Joduno von Eichenwehen an Sophie Butler

[158] Du hast mich mit dem freundlichen Briefe recht in Versuchung geführt, und ich war nie so reich in meiner Einsamkeit. Unter zwei Freuden soll ich wählen – ich armes Mädchen bin an Freuden gar nicht gewöhnt.

Wenn du wüßtest, was auf der andern Waagschale liegt, und das ist etwas, was dich schier aufwiegen könnte. Ich soll auf einige Tage nach Reinhardstein zu meiner Otilie, ihrem Vater und dem kleinen Eusebio. Auch Godwi ist dort, und ich hätte ihn immer zuerst nennen dürfen.

Auf deiner Seite liegt eine große Stadt mit Spazierfahrten, Schauspielen, Bällen, neuen Moden, und du, liebes Mädchen, dich hätte ich wohl auch zuerst nennen können. Der Vater und[158] mein Bruder sind nach B. auf den Landtag gereist, und ich warte nur auf seine Antwort, ob ich zu dir kommen darf. Es ist mir sehr lieb, daß mein Bruder mit nach B. ist, er würde sonst mich sicher nach Reinhardstein oder zu dir begleitet haben. Nach Reinhardstein bringe ich ihn nicht gerne, weil er meine Otilie mit seiner Liebe quält, und bei dir, sieh, da möchte ich doch ein wenig brillieren; mein Herr Bruder aber hat gar keine Anlage zum Chevalier d'honneur. Nun weiß ich noch nicht, wer mich begleiten wird. Könntest du mir nicht einen deiner Brüder schicken? Ich will sehen, ob es der Vater erlaubt.

Ich freue mich recht sehr auf dich; wir wollen dann die kindische Zeit wieder aufwecken, die wir zusammen im Kloster verlebten. Ob diese Erinnerungen für dich noch reizend sein können, weiß ich nicht, denn du hast mit einem glänzenden, bunten Leben das alles vertauscht; aber ich, ich kann nimmer das zarte Leben vergessen, in dem wir so verschwistert nebeneinander einhergingen; die große, stille Laube, am steilen Abhange des Klostergartens, ist nirgends mehr in der Welt. Wie die Mühlen klappten, die Bäume rauschten, und sich unten alles in den dunklen Wellen eines lebenden grünen Meeres bewegte. Immer steht mir noch ein Abend im Sinn: der Bruder der Priorin und ein freundlicher geistlicher Herr waren angekommen, und es war ein großes Fest im Kloster. Nach Tische mußten wir beide das Ave singen, um den Fremden eine Freude zu machen, und es war uns so gut gelungen, daß uns erlaubt wurde, eine Bitte zu tun; wir besannen uns lange, damit wir die rechte tun möchten, und standen beide am Fenster, miteinander zu überlegen. Es war Abend und ganz dunkel draus, da ging auf einmal der Mond auf, und der Garten war so schön, die kleinen Springbrunnen rauschten so freundlich, daß du um die Erlaubnis batst, eine Stunde in den Garten gehen zu dürfen.

