Sechsundzwanzigstes Kapitel

[361] Fortsetzung der Geschichte der beiden Schwestern


Marie und der Vater waren sehr stille auf ihrer Fahrt nach dem Gute der Gräfin; sie waren lange nicht im Freien gewesen, ihre Gemüter waren gleich ruhig, sie hatten sich nichts mitzuteilen, und es war ihnen beiden, als wären sie allein; doch fühlten sie eben durch dieses stillschweigende doppelte Dasein ineinander dies Alleinsein nicht. –

(Dies mag wohl das eigentliche Wesen der Freundschaft sein, das so selten lebt, ohne wirkliche Vermischung – bloßes stilles wohltätiges Gefühl der schönen Umgebung, das Nebeneinanderströmen harmonischer Töne. Der Freund kann nichts, als unser Selbstgefühl aufheben, in dem er das seinige verliert, und sich wohl befindet. Wo man die Freundschaft selbst fühlt,[361] giebt einer oder der andere zu viel oder zu wenig, und hat die Sache ihr Ende. Sie ist bloße Verstärkung des Daseins, und Verminderung des Selbstgefühls im allgemeinen Medium des Lebens; aus den Einzelnen macht sie eine Summe, stellt sie dem Mächtigen entgegen, und macht den Begriff Volk allein ehrwürdig, im Gegensatze des Begriffes Herrscher, Weiser, Dichter. – Sie setzt in der höchsten Unschuld keine Notwendigkeit der eignen Gattung voraus, der natürliche gesunde Mensch ist ebenso Freund mit dem Licht und dem Dunkel, den grünen Bäumen, seinen Werkzeugen, Werken und Gedanken, als seinem menschlichen Freunde; ja die Freundschaft mit dem Menschen insbesondere ist Folge der verlornen Unschuld, es liegt ein Zusammentreten gegen die Natur, etwas Feindseliges und Boshaftes in der bloßen Freundschaft mit seiner Gattung, und sie folget dem Verluste der Eigentümlichkeit und der Kraft des Einzelnen, der die Natur nicht mehr zwingen kann und eine Menge gegen die größte Einheit bilden will, um sich ihr entgegenzustemmen. –

Zwischen zwei Menschen, von denen einer sich die Welt nimmt, und der andre sich der Welt giebt, kann sie nie stattfinden, denn in ihr kann sich keiner geben und kann keiner nehmen, sie ist bloßes Dasein ohne Tätigkeit. – Sie ist daher bloß im Frühling und Winter des Lebens, im Spiel und der Ruhe – wo uns der Zweck beherrscht, kann sie nicht sein.)

Am Abend kamen sie dem Schlosse näher, und ihre Begierde, Annonciaten zu sehen, war größer; Marie hatte lange nach dem milden Lichte des Himmels gesehen, und sagte zu ihrem Vater, mit Tränen in den Augen:

»Wo mag jetzt Joseph sein? Es ist mir oft, als wäre er doch gar zu weit von uns, als würde er nicht wiederkommen. – Annonciaten verstehe ich jetzt viel mehr, Vater! und es ist mir, als habe sich eine stille Ähnlichkeit mit ihr in mir gebildet – ich kann es nur nicht so sagen, ich bin nicht so stark« –

»Warte nur, bis Joseph wieder kömmt,« sagte Wellner – »Du sehnst dich nach ihm« –

»Wohl sehne ich mich nach ihm, aber es ist noch mehr; mit ihm ist es nicht all – Wie wohl Annonciata sein wird? Vater,[362] sie hat uns lange nicht gesehen, ihr Herz, ist so gut, sie wird recht gerührt sein, uns wiederzusehen.«

Unter solchen Worten fuhren sie den Schloßhof hinein. Es machte ihnen ein alter Diener auf, und sie wunderten sich, daß in dem Hause der reichen Gräfin so wenig Geräusch war.

Der Alte führte sie langsam die Treppen hinauf, es war ihnen unheimlich zu Mute. Man brachte sie in das Zimmer der Gräfin; – diese saß allein bei einem Lichte auf dem Sopha, und als sie Wellnern und Marien hereintreten sah, schrie sie laut auf, – »o Gott, o Gott!« – und sank ohnmächtig auf die Kissen, – Marie kam ihr zu Hilfe, ein Kammermädchen trat herein und vereinigte sich mit ihr, und Wellner stand in einer großen Angst an das Fenster gelehnt –.

