gebildet, das ihr gerade deswegen angemessen ist, weil es allen andern auffällt. Sie hat nicht, was das Weib allein bezeichnen soll, das Schöne allein; sie hat nur das Große, das Erhabene, das uns aus dem Kampfe zurückbegleitet. Huldigung und Bewunderung ersteht und beugt sich in jedem, der vor sie hintritt, aber keiner wird es wagen, das Schöne in ihr zu suchen, das wir in dem Weibe suchen sollen, insofern es edel ist und uns angehört. Sie wird jeden erschüttern, ihn richtig[80] beurteilen und lieben, insofern es ihm gut sei. Ein Starker kann sie nicht lieben, denn er findet seine Größe nur in sich und wollte seine Schönheit in ihr suchen, wo er aber nichts finden kann als eine bisarre Erhöhung seines Wesens. Eigenliebe kann zu ihr hinreißen; man staunt und freut sich, wenn man geschmacklos ist, sich in so bunten und grellen Farben gekleidet zu sehen. Man liebt aber nicht, weil man sich nicht verschönert wiederfindet. Sie hat es durch die Kunst weit gebracht. Alle ihre Handlungen sind mit äußerer Anmut angetan, und tragen das Gepräge einer freien, vorurteillosen Moralität. Dieses ist auch der stete Ausdruck ihres Gesichts, in der Ruhe und Erregung. Aber jeder natürliche Mensch wird gerade durch diese Freiheit, durch diese öffentliche Entblößung von allen Vorurteilen zurückgeschreckt. Er ist gewohnt, daß die Natur in ihm leise und verschämt die Wahrheit entwickele, zu der er dann wieder das durchsichtige Gewand wird; – er erschrickt, wenn die Form von dem Geiste plötzlich wie der Schleier von der Nacktheit herabgerissen wird. Es giebt eine Ansicht der nackten Schönheit, die uns zur Demut niederzwingt. Das bürgerliche Leben ist zu sehr Kerkerdunkel, als daß wir es wagen könnten, plötzliches Licht hereinbrechen zu lassen – was uns demütiget, können wir nicht lieben. – Joduno, das gute, muntere Mädchen, konnte mich nur reizen, weil ich von jener kam. Die Welt spielte damals mit mir, und es war in mir eine unwillkürliche Erwiderung dieses Spiels, daß ich mit Joduno auch spielte. Sie war die erste, in der die Welt vor mich trat, und so kindisch, so zum Spielen geneigt. Mein Umgang mit ihr verschwindet in seinen Ursprung, in ein undeutliches Gefühl, das über meinem Herzen wie der Hauch auf dem Spiegel lag. Die seltsamen Zauberspiele Mollys und alle ihre Rätsel schliefen einen künstlichen Schlaf in mir, und meine ganze Aussicht war in einen düsteren, undurchdringlichen magischen Mantel gehüllt.

Quelle:
Clemens Brentano: Werke. Band 2, München [1963–1968], S. 71-81.
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