Als wir unten durch die dunklen Gänge gingen, da wurde uns sehr wohl; wir setzten uns in die Laube und sahen in das glänzende Tal hinab. Nachher merkten wir, daß der alte Gärtner noch wachte, wir klopften an sein Fensterchen, da kam er dann heraus, setzte sich zu uns in die Laube und erzählte uns, wie er sich als kleiner Knabe bei seinem seligen Vater erinnere, daß[159] hier in der Laube sich einmal ein wunderschöner junger Prinz in eine Nonne verliebt und sie nachher entführt habe. Wie der Gärtner fort war, sprachen wir noch lange von der Liebe, und wählten uns jede einen Ritter, und schufen an ihnen allerlei kleine Liebenswürdigkeiten, die wir teils an den Freunden unsrer Eltern, teils an unsern Gespielen bemerkt hatten, zum Heldencharakter um. Ich wollte einen lustigen, offenherzigen Ritter mit braunen Locken; er brauchte gar nicht alle zu besiegen, nur meine Lieblingsfarbe Himmelblau mußte er tragen, auch tanzen, singen, und nun, auch sehr zärtlich sein konnte er. Dein Auserwählter war schon viel preziöser und zusammengesetzter. Er hatte schon den Zug ins heilige Land vollbracht, du wolltest ihn zum Lohne seiner Arbeiten mit deinem großen schwarzen Auge freundlich anblicken, und ihn die Rätsel und Charaden deines Witzes auflösen lassen. Er war ein ernster, erfahrner Mann, voll Wahrheit und milder Majestät. Sein Auge mußte schwarz sein, und nicht einen süßen Blick wolltest du ihm verzeihen. Treue und Achtung war das eigentliche Band. Sein Gewand war grau, braun oder schwarz. Perlen durfte er tragen, und die feinsten Kanten zur Halskrause, aber alles echt und einfach; auch sollte er die Zither spielen, und du wolltest ihm verzeihen, wenn er Lieder der Liebe sänge. Aber die Erinnerung, die Zeit, die Zukunft müßte sein Vorspiel sein, er sollte sie zur Ehre der Damen singen, mit denen er in Frankreich getanzt, die er in Italien geküßt, unter deren Fenstern er in Spanien die süßeste Langeweile empfunden hatte, und am Ende sollte er dich küssen, einen ernsten Kuß der Überzeugung; dann griff er wieder in die Saiten und sang ein Lied von dir, in dem sich alles, seine bunte Welt und sein wilder, strebender Sinn, ruhig gelöst hatte. –