Als sich die Gräfin zu erholen anfing, bat das Kammermädchen Wellnern und Marien, in das Vorzimmer zu treten –

Hier waren sie stille, ohne ein Wort zu sprechen, Marie setzte sich nieder, und konnte vor Schreck nicht weinen –. Eine kleine Weile drauf brachte man sie in eine Stube, wo sie die Nacht zubringen möchten; Wellner fragte nach seiner Tochter, und die Dienerin verließ mit dem schmerzlichen Ausruf die Stube: »Ach das ist es, daß Gott erbarm, das ist es!«

Wellnern war es nun gewiß, daß sein Kind gestorben sei, Marie war untröstlich, und wurde sehr krank in der Nacht; eine Wärterin und Wellner blieben bei ihr, der Arzt wurde aus der Stadt geholt. –

Die Wärterin erzählte Wellnern, daß Annonciata nun schon zehn Tage verloren sei; man wisse nicht, wo sie hingekommen sei; sie sei abends in den Garten, wie gewöhnlich, allein gegangen, aber nicht wiedergekommen; und wie man den Teich abgelassen habe, aus der Vermutung, sie sei hineingefallen; wie alle Leute der Gräfin nun zum zweitenmal abgereist seien, da sie das erstemal keine Nachricht erhalten hätten.

Die Gräfin sprach den folgenden Tag mit Wellnern, und beruhigte sich, da er sie gern schuldlos erkannte. Sie konnten keine andre Idee fassen, als Annonciata sei geraubt, weil sie bei jeder andern Art von Entweichung sicher einigen Trost für die Zurückbleibenden dagelassen hätte.

So war dieser traurige Abend –[363]

Alle Nachforschungen wurden verstärkt, ein ganzes Jahr hindurch emsig fortgesetzt, aber umsonst –

Wellner grämte sich sehr über diesen Verlust, und Marie ward immer stiller und schwermütiger; sie stand oft abends an ihrem Fenster allein, wo sie sonst mit Annonciaten gestanden, und fühlte nun alles, was ihr jene damals gesagt hatte.

Von Joseph fehlten schon elf Monate die Briefe: der Vater wußte gar nicht, was er Marien sagen sollte, wenn sie nach Briefen fragte. Diesen beiden Menschen war alles zerstöret, was sie mit der Zukunft verband, und sie erschraken vor jedem Stundenschlag.

Marie war wohl noch trauriger als Wellner, doch versteckte sie ihren Schmerz, und suchte ihn zu erheitern –. Annonciaten wiederzufinden, gaben sie die Hoffnung beinahe auf – und auch der Gedanke an Joseph ward schon dunkler und trauriger –. Wenn Wellner in den Handlungsbüchern blätterte, und sah, wo er geschrieben hatte, kamen ihm oft die Tränen in die Augen. –

Es war nun schon beinahe anderthalb Jahre, daß Joseph nicht geschrieben hatte, als Godwi5, ein Engländer, der Sohn einer reichen Handlung, nach dem Wohnort Wellners kam. Er war ein schöner feiner Mann, von seiner Familie mit einem Kredite empfohlen, der beinah Wellners Vermögen überstieg, und dabei sehr einfach und erst bei aller seiner Freimütigkeit; er gefiel diesem sehr wohl, und auch er befand sich gut bei Wellnern und Marien, und brachte seine meiste Zeit bei ihnen zu. –

Er wußte sich bald ihres Vertrauens zu bemeistern, und zog nach einiger Zeit ganz ins Haus. Marie war ihm gut, und er liebte sie schon sehr – doch war es nicht zum Geständnis gekommen, weil er zu oft Zeuge ihrer schmerzlichen Erinnerung an Joseph gewesen war. –

In Wellnern regte sich oft das Gefühl, daß er nicht mehr lange leben würde, dann sah er mit Trauer auf Marien, und sehnte sich heftiger nach Josephen – aber dieser blieb aus, und alle Nachricht von ihm.

Manchmal, wenn er sah, wie Godwi sich um Marien bewegte, faßte er den Mut, an die Möglichkeit zu glauben, der reiche[364] Engländer nähere sich seinem Kinde mit ehrlicher Liebe, leichter aber hielt er es für Freundlichkeit oder Sitte.

