Siebenundzwanzigstes Kapitel

[366] Der Godwi, den ich hier nannte, ist unsers Godwis Vater. Ich las diesem vor, was ich schrieb, und er gab mir einige Blätter seines Vaters, die er in der Zeit seines Lebens bei Wellner, und auch an jenem Abend niedergeschrieben hatte: sie könnten eigentlich alle an diesem Abend, geschrieben sein, weil sich an ihm alles sammelte, was er damals empfand. Diese Blätter sind lauter Bruchstücke von Erinnerungen aus seinem Leben, die ihm zu Empfindungen wurden, und die sein Sohn historisch selbst nicht genau kannte. –

Ich setze davon das Merkwürdigste hieher, um seine Geschichte aus seinen Empfindungen den Lesern vermutlich zu[366] machen. – Es wird ihnen um so leichter werden, dieses zu tun, als es sehr viele Menschen giebt, denen alles leicht und das Bedürfnis dringend war. Ich lasse diese Fragmente ohngefähr so folgen, wie sie mir in der Zeit gefolgt zu sein scheinen –.


»Ich möchte oft lachen und weinen über meine sogenannte Ungeschicklichkeit im Leben, die doch nichts als eine wunderbare Überzeugung bleibt, daß alle Geschicklichkeit lächerlich ist – ich bleibe immer stehen, komme nicht weiter, wenn ich irgend eine Geschicklichkeit erlange, denn ist Geschicklichkeit etwas an ders? als: bei einer Sache länger verweilen zu dürfen, als es schicklich ist. –«


»Es zieht mich alles an, aber ich stehe immer im Zweifel, ob ich willkommen bin; nähere ich mich einer Sache, so möchte ich meine Verlegenheit nicht merken lassen, und mache alle Wissenschaften in mir irren; wenn ich dann sehe, daß sie sich in mir geirrt, so sage ich etwa, kann ich die Wissenschaft betrügen, so kann sie das Leben auch betrügen, und sie weiß wohl nicht, was sie will. Ich achte ihren guten Willen, aber ihr Wissen kommt mir verdächtig vor.«


»Mit ist sehr wohl über alles, was ich nicht weiß; was ich weiß, finde ich unnütz, weil es wohl kann besser gewußt werden; ich wollte, ich lebte nicht, mein Leben könnte auch besser gewußt werden.«


»Das ganze Leben ist eine Geheimniskrämerei, eine Delicatesse aller Existenzen gegeneinander, daß mir es oft ängstlicher drinne ist als bei tugendhaften Mädchen, die in jeder Stunde heuraten können, wenn nur ein Priester die Gelegenheit vom Strauche bricht.«


»Es ist wahrhaftig nicht der Mühe wert, sich Mühe zu geben, die Sache bleibt ewig dieselbe; bohre ich ein Loch mit meinem Verstande in die Welt, so muß es sich des allgemeinen Gleichgewichts halber wieder zustopfen, und es ist recht unhöflich, die Natur der Dinge so zu bemühen.«[367]


»Vor vielen Dingen soll man Ehrfurcht haben, man soll sie ehren, und nirgends möchte ich so gerne laut sprechen oder pfeifen als in der Kirche, nicht um gehört zu werden, sondern um es zu hören, – ich möchte auch wohl gerne in einem lüderlichen Hause beten, und über eben diese Gelüste kann ich sehr traurig werden. –«


»Tugendhaft sein, wie man es heißt, ist, was ein Brownianer schlecht recipieren nennt; – ich möchte oft toll werden über alle die Dinge, die dazu nötig sind, und die ich oft gar nicht auftreiben kann.«


»Am Ende sind alle Menschen nur Formeln, um ein Stück Weltgeschichte herauszubringen; denn warum hielt ich einst nichts auf Tugend, und fange jetzt wieder an, was drauf zu halten?«


»Ich habe immer eine große Anlage gehabt, Weibern, die sich mit ihrer Tugend breit machten, etwas die Ehre abzuschneiden, und ihre Tugend zu schmälern, damit die andern sich nicht so ängstlich drücken müßten, die ihre Tugend selbst schmälerten, und das tat ich vielleicht gar des Wortspiels wegen.«


»Gott weiß, daß meine Wahrheit mein Unglück war! Ich hörte immer schon dann auf zu lieben, wenn ich merkte, daß meine Geliebte den Engel und den Menschen getrennt hatte, und habe manchem Menschen seinen Engel genommen, und ihn allein stehen lassen; das ist bös, aber es war so: ich habe alle Chemie erschöpft, die Unschuld wieder mit dem Mädchen zu vermischen, aber es ging nicht, und die Unschuld erschien mir endlich nicht schuld an der Schuldlosigkeit.«


