Römer an Godwi

[203] Heute bin ich dazu gekommen, die zwei außerordentlichen Mitglieder des Bureau d'esprit zu beschreiben, ich habe mich geärgert.

Ich trete in die Stube, und will wie gewöhnlich gleich nach dem Heiligtume, dem Kabinette zu – aber eine Menge Hände fahren mir entgegen, halten mich auf – »pst – pst – still – sie ist krank – sie hat ein Nervenfieber.« –

Das ganze Vorzimmer rauscht von Teilnahme seufzende neue Stiefeln und rauschende seidne Kleider bezeugen ihre Teilnahme, und eigentlich nehmen diese Leute nur auf zwei Arten teil, erstens, indem sie noch teil an dem bißchen gesunder Luft der Kranken nehmen, und zweitens, indem in ihnen alle ihr Teil genommen wird, denn seitdem die erste erregende Potenz, die Brünette, krank ist, und zwar (wie der Arzt sagt) asthenisch, hat sie alle die höchste Sthenie überfallen, sie sind alle fade, man hört keinen guten Gedanken, alle ihre wunderlichen Frisuren sind nur wunderliche Frisuren, und hören auf, Arten von Verstand zu sein.

Ich ärgerte mich über die zwei außerordentlichen Mitglieder, weil der eine mit einer ungeheuren Prätension von Teilnahme der armen Sophie dicht vor das Lager gerückt ist, und ihr mit Gewalt jedes gesunde Wort, das sich ihr entwindet, dicht vor den Lippen wegfängt, es mit Ungeschicklichkeit in seiner zerstreuen wollenden Unterredung auffängt und ihr verwickelt[203] wie ein Rätsel zurückgiebt. Er weiß nicht, daß dies Mädchen auch in der Krankheit über seine kranke Gesundheit Meister ist, und mit einer geteilten Mühe ihm halb aus Gutherzigkeit seine Arbeit an ihrer Zerstreuung mühselig zu erleichtern sucht, und aus der frohen, natürlichen Wildheit ihres Geistes, die in diesem Augenblicke etwas mit Überreiz kämpft, wieder hingerissen wird, ihn zu verwirren. So versetzt er das arme Geschöpf in die schädlichste Arbeit und kann, indem er mit dem Unglauben an die Lage der Sache durch seine Eigenliebe und seine Höflichkeit zu kämpfen veranlaßt wird, nicht einsehen, daß er ihr schädlich ist, so wie sie aus dem ewig fatalen, und auf dem Krankenbette fatalen Motive, das die Franzosen Egard nennen, verhindert wird, ihn fortzuschicken.

Ich setze mich in der Vorstube schweigend auf den Fußteppich, höre unwillkürlich diese erbärmliche Konversation, denn ein Gespräch war es nicht, an, und lasse meine Blicke in der Stube herumschweifen.

Auf diese Weise tätig, erlitt ich, ohne zu wissen wie, die Handlung des zweiten außerordentlichen Mitglieds, durch die ich auch geärgert wurde.

Der Mann saß da und schnitt meine Silhouette mit der größten Gleichgültigkeit aus, und trifft meine Seele so wenig, daß er die herunterhängende Schlafmütze, die er dran geschnitten hat, ganz allein schnitt, weil er behauptet, ich hätte geschlafen; ja, denke dir, ich bin versichert, daß er meinen Schattenriß allein schnitt um der Schlafmütze willen, daß er mich an eine Schlafmütze hängen wollte.

Über die übelverstandne Schlafmütze bös, weil ich in demselben Augenblicke sehr traurig über die Konversation des ersten Mitglieds war und drauf studierte, wie ich ihn hinausspedieren wollte, beschwerte ich mich; er wollte sich entschuldigen und sagte:

»Ihr Profil ist so schön.«

»Deswegen sollten Sie es nicht in den Schatten stellen«, erwiderte ich.

»O schneiden Sie mir darum kein Gesicht«, fuhr er fort.

