Fünfzehntes Kapitel

[290] Haber stellte im Bette noch viele Betrachtungen an, und versicherte mich seiner Freundschaft; dann sagte er:

»Obschon ich noch nicht ganz von der Idee kommen kann, Sie für etwas böse zu halten, so halte ich Sie doch nicht mehr für platt. Sie haben ohnstreitig eine gewisse Macht über die Gemüter, doch sollten Sie sich mehr applizieren, und nicht so vom Beispiele hinreißen lassen.«

»Ich danke Ihnen, und bin eben im Begriffe, mich zu applizieren, nämlich abzuschlafen; das Beispiel tut bei mir, wie Sie sagten, leider alles, also schlafen Sie wohl.«

Ich versuchte hin und her, und Haber schnarchte schon; aber sein Beispiel, so stark es auch war, nützte nichts, und er hatte Unrecht; ich kam immer auf den Gedanken, ich müsse mich erst auf die Applikation applizieren, und so kam ich nicht zum Schlafe. Es war eine helle Nacht, und nicht sehr kühl, meine gereizte Stimmung ward mir nun selbst zur Betrachtung; alles was sie abends so kaudisch umfaßte, beschäftigte mich nun einzeln. Ich fühlte, daß ich auch mehr genossen als andere, und gab mich zufrieden über die Leiden. In solchen Gedanken schlummerte ich ein, und erwachte dann wieder.

Ich bemerkte Lichtstrahlen, die durch den Fensterladen fielen, und kleidete mich deswegen an, machte das Fenster auf, aber es war Mondschein und um drei Uhr.

Meine Aussicht war sehr reizend, das Fenster ging in den Garten, eine gebildete Wildnis, und mitten unter den träumenden grünen Bäumen stieg eine hohe weiße Marmorgruppe zum Himmel. Ich erkannte bald, es müsse Violettens Denkmal sein, denn ich bemerkte über dem Ganzen einen gehobenen Arm mit einer Lyra.

Der Mond stand hinter der Lyra, und es war mir, als ströme ein mildes leuchtendes Lied durch ihre Saiten. Ich stand, und suchte neugierig das Bild in der Dunkelheit zu enträtseln, aber es war zu unbestimmt, es war mir wie ein Wort, das man fühlt, und nicht sagen kann.

Meine durch das Wachen überreizte Augen wurden durch das stete forschende Blicken auf das mondglänzende Bild noch[290] unbestimmender, und bald schien mir der ganze Garten durcheinander zu wallen.

Ich lehnte, am Fenster sitzend, den Kopf auf den Arm, blickte mit sinkenden Augen hinaus, und der Eindruck der Aussicht verlor bald so sehr die Gewißheit einer Aussicht, daß ich nichts mehr vom Garten, noch von mir wußte, und es war mir, als wäre ich das alles zugleich und läge in einem gelinden Traume.

Da der Mond aber etwas gesunken war, und tief unter der Lyra stand, sah ich schöne runde, glänzende Hüften und zierliche Füße und sinkendes Gewand. Ich sah mit vieler Liebe nach den kernichten Hüften, und den netten feinen Füßen, und ärgerte mich mit vieler Aufrichtigkeit, daß ich den Busen nicht sehen konnte. Der Arm mit der Lyra lockte mich nicht, denn eine Leiergestalt ist sehr tonlos; aber solche weibliche, sanft und fest gewundene Formen können mir alle Saiten im Busen erklingen machen.

Ich ärgerte mich über den gehobenen Arm mit seiner Leier, und sagte im gierigen Unmute meiner Lust:

»Der kalte Genius, da hängt das göttliche nackte Leben an ihm, und er hebt die Leier stets gen Himmel; ha, wie wollte ich sie an die Erde werfen – da liege du alte Leier! – und das Weib wollte ich heraufziehen mit liebender Wut; in die Arme wollte ich sie nehmen wie ein Kind; der Mond sollte trunken durch die niederfließenden Locken blicken, als sei er freigegeben; stand er doch hinter den Saiten der Lyra, wie hinter einem Kerkerfenster; und opfern wollte ich sie emporgehoben, wie der Priester opfert; die ganze Natur würde niederknieen und ans Herz schlagen, wie das Volk, und hätte sie gesprochen, wie der Göttliche sprach – Nimm hin, das ist mein Leib – o wie sollte sie unter meinen glühenden Küssen in mich selbst zerrinnen, und ich in sie.«

Ich konnte nun nicht mehr länger auf der Stube bleiben, der ganze Garten schien mir wie lebendig und in wunderlichen fantastischen Wesen der Nacht begriffen.

Es war mir, als sähe ich auf den Markusplatz in Venedig in der Karneval, alles strömte durcheinander, und die einzelnen Farben, die unter verschiedenen Gestalten immer wiederkamen, flossen zusammen; Schatten und Licht rannen in spielender Beweglichkeit[291] durcheinander, und kaum verfolgte ich eine Gestalt, so war sie zu hundert andern geworden. Oben über allem hervorragend, wie die künstlich gewundenen Strahlen eines ungeheueren Springbrunnens, wie wundersam spielende Flammen eines weißen reinen Feuers zum Himmel, drang das Bild Violettens zum Himmel über alle das dunkle Gewirre empor, die Apotheose eines verlornen Kindes, die wohl auch einstens da unten mit Schmerz im Herzen, und wilder Lust in den Gliedern, herumwandelte, aus der verwirreten Freude die Grundlage aller Freude in einem Einzelnen zu entwirren – um zu leben – das ist schrecklich, und ich mußte nun hinunter, den armen Kindern Trost zuzusprechen, die vielleicht noch da wandelten.

Ich stieg das Fenster hinab an dem Rebengeländer, welches die Mauer bekleidete, aber unten verliert sich alle der Reiz, der nur bei der Ansicht von oben herab mit von oben herabkömmt. Nun stand ich zwischen den Bäumen, die sich bewegt hatten, da ich nur ihre Gipfel sah; sie wurzelten fest im Boden, alles war wieder von mir getrennt, und ich war allein und einsam.

Ich setzte mich auf die Stufen des Bildes und war ruhig.

Quelle:
Clemens Brentano: Werke. Band 2, München [1963–1968], S. 290-292.
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