»Eine Zeitlang trieb ich das Leben rückwärts, und tat alles nicht, was ich getan hatte; ich glaubte, das sei Besserung, aber ich kam mir bald so komisch vor wie ein Riese, der Alt singt, und ein alter Mann, der die Leute mit seinen Kinderjahren unterhält – da machte ich denn das gebesserte Stückchen schnell[368] wieder schlecht, und alle Besserung kam mir vor, als schüttelte ich ewig das Kissen auf, auf dem ich mit meinem Liebchen ruhe, müsse es immer wieder niederdrücken, und käme nie zur Ruhe selbst, oder man rasiere mich so langsam, daß mir der Bart immer unter dem Messer wachse.«


»Ich habe nun so mancherlei getan, viele Freunde gehabt, viel Geld ausgegeben, viele Mädchen geliebt, viele Ewigkeiten verloren, und das alles ist vorbei, es bleibt nichts als die Narbe, und die schmerzt, wenn sich das Wetter ändert. Was soll ich mit allen den süßen Erinnerungen, die vorbei sind, und was mit aller der Gegenwart, die vorbeigeht, – so raisoniere ich jetzt; sonst war dieses keine Empfindung, es war Handlung: ich ärgerte mich einmal darüber, daß Jenny eine so liebenswürdige Dirne war, weil ich glaubte, das Laster müsse häßlich sein; ich gab mir alle Mühe, sie häßlich zu machen, aber das Mädchen ward der Tugend zum Trotz immer artiger. – Ich glaubte nun, wenn sie tugendhaft würde, würde sie ein Engel sein, weil ihre Schönheit größer war als ihr Laster: das Mädchen bot mir Hände und Füße zur Tugend, und ich bekehrte sie so gründlich, daß sie sich die Haare und Schleppen abschnitt, damit ihre Tugend wachsen solle; aber sie ward bald so langweilig und so häßlich, daß ich riet, die Bußtränen in Reuetränen über die verlorne Sünde zu verwandlen, und ich brachte sie mit Mühe soweit zurück, daß ihre Haare wieder wuchsen, und ihre Röcke wieder schleppten.«


»Ich habe auch wohl sechshundert große Wohltaten getan, viele kleine abgerechnet, aber empfinde, daß Taten nur Taten sind, und daß bei den Wohltaten ich nur durch Danksagungen langweilt ward, mich aber irgend ein dummer Streich sehr amüsierte, weil die Leute so lustig drauf schimpften.«


»Manchmal ist mirs, als befände ich mich allein schlecht, weil ich andern Leuten zu sehr traue: sie machen einen Lärm von der Schönheit der Natur, als wäre es eine Seltenheit, und streichen gewisse Empfindungen so heraus, als wären sie nicht bloß reingebürstete Stellen des Lebens; sie haben eine Aufrichtigkeit in[369] allem diesem, daß ihnen die Knöpfe vom Rocke springen, als sei alles dieses etwas anders als Nacktgehen – und stelle ich mich hin und rüste mich und strecke die Arme wie ein Fechter hinaus, ich warte und warte auf die entsetzliche Vortrefflichkeit der Dinge, als sollte nun bald ein Felsenstück auf mich niederrollen, und am Ende ist es immer das Alte, was sich von sich selbst versteht, ich werde unwillig, und vergnüge mich in irgend einem Winkel der Erde, solange es geht –.«


»Es wäre mir recht angenehm, Weib und Kind zu haben, aber ein Weib vom Vater oder von sich selbst begehren, langweilt mich, und das Stehlen ist verboten.«


»Marie Wellner liebe ich, aber es ist mir leid für sie, ich habe kein Recht auf sie, und sie alle auf mich: ich will warten, ob sie diese Rechte gebraucht; ich befinde mich wohl in diesem stillen Leben, ich glaube, es könnte gut werden; ob ich gut werden kann? Gott weiß, wer schlecht ist.«