»O hätten Sie darum mein Gesicht nur ungeschnitten gelassen« – setzte ich hinzu. –[204]

Meine Antwort erregte Lachen, die Kranke ward aufmerksam und wollte das Ganze hören, und den Schattenriß sehen, und ich zog mich traurig zurück, daß ich, indem ich mehr Ruhe um sie zu bringen suchte, die Unruhe selbst veranlaßte.

So bin ich nun auf meiner Stube über beide geärgert, und kann sie dir beide beschreiben. –

Diese zwei Männer, die sich weder von außen noch innen gleichen, die weder in ihren Gesinnungen noch in ihrer Äußerung die mindeste Ähnlichkeit haben, können von einem Gesichtspunkte angesehen werden, daß sie das Produkt der nämlichen Ursache auf umgekehrten Wegen sind.

Zusammengeschoben machen sie ein verschobenes Viereck, und einzeln sind sie gleiche Dreiecke mit zwei spitzen und einem stumpfen Winkel, sie stehen, wie Figura zeigt:


Römer an Godwi [8]

Der erste hat den stumpfen Winkel nach oben, der andre nach unten gewandt, und keiner einen rechten in sich.

Des ersten Erscheinung wird sich leicht in dich drücken, ohne einzudringen noch zu bleiben, und des zweiten Erscheinung sich scharf, bleibend und schmerzlich eindrängen.

An keinen von beiden kannst du etwas erbauen, daß es zugleich fest und gerade stehe. Gegen den ersten kann sich dein Wesen höchstens schlafend anlehnen, und an den zweiten kannst du höchstens etwas hängen.

Der erste, der die gerade Linie zur Basis hat, steht fest, und der zweite, der den stumpfen Winkel zur Basis hat, schwankt entweder von einer Seite zur andern, indem er das Gleichgewicht sucht, oder steht auf dem stumpfen Winkel fest, indem er etwas unterschiebt, oder lehnt sich auf die linke oder rechte Seite, doch muß er dir ewig den spitzen Winkel entgegenhalten.

Das wäre das Allgemeinste, was man von ihnen sagen kann; nun will ich etwas in das Einzelne gehen.

Es giebt Menschen, die so geschäftig oder träge im Leben waren, daß sie nichts Eigentliches getan haben, noch irgend[205] tun können, indem immer eine Handlung die andre durchkreuzte, oder jedes Aufnehmen in sich das andere verlöschte. Das ist mit beiden der Fall.

Ich will den mit dem stumpfen Winkel oben B nennen, und den entgegengesetzten A.

B ist, der in der Trägheit lebte, ein Mensch der nie etwas getan hat, nie um etwas gekämpft, er sitzt auf seiner breiten Basis recht kommode, oder er ward vielmehr von Jugend an drauf gesetzt; so bequem, wie er dalag, hatte er weiter keinen Drang, als sich gelinde zu erheben, und hat es bis zum stumpfen Winkel in die Höhe gebracht. Er hat so viel genossen, daß er nicht mehr viel genießen kann, und schon so viele Genossen gehabt, daß er keinen Freund mehr haben kann. Da ihn nun alles langweilt, fängt er an, seinen Verstand zu gebrauchen, aber untersteht sich, nach seiner Aisance, die nun anfängt wirkliche Mattigkeit zu werden, nichts zu tun, als nach den Zipfeln der schönen Wissenschaften, geistreichen Umgangs und der Wohltätigkeit zu greifen, die ins gemeine Leben herabhängen. Er faßt nie mehr als einen Zipfel, und nie begreift er den Gipfel.

(Hörst du, ich werde poetisch, ich habe à contre-cœur einen Reim gemacht.)

Seine einzige Erhebung ist also nichts als folgendes –

Er legte sich zu Bette aus Wollust, wälzte sich drin herum aus Veränderung, blieb liegen aus Mattigkeit, und kann nun nicht wieder aufstehen, – aber über dem Bette des bürgerlichen Lebens hängt der Himmel der Kunst, und in jedem guten Himmelbette hängt ein Bettzopf herunter, an dem man sich in die Höhe ziehen kann – nun faßt er also diesen Bettzopf, diesen Zipfel des künstlichen Himmels, um sich in die Höhe zu bringen, und fällt wieder in die Kissen hinein. Wenn er so ein wenig in die Höhe ist, regen sich alle erdrückte Möglichkeiten in ihm, und er hat, solange er sich oben erhalten kann, einige gute Gedanken, Wünsche und eilfertige Taten, aber pumps fällt er wieder nieder.