Er ward nun täglich stumpfer, und hatte wenig Freude mehr an seinem Geschäfte. Bald aber erhielt sein Glück den heftigsten Stoß, mehrere fehlgeschlagene Operationen und ein großer Banqueroutt machten ihn unzahlbar, – er war in der größten Verzweiflung – und beinahe auf dem Wege, sich sein Leben zu nehmen. Diese Gemütsstimmung empfand Marie schmerzlich: sie hatte schon einige Tage bemerkt, daß er sehr traurig war, ihr auswich, und wenig bei Tische aß. Die Verschlossenheit ihres Vaters gegen sie bei einem sichtbaren Leiden war ihr sehr drückend; sie hatte es nie erfahren, und konnte nur glauben, sie selbst sei schuld daran, sie müsse ihn sehr gekränkt haben, daß er nicht einmal mit ihr sprechen könne. Wenn sie auch alles überdachte, so konnte sie nichts in ihren Handlungen finden, bis sie endlich vermutete, ihrem Vater mißfalle ihre unbefangene Vertraulichkeit mit Godwi, und er denke Böses von ihr.

Dieses bewog sie zu einer Kälte gegen den Engländer, welche er sehr unverständlich fand. Zwei Tage war diese allgemeine Spannung im Hause –, als es endlich zu einer Erklärung kam.

Wellner, Godwi und Marie saßen abends zu Tische, alle stumm und traurig. Gegen das Ende konnte Marie es nicht mehr verbergen. Wellner hatte sie sehr wehmütig angesehen, sie konnte ihren Schmerz nicht mehr halten, die Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie verließ laut weinend die Stube. Wellner folgte ihr mit den Ausrufungen »Gott, Gott! du armes Kind!« in die Nebenstube. Godwi saß nun allein an dem Tische, spielte mit dem Messer, und fühlte jene fatale Ruhe der Selbstverachtung, um die sich schöner Schmerz bewegt –, er sang ohne zu wissen die Worte: God save the king, und setzte mit einem fürchterlichen Bewußtsein die Worte: and damn me, dazu. –

Er stand auf, ging schnell nach der Türe, und blieb starr vor ihr stehen, als er Mariens Worte hörte: –

»O lieber, lieber Vater, ich liebe ihn nicht, ich liebe Godwi nicht, o denkt nichts Böses von mir –«

Er hörte erstaunt folgendes Gespräch, und in seinem Herzen waren viele schmerzliche Anklänge, die wir bald verstehen werden –[365]

»Liebe Marie, das ist es nicht, was mich ängstigt; o wie konnte ich deinem armen Herzen diesen Schmerz lassen!«

»Wir sind sehr unglücklich, lieber Vater, Annonciata ist verloren, Joseph ist verloren, ach und euer Vertrauen ist verloren, ach mein Vater, gebt mein Einziges nicht so hin!«

»Das ist es nicht, Mädchen, das nicht, (hier hob er hart und kalt die Stimme) aber ich bin ein Bettler, bald, bald, und du die Tochter eines ehrlosen Bettlers.« – Der Engländer bebte, und ward ruhiger, eine Zeitlang hörte er nicht mehr sprechen, – dann erhob Marie ruhiger die Stimme –

»Lieber Vater, nur das, o das ist es nicht, ich verstehe es vielleicht nicht, aber das wird uns nicht unglücklich machen. – Leben, – das bißchen Leben wollen wir gewinnen, und nach uns wird doch niemand kommen, der von uns begehrt; wir werden allein sein, und lebt nur ruhig, sterbt ruhig, ich will ruhig nach euch sterben.« –

Godwi verließ die Stube, und ging nach seinem Zimmer, wo er alles empfand, was ein Mensch leidet, dem das Leben durch innere Fülle und äußeren Überfluß lange so leicht als Tugend und Laster war, und der mit wenigem geretteten Selbstgefühl in die Geschichte einfacher liebender Menschen tritt, ohne doch von diesen eigentlich als ein Wesen anerkannt zu werden, das wirklich teil an ihnen hat.

Quelle:
Clemens Brentano: Werke. Band 2, München [1963–1968], S. 361-366.
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