Wenn das Glöckchen zur Mette läutete, und wir traulich wie zwei verwünschte Prinzessinnen die langen Gänge an den vielen alten Bildern hinab ins Chor schlichen, machten wir bei einem von den Bildern immer die Augen zu, es war eine Martergeschichte, und mußten deswegen Gesichterschneidens halber stehend essen. Wir waren damals die Ältesten, und freuten uns, wenn es in das Chor ging, immer über die vielen fröhlichen kleinen Mädchen, die um uns her wallten, über die[160] neugierigen Nonnen, die die Köpfe zu ihren Türen herausstreckten, oder wie Gespenster um die Ecken herumschwebten. Wir konnten den eintönigen Gesang von den vielen Mädchen-Stimmen gar nicht mehr leiden, drehten an dem Rosenkranze und steckten die Köpfe zusammen, und ich sagte einmal recht offenherzig: »Ach! wenn doch unsre Ritter mitsängen.« Wir waren immer einig, nur ein einzigesmal haben wir ein paar Stunden geschmollt; es war, als dein Bruder deine jüngere Schwester gebracht hatte. Ich vergesse den Abend nie, die Nonnen huschten wie Geister um ihn her, und keine wollte ihn vor der andern angesehen oder gesprochen haben, und er scherzte mit allen. Du wurdest aufgebracht und weintest, weil ich in meiner Einfalt die Schwester Rosalie gegen dich auslachte. Sie wanderte so sonderbar bewegt mit deinem Bruder im Garten herum, und konnte gar nicht von ihm loskommen. Die Arme war deiner Tränen wohl wert, sie ist nun tot. – Wenn ich spröde, dummzierige Mädchen sehe, so wünsche ich sie immer ein paar Jahre ins Kloster, damit sie fühlen lernen, was die arme Rosalie fühlte. – Seitdem ich Godwi kenne, fühle ich, daß ich die Männer liebe, und daß nur sehr elende Weiber sie nicht lieben können. Ich freue mich auch sehr, viele gescheite und schöne Männer bei dir zu sehen. Es ist so totenstill hier im Schlosse, seit der Vater, Jost und Godwi fort sind, daß ich mich nicht getraue, aus meinem Winkelchen herauszugehen; das Fleckchen von unserm Garten, das ich aus meiner Stube übersehe, habe ich fast auswendig gelernt. Der Himmel allein ist es, der mich unterhält, die Wolken mit ihren tausendfaltigen Gestalten sind meine einzige Lektüre; bald suche ich Umrisse von Gesichtern, bald Schlösser, bald kämpfende Drachen und Schlangen in ihnen, und indem sie selbst immer leise zerrinnen, wird aus meinen einzelnen Arten ein allgemeines Dichten, ohne eigentlichen Stoff; doch lange dauert es nie, so steht Godwi mitten drinne. Oft sehe ich ihn in allen Ecken. Stundenlang sitze ich in dem Armstuhl auf seiner ehemaligen Stube; alles, was von ihm übrig ist, habe ich durchsucht, und ein Stückchen Papier, worauf er, indem er die Feder probierte, meinen Namen und seinen schrieb, liegt unter den heiligsten Blättchen meiner Brieftasche. Der Morgen, an dem er wegging, ist sehr traurig[161] für mich gewesen, ich wußte gar nicht, wo ich bleiben sollte; ich ging in meiner Stube an die Kommode, in der meiner verstorbenen lieben Mutter ihre Kleider liegen, nahm sie heraus und betrachtete die schönen Kanten und schwarzen Paladine, las in dem Kalender, in den sie geschrieben hatte, wann ich geboren war, und setzte mich dann an ihr künstliches Spinnrad, das mein Vater ihr zur Hochzeit schenkte, und spann, indem ich heftig weinte, um Godwi und die Mutter. Es ist so allein, es hallte alles wieder, ich klettere an jedem Schranke in die Höhe, um zu sehen, ob nicht etwas Vergessenes oben liege, das mich zerstreuen könnte. Die alte Margarethe hat alle ihre Gespenstergeschichtchen wiederholt, die Legende und hundert königlichen Jagdgeschichten habe ich durchgelesen und möchte fast, daß mir ein kleiner Schloßzwerg erschiene, und mir irgend einen geheimen Schrein voll der seltsamsten Sachen entdeckte. Aber ich glaube, fast alle meine Groß- und Urgroßherrn waren viel zu trockene Leute, als daß so ein poetisches Männlein bei ihnen hätte seßhaft werden können. Es ist mir wie einem Indianer, an dem eine herrliche Musik mit allen ihren blitzenden Tönen vorüberrauschte, die göttlichen Flammen schlingen sich um seinen unschuldigen Sinn, und er kann nimmermehr ruhen, weil er die glänzenden Töne vermißt, die in einem Augenblicke einen Himmel aufschlossen, den er nimmer wiedersieht. Godwi ist nun fort, ich finde ihn nirgends, aber er hat eine Begierde in mir entzündet, die er selbst nicht ausfüllen kann, eine Begierde nach Dingen, die ich nie kannte. Ich liebe Godwi nicht, denn er ist viel weiter als ich in allem Leben. Vieles, was ihn ganze Stunden beschäftigt, fällt mir gar nicht auf. Seine ganze Stimmung kann durch einen kleinen Mißton, durch eine auf andre gar nicht wirkende Wendung der Unterhaltung zerstört werden, und oft ergreift ihn wieder die größte Heiterkeit bei Dingen, die mich gar nicht rühren. Ich scheine mir viel zu arm für ihn. Er selbst liebt sich wenig, und oft hat er mir geklagt, er sei sich viel zu wenig gegen andre Menschen, die er kenne. Und nun sieh das Verhältnis: für mich waren die Empfindungen, die er in mir hervorbrachte, die unbegreiflichsten, höchsten, die ich je gehabt habe; er selbst, um den er sich so wenig bekümmert, war mein einziges Dichten[162] und Trachten. Wenn er scherzend sprach, mußte er mir oft vieles erklären, und wenn er ernst sprach, war er mir oft unverständlich, und doch hörte ich ihm dann gerne zu, ich hatte die Empfindung der italienischen Musik dabei, wo ich den Text nicht verstehe, oder sah ihm in die Augen, die ihm oft abtrünnig mit vielen Dingen umher ein ganz eignes Gespräch führten. Er verband immer die größte Delikatesse mit einer hohen Vertraulichkeit, und nie hat er mir von Liebe gesprochen. Wenn ich an ihn denke, wie er hier war, so zerfällt mir diese Zeit in eine Menge von Zusammenstellungen und Gruppen, unter denen einzelne mir besonders hervorspringen. Ich saß einstens in einer kleinen Gitterlaube mit ihm abends im Garten, ich sah ins Tal hinab, und er saß auf der Erde zu meinen Füßen, der Mond schien herein, und der Schatten der Gitterlaube fiel über seine Gestalt; wenn ich ihn ansah, so war mir es, als wäre er gefangen, aber nicht von mir, als wäre er gefangen von einer andern Welt. Da legte er seine Hände auf meine Knie, und bald auch seinen Kopf, und wir sprachen nur wenig mehr. Daß ich sagte: »Ich will schlafen«, und den Kopf auf den Arm legte, und daß er sagte: »Wir fangen an ganz stumm zu werden«, ist wahr, aber von beiden Teilen eine kindische Entschuldigung gewesen. Wir gingen sehr still zurück, er nur sagte etwas schüchtern: »Fräulein! würden Sie auch einem andern erlaubt haben, seine Arme und seinen Kopf auf Ihre Knie zu stützen, oder wollen Sie mir besonders wohl, und warum tat ich es?« Hier ging er auf seine Stube, und diese Fragen stehen beide ganz verlassen und nackt in unserm Leben; diese Fragen, an die sich eine Folge von schönen Rätseln und Auflösungen hätte knüpfen lassen. Den Abend vor seiner Abreise schnitt er meinen Namen in die Eiche, er ging dann auf seine Stube, um einiges in Ordnung zu bringen; ich blieb allein zurück und mußte seinen Namen unter den meinigen setzen, es kostete mir viele Mühe, und ich habe mir zweimal die Hand dabei verletzt.