Die Menschen sind zum Aufrechtstehen, zum Herumgehen gemacht, und so auch liegt ihnen das Herz im Leibe; wenn sie sich aber ins Bette legen, um immer drinnen zu liegen, kann nichts in ihnen handeln, sondern alles wird zur Verdauung,[206] es werden keine Weltmenschen, sondern Bettmenschen draus.

Sein Inneres ist auf vielfache Weise verschoben, und sein Äußeres gelinde aufgeschwemmt.

Könnte dieser Mann nicht durch die Liebe geheilt werden? Ja, wenn er die Liebe nicht meistens mit in sein Bett nähme; er müßte sich in Bettzöpfen ruiniert haben, so viele heruntergerissen haben, daß er sich keinen mehr kaufen könnte; dann müßte man ihm eine Liebe recht hoch von einem andern Himmel herabhängen, und weit von seinem Lager, weil, wäre sie ihm bei seiner Gewandtheit erreichlich nah, so würde er sich mit Gewalt herauslehnen, den Bettzopf ergreifen und durch sein Übergewicht abreißen. Ist das Band, an dem er sich hinaufziehen kann, aber weit von ihm, und recht hoch, so wird er sich entschließen, herauszusteigen, wird sich wieder ans Gehen gewöhnen, und endlich, um die Geliebte zu erreichen, sogar springen lernen.

Alles das könnte als eine Allegorie seiner Lage in einem Feenmärchen recht schön erzählt werden, am Ende würde dann die Fee, die ihn beschützt, aus dem Bettzopf eine herrliche Prinzessin machen, das Bett würde zu Asche zerfallen, der Betthimmel mit seinen seidnen Wolken zum Himmel werden, der über ihm strahlte, und er würde sicher bei seinem Geiste, seiner Leichtigkeit und seiner Übung ein achtungswerter, liebenswürdiger Mann sein.

Du weißt, daß ich in meinen Erzählungen immer den Menschen und den Bürger trenne; ich sprach hier nur vom Menschen, insofern er sich von der Basis erhebt: als Basis ist er Bürger und, feststehend, solid und durch seine große Fläche tätig, ist er als solcher ein rechter Quaderstein seines Standes, ein achtungswerter, geschickter, fleißiger Bürger –

Wenn er wüßte, lieber Godwi, daß ich dir dies schrieb, und könnte es wahr fühlen, und könnte begreifen, wie ich ihn bei allem dem mehr als irgend einen seines Standes liebe, die meistens ganz auf dem Ohr liegen; wenn er begreifen könnte, wie ich ihn mit Rührung und herzlichen Wünschen den Bettzopf mit seiner Sehnsucht in die Höhe ergreifen sehe; wenn er wüßte, wie sehr ich den Menschen und den Talern böse bin,[207] daß sie ihn so zurichteten, und könnte darüber traurig werden und keinen Groll hegen: so wäre noch Hoffnung für ihn, und ich wollte dem Himmel danken.


A war so tätig, so geschäftig, daß er nie was getan hat; bei seinem übergroßen Drang aber ist er mit der ganzen Fläche nach außen auf sein Schicksal losgegangen, und sein Schicksal war tausendschneidig und tausendfach, das siehst du an seiner Fläche, die er nach außen kehrt.

Er ist nicht leise von der Seite und offensiv seinem Leben entgegengegangen, sondern die Augen zu, durch einen Hagel von Widerwärtigkeiten, tappte er blindlings nach dem, was er erreichen wollte, und hatte es nur in sich; denn indem sein Höchstes in ihm pochte und rief: »Ergreife mich, bilde mich, stelle mich ins Leben«, und seine Aufmerksamkeit durch das ewige Balancieren, indem er, auf seinem stumpfen Winkel stehend, nie Ruhe hat, sondern von einer Seite zur andern fällt, geteilt, diese Stimme nicht verstand: so fühlte er sein Innres nicht als Ruf, sondern bloß als Stoß, Reiz, Sehnsucht, und tappte nimmer findend vorwärts.