(An dem Abend, als die Szene zwischen Wellner und Marien vorfiel, fand sich Godwi sehr ergriffen: er vergaß alles, was vor diesem sein Leben umfaßte, und entschloß sich fest, Marien zu besitzen, an ihr und dem guten Alten ein einfaches ruhiges Leben zu erbauen, und ruhig zu werden –, er schwor sich selbst, nur von dem Besitze Mariens aus zu leben, und alles anzuwenden, sie zu erhalten. Die Lage des Vaters schien ihm dazu eine Hülfe zu bieten, weil er reich war und ihn durch ein Darlehn decken konnte; er hoffte auf die Dankbarkeit der Tochter, und faßte die Hoffnung, Joseph werde nicht zurückkommen –, wie ihn dieser Plan rührte, wie er jetzt schon wieder auflebte, und eine ganz andre Ansicht seines Lebens bekam, ist leicht aus folgenden Zeilen zu sehen, die er schrieb, und die mehr Selbstgefühl als Selbstverachtung atmen.) –

»Ich habe lange auf den gewartet, der mich dem ewigen Zweifel an ein besseres Leben in mir entrisse, und endlich ist sie erschienen, die mich zur Einzelnheit erheben kann. Marie hat sorgenvoll mit mir gespielt, und wenn sie ihren eignen Schmerz an meinen Mängeln wegschneidet, so kann ich immer schöner[370] werden und einst ihr Glück, das sie verlor, ihr in mir, ihrem Werke, zeigen.«


(Dieses wenige war mir verständlich, alles andere zeigte mehr oder weniger Bitterkeit und Selbstverachtung, mitunter eine Art von Mutfassen, die einer gewohnten Frivolität sehr ähnlich war, dabei doch guten Willen, aber selbst für diesen guten Willen Verachtung.) –

Er schrieb nach diesem ein Billet an Wellner, bot ihm eine ansehnliche Summe an, und ließ einige Zeilen einfließen, wie er sehr wünsche, mit ihm in eine nähere Verbindung zu kommen. Wellner nahm die Summe an, und wünschte auch, daß ihn Marie lieben möge –.

Auch dies fand sich. Godwi war mehr um sie, er hatte ihren Vater gerettet, sie war ihm dankbar, es kamen Briefe, Joseph sei tot, sie war sehr traurig, und dem Vater war es die letzte Erfahrung: er ward krank, und wünschte Marien noch bei seinem Leben mit Godwi verbunden zu sehen, sie reichte ihm die Hand, es war an derselben Stelle, wo er sie einst Josephen versprochen hatte – bald darauf starb er. –

Godwi besaß nun die ganze Handlung, und führte sie unter Wellners Firma fort. Marie war nicht glücklich und nicht unglücklich mit ihm, aber sie liebte ihn nicht – sie liebte immer nur Josephen. –

Abends ging sie oft, mit ihrem kleinen Sohne auf dem Arm, am Hafen allein spazieren, und sah noch dahinaus, wo ihr lieber Joseph hingefahren war, und weinte.

Als sie auch einmal so da ging, kam ein Schiff gefahren, vorn auf dem äußersten Rand stand ein Mann, der aussah wie Joseph; er hatte ein Fernrohr in der Hand, und sah nach ihr, und winkte mit einem Tuch, sie bebte, und trat ganz hervor an das äußerste Ende des Ufers, so daß der Knabe sie bang um den Hals faßte. –

Der Mann sprang in ein Boot, und kam näher, ach er sah immer aus wie Joseph! Er rief laut: »Marie, Marie!«

Es war Josephs Stimme, es war Joseph selbst, und er sah, wie Marie die Arme nach ihm ausstreckte, wie ihr Kind und sie in die See stürzte –.[371]

Joseph wurde gerettet, das Kind wurde gerettet, aber Marie war tot.

Godwi nahm den Knaben und floh, Joseph blieb krank zurück, er litt sehr an seinem Verstande. Als er genas, erzählte man ihm, daß Marie verheuratet gewesen. Dies brachte ihn zu einem fürchterlichen Ernste, er fand ein Testament Wellners, in dem er eröffnete, daß Godwi das ganze Vermögen gehöre, weil er darin seinen Banqueroutt bekannt machte –.

Er verließ die Gegend, und lebte herumziehend von dem wenigen, was er in Amerika erworben hatte –.

Dieses ist die Geschichte von Godwis Eltern, und die Leser werden nun die Stellen im ersten Bande, wo Werdo Senne Seite 73 singt, manche Stellen aus Otiliens Brief an Joduno und die meisten dunkeln Stellen in den Reden Werdos gegen Godwi verstehen, denn Werdo Senne ist niemand anders als dieser Joseph. Er erkennt in Godwi den Sohn Mariens, und dies bewegt ihn so heftig.

Quelle:
Clemens Brentano: Werke. Band 2, München [1963–1968], S. 366-372.
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