Als ich gestern hinkam, um mich nach den Stunden umzusehen, die hier so schön gewesen waren, als er noch da war, sah ich das Wort Freunde unter die Namen geschnitten. Eine schmerzhafte Empfindung durchdrang mich, als ich diese Hinzusetzung las. Hatte ich mehr erwartet als Freundschaft, und[163] bin ich wert, daß er mir mehr gebe? Ach! ich törichtes Mädchen weinte, als habe er mir unrecht getan, und itzt sehe ich das Wort schon so gerne, daß ich es unterstrichen habe.

Diesen Mann nun soll ich sehen, ungestört, in der schönsten Gegend, bei der Einsamkeit und Einfachheit. Fühlst du wohl, wie schwer dies Gegengewicht ist? Und doch ist es besser, wenn ich ihn nicht sehe, da er mir nie mehr als Freundschaft geben kann, und die Forderungen meines Herzens noch so vorlaut sind. O, wenn du doch da wärst, liebes Mädchen, und mich zu dir fortreißen könntest; ich glaube doch, wenn du vor mir ständest, ich könnte Godwi vergessen.

Welche Veränderung in mir, wenn ich lese, was ich sonst schrieb – das war alles so leicht und so deutlich, wie ich es dachte, und itzt kann ich nicht einmal alles schreiben, was ich denke, die Worte fehlen, und doch finde ich viele Worte in diesem Briefe, die mir fremd vorkommen, die ich nie gehört habe als von Godwi. Auch denke ich vieles, was ich sonst nicht dachte und wieder von ihm ist. – Doch, was nützt das alles. Hier ist auch von ihm, und vielzuviel.

Wenn du mir schreibst, so sage mir, welcher von deinen Brüdern mich abholen soll, ob es der sonderbare undeutliche, ungezwungene, der sonderbare ernsthafte, zierliche oder der sonderbare trockne, spaßhafte ist. Jeder dieser sonderbaren drei Herren erfordert ein eignes Benehmen, bei jedem müßte ich anders in den Wagen steigen. Dem ersten muß man Zu trauen ohne Vertrauen geben, seine Schwäche nicht zeigen und ihm nicht sagen, daß er nicht gut sei. Der zweite duldet keine Schachtel im Wagen, er erfordert lauter Eleganz, und man weiß gar nicht, wie man ihn eigentlich ansehen soll, weil man noch keine englischen Patentblicke hat. Der dritte endlich fordert Duldung für Tabak, Widerspruch, Bisarrerie und Spaß. Darum zeige mir meinen Schutzgeist vorher an, damit ich in der Überraschung meine Rolle nicht fallen lasse. Lebe wohl!

Joduno[164]

Quelle:
Clemens Brentano: Werke. Band 2, München [1963–1968], S. 158-165.
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