Er hat daher alle Spuren des Lebensstreites auf seinem Äußern, sein Körper ist ein vernarbter derber Krieger, aber seine Muskeln sind durch dasselbe abgehärtet. Er ist kein zerstörter, nur ein markierter Mensch; er ist nicht gebildet, nur geübt; er ist kein geschickter, nur ein abgehärteter Mensch.

Stoße einen Menschen, der ein Dichter oder ein Philosoph werden sollte, in das Brausen einer Staatenumwälzung, und mache, daß er, seine Oberfläche nach außen, alle Zerstörungen derselben auffangen muß, gieb ihm dabei keinen festen Punkt, weil er das in sich nicht entwickelt und zur Stütze gemacht hat, was ihn halten kann; gieb ihm dabei Glut, Liebe, Feuer, gieb ihm Ehrgeiz, sich aufrecht zu halten, laß das Ganze los, daß die innre Wildheit ihn treibe und die Wellen der kämpfenden Außenwelt über ihm zusammenschlagen – und du wirst in der Erscheinung sein Leben sehen.

Alles das, durch Dauer und Dauerhaftigkeit zur Gewohnheit, zur Natur geworden – hier ist A. Es ist angenehm, mit ihm zu leben, er ist treuherzig, wenn es sein Witz erlaubt, vergnügt,[208] immer voll Hoffnung, und ewig derselbe; wird nicht aufgerieben werden, er wird einstens zerbrechen, das ist die Art seines Untergangs.

Nun bin ich ruhig, und will, da du dir nun alle Glieder des Bureau d'esprit denken kannst, den Ort der Versammlung, insofern er ein Produkt der Brünette ist, beschreiben.

Die äußerst einfache, doch krause, harmonische, doch bunte Meublierung der Stube zeigt gleich, daß hier ein Weib haust, das die Welt und ihren Inhalt in sich hält, und das nichts in seine liebenswürdige Caprice, sondern seine liebenswürdige Caprice in alles trägt.

Sie herrscht hier, ohne es scheinen zu wollen, aber alles, was man hier mit geistigen Fühlhörnern und den Händen berühren kann, ist so von ihrem Sinne übergossen, so von ihr ausgegangen, daß man an keinem Orte der Welt auf eine angenehmere Weise seinen Willen nicht hat.

Sie ist ein vollkommnes Wesen, das in allen Saiten, die über die Tonweite ihres resonannten Daseins gespannt sind, ewig erklingt, und wo sie ist, ist sie auch so in das ganze Irgendwosein verwebt, daß sie in allen Punkten des Irgendwos wiedertönt.

Was sie beherrscht, und was sie umgiebt, ist die Variation ihres eignen Themas, doch leider schon mehr Gesellschaftslied als göttliches Gedicht.

Und wenn ich sie auf ihre Möglichkeit, die unmöglich geworden ist, nicht zurückgeführt, gerade wie sie ist, auf Noten setzen könnte, so müßte sie selbst mit ihrer sehr künstlichen Resignation das ganze Bild, auf ihrem kleinen Klaviere, mit ihren kleinen Fingern spielen, mit ihrer feinen Stimme singen, damit es nicht allerliebst langweilig klänge.

Denn wäre in dieser kleinen irdischen Hütte nicht ein einziges, schön gewölbtes Fenster (sie hat nur ein Auge), auf das von außen die Sonne der Welt blitzte, und durch das von innen die andächtigste, zarteste Seele einer Sakontala die Augen gegen den Himmel höbe, so könnte man bei den vielen Manieren und der Eleganz die ganze Erscheinung leicht für so leicht als eine erhabene Gartenverzierungsidee halten.

Lebe wohl! morgen kömmt Joduno.

Römer[209]

Quelle:
Clemens Brentano: Werke. Band 2, München [1963–1968], S. 203-210.
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